Wolfgang Hermann |
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Heimat |
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Von seinem Zimmer bis zur Bäckerei sind es zu Fuß zehn Minuten. Wenn es regnet, macht das Brotholen mehr Spaß. Dann nimmt Helmut einen großen Plastikbeutel mit und verstaut das Brot darin. In seinem Zimmer, an seinem Tisch wickelt er das Brot aus und ißt es. Zuvor streicht er Butter drauf, manchmal Marmelade, manchmal Käse, manchmal Wurst, und so ißt er es. Das Brot schmeckt nicht mehr wie es vor dreißig Jahren geschmeckt hat. Vor dreißig Jahren ist Helmut weggegangen von hier. Jetzt genießt er es, wenn es regnet auf dem Weg in die Bäckerei und zurück, und es regnet hier fast täglich. In Wagga-Wagga, wo er die letzten dreißig Jahre gelebt hat, hats fast nie geregnet. In Wagga-Wagga in Australien habe ich gelebt in einem schönen Haus, sagt Helmut Frau Bohle, der Vermieterin. In Wagga-Wagga in Australien haben sie nicht erlaubt, daß ich mein Haus verkaufe und das Geld mitnehme zurück in meine Heimat. Das Haus hätt ich verkaufen können, das Geld hätt ich aber in Wagga-Wagga in Australien lassen müssen, so sagt Helmut es Frau Bohle. Frau Bohle nickt und sagt: Daheim hat man es doch am besten, und etwas zittert in ihr nach, so als ob sie einen Kieselstein auf ein Holzstück legte und nicht wüßte, ob er noch auf die eine oder auf die andere Seite kippt. Überhaupt ist es aber mit dem Daheimsein so, daß man es erst richtig zu schätzen weiß, wenn man fort ist, sagt Frau Bohle philosophisch. Aber lassen wirs gut sein, sonst kommen wir noch ins Grübeln, setzt sie hinzu. Kann es sein, daß auch die Vermieterin Frau Bohle eine bewegte Geschichte hat?
Im Nebenzimmer wohnt Achmed von der Baustelle. Achmed verläßt sein Zimmer wenns noch dunkel ist und arbeitet den ganzen Tag bei Hilti und kommt heim wenns dunkel ist. Dann dreht Achmed das Radio auf und hört. Am Samstag hört Helmut Achmed durch die Wand singen. Und er beschließt, Achmed zu besuchen.
Zwei Flaschen Bier sind noch im Kühlschrank, die nimmt Helmut und verläßt sein Zimmer und geht zwei Schritt und klopft an Achmeds Tür. Achmed hört auf zu singen und öffnet die Tür. Achmed steht unter der offenen Tür und er lächelt, daß seine Zähne blitzen. Höflich bittet er Helmut einzutreten.
Achmed geht in die hintere Zimmerecke und will das Radio ausschalten, aber Helmut winkt ab, sagt, er mag das Radio. Achmed sieht Helmut an, seine Zähne blitzen wieder. Helmut reicht Achmed eine Flasche Bier - jetzt erst kommt ihm der Gedanke, daß Achmed Moslem sein könnte und deshalb kein Bier trinken darf -, aber Achmed holt den Flaschenöffner und es zischen die Bierdeckel.
Sie stoßen mit den Flaschen an und trinken. Achmed weist auf einen alten Ohrensessel, aus dem er eine Hose und einen Pullover herausfischt, und Helmut setzt sich. Achmed nimmt auf dem weißlackierten Gartenstuhl Platz.
Helmut vergleicht die Einrichtung in Achmeds Zimmer mit der in seinem Zimmer. An Stelle von Achmeds Ohrensessel steht bei Helmut ein altes Sofa mit abgewetztem Überzug. Der Gartenstuhl ist der gleiche. Kochstelle und Abwasch sind gleich. Auch das Klappbett, in dem Achmed schläft ist das gleiche wie das, in dem Helmut schläft.
Helmut und Achmed verstehen sich. Achmed arbeitet seit drei Jahren auf dem Bau. In seiner Heimat, in Tunesien, gibt es keine Arbeit für ihn. Er ist froh, daß er hier in Österreich leben und auf dem Bau arbeiten darf. Jeden Monat schickt er Geld nach Hause. Helmut ist auch fremd hier. Er hat seine Kindheit und Jugend hier verbracht, aber nach dreißig Jahren in der Fremde ist man überall ein Fremder. Er erzählt Achmed von seinem Haus in Wagga-Wagga in Australien und daß er es nicht verkaufen und das Geld nicht hat mitnehmen können.
Und was hast du jetzt vor, fragt Achmed. Willst du hier bleiben, obwohl dein Haus in Australien steht? Achmed weiß, wovon er spricht, denn mit dem Herzen ist er bei seiner Familie in Tunesien. Achmed ist sozusagen nur als Arbeitskraft hier in Österreich anwesend. Am Samstagabend aber macht sich Achmed fein und geht als vollständiger Körper und Mensch ins Sutterlüty zum Tanz.
Helmut, du brauchst eine Frau, sagt Achmed. Im Sutterlüty bleibt keiner allein. Außer du willst unbedingt allein bleiben. Und Achmed zwinkert Helmut mit einem Auge zu.
Heute ist Samstag. Achmed macht sich bald fein. Und Helmut ist schon überredet. Dreißig Jahre Wagga-Wagga in Australien schützen nicht vor einem Besuch im Sutterlüty.
Ein paar Stunden später stehen Helmut und Achmed in ihrem besten Hemd vor dem Sutterlüty. Achmed streicht noch einmal seine Haare zurecht, dann gehen sie die Treppe hinauf.
Die Musikkappelle spielt eine Polka. Auf der Tanzfläche drehen sich drei Paare. An den Tischen sitzen weit mehr Damen als Herren. Einige tragen Dirndl.
Helmut und Achmed setzen sich und bestellen erst einmal Bier. Die Kellnerin beugt sich soweit vor, daß Helmut die Vorarlberger Berge und die zwischen den Bergen liegenden Talschaften plastisch vor sich sieht. Achmed lächelt und stößt Helmut an. Sutterlüty ist o.k., sagt er und zwinkert mit einem Auge Helmut zu.
Helmut und Achmed werden von einem der Nebentische herüber gemustert, sie spüren die Blicke. Einer stattlichen Frau im Dirndl scheint Helmut besonders gut zu gefallen, sie nimmt kein Auge von ihm. Achmed zwinkert ihm lange zu, deutet mit dem Kopf in ihre Richtung.
Ich helfe dir, sagt Achmed, und er geht und fordert die Freundin der Frau mit dem Dirndl zum Tanzen auf. Achmed dreht sich mit ihr an Helmut vorbei, schlenkert mit den Hüften nach Art seiner Heimattänze und sagt: Sutterlüty ist o.k., und er strahlt übers ganze Gesicht.
Jetzt ist es Zeit für Helmut. Die Blicke der Frau am anderen Tisch werden immer dringlicher. Er geht zu ihr rüber, grüßt mit einem Kopfnicken und bietet ihr seinen Arm an. Er tut es nach Art der alten Kavaliere. Hat er das in Wagga-Wagga gelernt? Die Frau im Dirndl fließt in seinen Arm. Sie tanzen eine Polka, und Helmut kann führen, daß Edith - ja, so heißt sie - glaubt, sie wäre leicht wie eine Feder.
Helmut und Edith tanzen Polka, sie tanzen Rumba, sie tanzen Walzer. Dann sitzen sie und trinken Bier. Ja, Edith ist nicht eine von denen, die nichts vertragen. Sie trinkt ihr Bier fast wie ein Mann.
Sie sagt, sie habe Helmut noch nie im Sutterlüty gesehen, ob er zum erstenmal hier sei? Helmut bejaht es. Und woher er denn komme, sie könne seinen Akzent nicht einordnen.
Helmut erzählt von Wagga-Wagga in Australien und seinem Haus, das er dort zurückgelassen hat. Edith horcht auf, sie hat gleich gewußt, daß es mit diesem Mann etwas Besonderes auf sich hat. Helmut kann von den lauen Nächten in Wagga-Wagga erzählen, daß Edith warm wird. Und was er selbst Erlebtes erzählt aus dem outback von Australien, das macht ihr noch mehr Hitze.
Edith hat noch nie daran gedacht Abenteurerin zu werden. Aber bewundert hat sie die, die einfach aufbrechen und irgendwohin gehen können schon. So ganz ohne Sicherheit und ohne Netz durchs Leben gehen, der Gedanke daran jagt ihr noch immer Schauer über den Rücken. Mit zwanzig, ja, da kann man leicht weggehen von daheim. Für Edith ist sowas nie in Frage gekommen. Es war ja alles schon geplant und eingerichtet. Ihre Eltern haben mit ihr gerechnet, und sie hat dann auch das kleine Lebensmittelgeschäft übernommen. Daß dann die Supermärkte draußen am Stadtrand gekommen sind und das Geschäft kaputtgemacht haben, das ist eine andere Sache. Der Lebensmittel-Sutterlüty unterm Tanzlokal hat auch sein Teil dazu beigetragen. Jetzt lebt Edith allein im Haus der Eltern. Sie hat es sich schön gemacht, sie hat Freude am Garten. Es gibt jeden Tag viel zu tun. Sie hat ein offenes Haus, oft kommen befreundete Paare zu Besuch. Samstags geht sie meist zum Sutterlüty.
Achmed verläßt sein Zimmer wenns noch dunkel ist und arbeitet den ganzen Tag bei Hilti und kommt heim wenns dunkel ist. Helmut wohnt nicht mehr in seinem Zimmer. Helmut ist zu Edith gezogen. Unter der Bedingung, daß er sein eigenes Zimmer hat. Edith hat die Bedingung angenommen. Jetzt wohnt Helmut in einem schönen Haus mit Garten in der Messestadt in Vorarlberg und er hat noch ein Haus in Wagga-Wagga in Australien. Aber er redet immer seltener von seinem Haus in Australien. Zu Achmed sagt Helmut, ein Mann muß sich eine Tür offen halten. Achmed weiß, wovon Helmut spricht. Schließlich arbeitet nur sein Körper bei Hilti. Sein Herz ist in Tunesien.
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