Ganz
vorsichtig trennt er den Erlagschein
aus dem Heft. Mein Bub. Mein einziger, geliebter Sohn. Er zählt
das Ersparte, über Monate ersparte Taschengeld noch einmal nach,
leise murmelnd, wie im Gebet. Schreibt sorgfältig den Betrag auf
das vorgedruckte Papier, malt die Zahlen, grinst verbissen. Zähes
Vergnügen, entblößtes Zahnfleisch, gefurchte Stirn.
Mein Kind ist kein Kind mehr. Er soll seine Geheimnisse haben, sie hüten.
Ich will ihn nicht zornig wissen.
Einen
Zwerghamster habe ich dem Kind zum 14. Geburtstag geschenkt. Das war
keine Freude. Nun steht der Käfig in meinem Schlafzimmer und dieses
Tier treibt mir die Ruhe aus.
Hamster laufen nachts im Rad, knabbern an den Gitterstäben. Hamster
nimmt mir meinen Schlaf, trampelt alle Träume tot. Macht mich wach,
raubt die Lügen, diesen, meinen glatten Selbstbetrug. Hamster laufen
nachts im Rad.
Die Zeit, sie vergeht nicht. Ich warte. Warte und hoffe, hoffe und vergehe.
Ich sinke. Die Zeit, sie vergeht, vergeht viel zu schnell. Ich warte
und schweige.
Das Kind schweigt, füllt die Erlagscheine aus.
Schnell
ist er groß geworden der Bub, ganz unauffällig, ganz wie
alle anderen auch. Hab ihn aufgezogen, alleine verbogen. Langsam werde
ich kleiner. Alleinerziehende Mutter. Schnell wird er zornig, der Bub,
und ich fürchte seine Wut. Immer, ja von Anfang an, Ausreden, das
Entschuldigungsgestammel: Bauchweh, die ersten Zähne, Trotzalter,
Schulangst, wieder eine Trotzphase, Berührungsängste, dann
und immer noch die Pubertät.
Hab mich dumm beruhigt, herausgeredet. Aber außer Haus trägt
er mir die Tasche, spannt uns den Regenschirm und grüßt die
Nachbarn höflichst. Äußerst zuvorkommend, eben gut und
konsequent erzogen. Dann bin ich stolz auf mich. Geliebter Bub.
Alles
andere wird nebensächlich, verwässert, wird nichtig. Das ist
unbedacht. Ich gehe zur Arbeit, gieße Blumen, ich füttere
Schweine. Ich tu es. Ich werde es nie getan haben.
Das
Geheimnis wird nicht mehr gehütet. Mit einem Lachen schlug mir
der Bub seine Wahrheiten um die Ohren. Nun quäle ich mich durch
seinen Lesestoff, jenen abgegriffenen Heften, aus denen er sämtliche
Erlagscheine getrennt hat. Warnschriften für die deutsche Jugend,
für ausgewählte Arier, von wahren Kämpfern, die sich
unentwegt von rechts anschleichen. Absenderlos, inkognito, wahrscheinlich
nie zu fassen.
Überfremdung, Kulturverfall, Kriminalität, von politischer
Feigheit der Altparteien nein, und will und kann gar nichts verstehen.
Mein Bub nicht!
Er trägt sein Haar gewellt, leger gewickelt, hellbraun gefärbt.
Beweist Geschmack, auch im Detail, und trägt die Schuhe nur vom
Rind. Man sieht ihm nach, er weiß sich zu bewegen. Kein Tarngewand,
eben nicht wie alle anderen auch.
Mein
Schritt stockt. Eis ist im Schuh. Die Beine gefrieren, erstarren, nageln
punktgenau fest.
Salz in den Augen, es kratzt. Kälte schneidet mir ins Gesicht,
verunstaltet mich macht blind.
Jetzt
klaube ich Wort um Wort aus diesen schundigen, abgegriffenen Heften.
Klaube, schlichte um und schlage nach. Hier werden Feindbilder produziert,
wie am Fließband, das scheint nicht weiter schwierig zu sein.
Und
immer wieder die Schuldgefühle. Habe ich ihn verzogen, zu streng
geformt oder war ich zu weich, nachgiebig, viel zu gleichgültig?
Habe ich ihn ernstgenommen, angenommen? Nachgegeben, des lieben Friedens
wegen. Aufgegeben und es war nie Zeit. Immer die Hetze, kein
Ferienziel, schlechte Aussicht. Bügelwäsche und Socken stopfen,
die Ordnung halten. Gegen das Gerede. Sparen für die neue Wohnung,
die größer, lichter, näher am Arbeitsplatz ist. Müde
schon am Morgen, ja gerade am Morgen. Aber niemals krank geschrieben,
nie ausgefallen. Nicht arbeitslos.
Und
immer die Schuldgefühle. Ihn im Hort abgeben, später im Kindergarten.
Verwischte Tränen, die sind durchsichtig, beinahe unsichtbar.
Bald wurde er selbstständig. Lange war ich dann fast unbesorgt.
Der Bub hat sich selber versorgt, seinen Weg gebahnt. Hat gelernt, ganz
alleine, hat das Alleine sein gelernt.
Doch plötzlich seine Faust in meinem Gesicht. Schlug zu, vollkommen
unerwartet, schlug mich später sogar zu Boden.
Und dann einer und zwar seiner Meinung sein. Das war so
einfach, so schwer. Ratlosigkeit krampfte einen Herzfehler in meine
Brust. Unrhythmisch wurde der Takt zwischen Verzicht und Verzeihen,
zwischen Verzagen und Zorn. Meine Kraft ließ nach, der Wille brach,
Schmerz war schon bald ganz gewöhnlich.
Was bleibt ist dieses Gefühl der Schuld, denn ich habe versagt.
Ich war nicht hart genug, nicht weich genug und es war nie Zeit.
Kein
Regen, der die Trauer verwäscht, meine Sorge verschwemmt, eine
Abkühlung schafft. Kein Regen, der einen Bogen spannt, der wachsen
lässt oder Unheil schwemmt.
Keine Sonne, die den Weg sich erkämpft, meine Kraft erwärmt,
den Funken entfacht. Keine Sonne, die mich gesunden lässt, mich
färbt oder heillos versengt.
Es ist der Wind, der mich nimmt und fallen lässt.
Aber
mein Sohn trinkt nicht, raucht nie, mein Sohn hat einfach Manieren.
Er liest viel, begreift schnell, kann sich kurz und gewählt mitteilen.
Er will weiter, höher hinaus, will weiterlernen, studieren. Der
hat Ziele. Man traut ihm viel zu. In gewisser Hinsicht ist er sehr streng
zu sich. Seine freie Zeit plant er ganz genau, nur für sich, penibel
und nüchtern. Ja, selbst beim Fernsehen bleibt er unbeirrbar. Abendnachrichten,
Pressestunde, Inlands- und Auslandsreport, Belangsendungen. Keine Talkshow,
keinen einzigen Spielfilm oder Krimi, niemals den Seitenblick.
Geht nicht aus der Bub, reist im Internet, stundenlang, vergisst den
Hunger, Durst, wird körperlos.
Vergisst
sich nicht, schlägt Tennis, hält sich heil und auf der Höhe.
Im Winter schaufelt er vor unserem Mietshaus den Schnee beiseite, frühmorgens
schon. Und heuer, gleich nach Schulschluss, den ersten Ferienjob. Irgendetwas.
Vielleicht in der Tourismusbranche, irgendwo in den Bergen. Weit weg!
Das wäre zu schön.
Tränen
ätzen ein Netz in meine Augenschatten. Ich möchte zu mir kommen,
mich fassen. Ich muss zu mir kommen, mich halten, festhalten.
Faust im Gesicht. Wieder schlug er gezielt, hinterließ keinen
Abdruck, schlug mich stumm. Und später schützt mich nur ein
Lächeln, das Lächeln vor dem bösen Blick. Gebogene Mundwinkel,
Schultern gerade gekrampft, kein einziges Wort. Nein, darüber zu
keinem auch nur einen Ton.
Man
könnte aber doch etwas machen dagegen. Ihm den Hals umdrehen, mit
bloßer Hand, schnell und überlegen. Man könnte sich
einfach vergessen. Endlich Schluss machen, abtöten, kompostieren.
Und wieder zur Ruhe kommen, wieder durchschlafen.
Man kann es nicht. Kein Gift, kein Hammerschlag, ihn nicht aussetzen
oder einfach mit irgendeiner Ausrede abgeben. Nichts fertig
bringen, abschließen, weil man zu weich ist.
Der frisst mir meinen Nachtschlaf weg, beißt in seine Gitterstäbe,
hastet, knabbert, kriecht und wühlt.
Aber auch der hat einen Namen, nur von mir lässt er sich streicheln.
Manchmal stecke ich ihm einen saftigen Ast durch das Gitter, daran turnt
er hinauf und hinunter, ganz versessen. Dann zernagt er das Holz zu
Splittern, frisst es genüsslich auf. Zweimal in der Woche trage
ich den Dreck weg, streue Sägemehl ein und baue eine Höhle
aus Watte. Nüsse, Obst, Getreide, auch Joghurt. Immer frisches
Wasser. Ich berühre ihn gerne. Weiches, warmes Fell, flinke Knopfaugen.
Nein,
ich werde zu allem ja sagen. Mich nicht mehr erinnern, schon gar nichts
ahnen.
Transport ist ein Wort, Viehwaggon ebenfalls, und so ein Lagerkommandant
war auch ein Mensch. Mauthausen liegt bei Linz, Ebensee im Salzkammergut
mehr bleibt da doch überhaupt nicht. Treblinka, Ravensbrück,
Dachau: Ortsnamen. Vielleicht Ausflugsziele? Und? Nach Auschwitz haben
auch die Österreicher weitergedichtet, nur eben weniger gereimt.
Das bricht den Rhythmus nicht unbedingt.
Alles doch längst vorbei. Das Gras wächst so schnell, wirklich
lautlos, Holz verfault. Haare und Kinderspielzeug, Schuhe und Krücken
wird einfach vermodern, vergehen, wird ganz einfach bald nicht
mehr sein. Begriffe versagen, die Orte versinken. Jetzt reizen andere
Wörter.
Ja, ich werde nein sagen. Weil diese Zeit nicht vergeht. Und ich werde
mich erinnern, mir die Ahnung erlauben.
Auch wenn die Dinge vermodern, das Kreuz mit den Fangbeinen bleibt.
Man sprüht es auf, klebt es an, man sticht es sich gar in die Haut.
Auch das Heil ist geblieben, das Schreien, die Schießübungen,
der Stechschritt.
Aber
einmal ganz alleine sein. Nicht nacharbeiten, aufputzen, nichts besorgen
und keinem etwas nachtragen.
Den
Bus nicht mehr erreichen müssen, kaltes Abendbrot, die Schmutzwäsche
liegen lassen. Schlichtweg unerreichbar, ziellos verreist, nicht mehr
da.
Wenn ich eine Ausbildung gemacht hätte.
Rotes Segeltuch, salziges Wasser, Wein und Heringe. Oder weich fällt
der Schnee, bedeckt meinen Mantelkragen, die Augenwimpern, deckt alles
zu.
Wenn der Kindsvater mich geheiratet hätte.
Sand zwischen den Zehen, ein Mietwagen, Lachs in Blätterteig. Schwarze
Steghose, bunter Parka, bemalte Lippen. Auf Schiern, einer Rodel, im
Pferdeschlitten. Und Sturm, mächtiges Durcheinander. Gastfreundliche
Umsicht, ein Frühstück im Bett.
Wenn ich je Geld gehabt hätte, einen Goschen zuviel.
Oder wenigstens Wochenendausflüge ins Blaue, Grüne, ins Licht.
Mit Picknickkorb und Plaid.
Nichts. Nur ferngesehen, Radio gehört, viel gelesen.
Erst einmal im Leben den Koffer gepackt. Mit fliegenden Händen,
voller Angst, in heller Freude. Dann schnell ab in die Klinik.
Frühgeburt, aber gesund. Ein prächtiger Bub.
Nun
erwarte ich sie immer. Immer sprungbereit, angespannt, immer in Abwehr.
Sie kamen zu mir, setzten sich an meinen Tisch, sie zogen die Mäntel
nicht aus. Die kamen und erzählten Geschichten vom Bub. Man hat
ihn vernommen, die Fingerballen auf ein Schmierkissen gedrückt.
Und ich weiß nichts.
Und ich weiß nicht wirklich worum es geht, aber das habe ich den
Beamten nicht gesagt. Ließ meine Zigarette im Mund, nickte, wollte
Kaffee aufbrühen. Nur herumrennen, mir die Anspannung aus dem Leib
treten.
Nichts, das heißt: Wiederbetätigung. Nichts verstehe ich
nicht. Die durchsuchten sein Zimmer, ja die ganze Wohnung. Hefte haben
sie mitgenommen, Bücher, auch eine Fahne, die lag unter dem Bett
meines Sohnes. Und dann den Kellerraum versiegelt! Vor den Augen
der Nachbarn. Dort bastelt der Bub, spielt sich gelegentlich.
Herrgott, wie ich mich schäme.
Ich
ließ mich gerne für dumm verkaufen und dachte, der
Preis sei nicht hoch.
Ich habe den Hamster nie herumrennen lassen und dachte, so macht
er weniger Dreck.
In Gitterstäbe beißen, sich in Watte verkriechen, fressen
was man dir eben so gibt. Hamster laufen nachts im Rad.
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