Ein Hobby, das sich in Wien sehr schön betreiben lässt, ist historisches Wohnen. Auch – oder gerade – wenn man wenig Geld zur Verfügung hat. Ich zog in fünfzehn Jahren durch fünf verschiedene Wohnungen und damit auch quer durch hundert Jahre Wiener Geschichte und Architektur. Nur eine einzige dieser fünf Wohnungen stammte aus demselben Jahrhundert wie ich. Alle anderen entstanden um die Wende des letzten Jahrhunderts und ihnen gemeinsam waren wenig Komfort und günstige Mieten.
Meinen Anfang machte ich am Bacherplatz im 5. Bezirk, als ich neunzehn war und mir in den Kopf gesetzt hatte, in Wien zu wohnen und zu studieren. All die Jahre im Gymnasium hatte ich lediglich in Hinblick darauf durchgestanden, mit meiner Volljährigkeit die Kleinstadt Krems verlassen zu können und hinaus in die weite Welt zu ziehen. Wenn man in Österreich auf dem Lande aufgewachsen ist, dann bedeutet dies Ende der 80er Jahre erstmal Groß- und Weltstadt Wien.
Die Wohnung gehörte einem alten Witwer, der zu seiner Freundin gezogen war, die eine bessere Wohnung im 2. Bezirk besaß. Finanziell unbesorgt, war er froh, in mir junger Studienanfängerin eine mietezahlende Aufpasserin für seine Wohnung gefunden zu haben. Ich wiederum war glücklich, in einem günstigen Unterschlupf gelandet zu sein, um nicht wie meine ehemaligen Schulkolleginnen zwischen Krems und Wien hin- und herpendeln zu müssen. Die Wohnung hatte gut und gerne 120m2, Parkettböden und eine Einrichtung, die jedem Antiquitätenhändler Freudentränen in die Augen getrieben hätte.
Im Wohnzimmer hatte das Biedermeier exemplarisch überlebt, aber für mich waren geschwungene Füßchen an Kästen und Vitrinen, Einlegearbeiten am Esstisch und den dazupassenden Stühlen aus Teakholz Verschwendung und Kitsch. Obwohl der Raum große Fenster hatte und so verspielt eingerichtet war, wirkte er farblos und leer. Die grauen, seit Jahren ungewaschenen Vorhänge und die ausgebleichten Überzüge zeigten deutlich, wie lange schon das Leben aus diesem Raum gewichen war. Dem verstaubten Kristallluster waren im Laufe des Jahrhunderts Teile seiner Pracht abhandengekommen und er gab nur müdes gelbes Licht von sich.
Manchmal stand ich an einem der Fenster und sah melancholisch hinunter auf den Park des Bacherplatzes. Drei Generationen hatten dort schon Schatten und Rast gefunden. Die ersten Bäume waren in den Jahren 1877 gepflanzt worden und es schien, als hätten einige davon bis in unsere Zeit überlebt. Als der Park 1884 vollendet wurde, gab es dort schon einen Kinderspielplatz und dieser existiert noch heute. Durch die Wien-Fluss-Regulierung am Ende des 19. Jahrhunderts und den Bau der Stadtbahn war das Wiental aufgewertet worden. An der Wienzeile entstanden großbürgerliche Mietshäuser und der ehemalige Arbeiterbezirk verwandelte sich in einen dicht verbauten Großstadtbezirk. Mein Wohnhaus stammte aus der Zeit vor der Jahrhundertwende und hatte die Schicksalsschläge der Geschichte mittels finanzkräftiger Eigentümer relativ unbeschadet überstanden. Der alte Herr hatte fast sein ganzes Leben in dieser Wohnung gelebt, und ich fragte mich oft, was diese alten Zimmer wohl für Geschichten erzählen könnten. Was war das Elend und die Freude der Dienstboten gewesen? Wie hatten Krieg, Depression und wieder Krieg die herrschaftliche Familie in Mitleidenschaft gezogen? Aber ich wagte nie, meinen Hausherrn danach zu fragen.
Da ich das Wohnzimmer nicht heizen konnte, war dort ein gemütliches Studieren im Lesesessel nicht möglich. Ich verbrachte die meiste Zeit in der Küche, die sich selbst im bitterkalten Winter schnell erwärmen ließ. Der schmale Raum wurde mein Lebens- und Studiermittelpunkt. Er erinnerte mich tagtäglich mit seiner Unbequemlichkeit an die Enge, in der die Dienstboten hatten leben müssen, während drüben in den herrschaftlichen Zimmern Platz genug zum Rollerskaten war. Immerhin war die Küche mit einem Gasherd und einem Kühlschrank modernisiert worden. Der alte Herr hatte im Laufe seines Lebens eine Liebe zum Rustikalen entwickelt und so sah die zur Küche gehörende kleine Essstube aus, als wäre sie aus einer Jagdhütte gerissen und hier hineingezwängt worden. Der Tischler dieser Scheußlichkeit hatte kein Talent für Proportionen besessen, sodass Tischhöhe und Bankhöhe mich zu verkrümmten Arbeiten zwangen und in kürzester Zeit Kreuzschmerzen verursachten. Tapfer und enthusiastisch versuchte ich die Wohnung zu mögen, aber nicht einmal mein jugendlicher Schwung konnte mich zu einer derartigen Selbsttäuschung bringen.
Zum Schlafen stand mir das ehemalige Dienstmädchenzimmer zur Verfügung. Das herrschaftliche Schlafzimmer neben dem Wohnzimmer durfte ich nicht benutzen. Nur ein einziges Mal sah ich mir das thronartige Bett und den wuchtigen Eichenschrank an und wusste, da hätte ich sowieso nur mit Albträumen geschlafen. Mein Schlafgemach war ein lieblos eingerichtetes, schlauchartiges Zimmer mit einem Wandverbau aus den hässlichen 50iger Jahren an dem einen Ende und einem schmalen Bett am anderen. Wenn ich abends da lag und über mein, ach so aufregendes, Studentenleben nachdachte, so stellte sich regelmäßig der Gedanke an die endlose Reihe von Dienstmädchen ein, die vor mir in diesem Bett gelegen haben mochten. In manchen Momenten, wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst war, dann fühlte ich mich wie eines dieser Mädchen. Fern von der Familie, geduldet, aber eigentlich unerwünscht, brauchbar, aber eigentlich nicht nützlich, abgeschoben und einsam. Der Regen klopfte oft auf das Blech unter dem Fenster und ich träumte von der weiten Welt, in der die Sonne schien und Menschen lachten.
Als mir mein damaliger Freund eröffnete, er wolle ebenfalls in Wien leben und wir könnten gemeinsam eine Wohnung nehmen, hätte ich vor Dankbarkeit am liebsten geweint. Er fand eine schöne Altbauwohnung in der Schweglerstraße im 15. Bezirk, gleich neben der Schmelz, und mit Freuden zog ich um und bei ihm ein.
Die Schmelz, heute eine Kleingartensiedlungsoase inmitten der Stadt, war bis 1918 ein Parade- und Exerzierplatz der k.u.k. Armee gewesen. Bekannt wurde vor allem die alljährlich auf der Schmelz stattfindende Frühjahrsparade für Kaiser Franz Joseph. Im Jahre 1911 wurden die südlichen und östlichen Teile der Schmelz zur Verbauung freigegeben und aus dieser Zeit dürfte das Wohnhaus stammen, in dem unsere Wohnung lag. Sie war eine ehemalige Offizierswohnung, die in einem Zimmer ein Erkerfenster besaß, und im anderen einen großen, zum baumbewachsenen Hinterhof hinblickenden Balkon. Die hohen Flügeltüren zu den Zimmern hatte man mit geschmacklosem dunkelbraunen Lack angemalt. Das wurde jedoch durch den wunderschönen gemusterten Parkettboden wieder wettgemacht. Besonders glücklich war ich über die altertümliche Sitzbadewanne und über die großzügige Küche, in der vor allem mein Freund schaltete und waltete.
Die Einzimmerwohnung nebenan war für den Bediensteten des Offiziers gedacht gewesen und wurde Pfaffendeckelwohnung genannt. Es war leicht sich vorzustellen, wie der Herr k.u.k Offizier hier dinierte, schwadronierte und sich amüsierte und wie der beflissene Diener hin und her flitzte. Der gesamte ebenerdige Eingangsbereich des Hauses war früher eine Einkaufspassage mit kleinen Läden gewesen und man konnte immer noch von der Schweglerstraße zur Costagasse durchgehen. Wenn ich kiloweise Einkäufe vom Supermarkt heimschleppte, bedauerte ich oftmals die moderne Wirtschaftsentwicklung, die all diese kleinen Händler vertrieben hatte. Nur die beiden Straßenlokale, ein Kohlenhändler und eine kleine Schnapsbude, wurden noch benutzt. Da unsere Wohnung einen Ölofen besaß, hatten wir für den Kohlenhändler keine Verwendung. Auch für den Schnapshändler nicht, da wir Wein aus der Kremsergegend bevorzugten und sowieso nicht in das Milieu von müden Arbeitern und frustrierten Arbeitslosen gepasst hätten. Die Wohnung war ein Schmuckstück, nur leider hielt die Beziehung meinem Freiheitsdrang nicht stand. Mein Freund stand im Mietvertrag und hatte die Kaution bezahlt, also war es an mir zu gehen. Ich zog weg, bevor die U-Bahn in den 15. Bezirk fertig gestellt war und verbinde bis heute nostalgische Erinnerungen mit dem 49er, der alten Straßenbahn, die mich durch die Stadt Richtung Universität getragen hatte.
Unglückliche Beziehungsenden erfordern schnelles Handeln, und so nahm ich die nächstbeste Wohnung, die sich anbot. Ich übersiedelte in den 18. Bezirk in die Schopenhauerstraße. Das Plus dieser Wohnung war, dass sie gleich neben dem Café Schopenhauer lag. Das Schopenhauer ist ein traditionelles Vorstadtkaffeehaus mit Billardtischen, Schachspielern und einem herzhaften Frühstück, das bis zwölf Uhr serviert wird. Dies ist für eine spät zu Bett gehende Studentin überlebenswichtig. Ich lernte allerdings auch kennen, was es heißt, in Gürtelnähe zu wohnen. Die Straßen des Wiener Gürtels ziehen sich wie ein Ring um die inneren Bezirke und werden vom Rotlichtmilieu als Arbeitsplatz benutzt. Abends zu Fuß nach Hause zu gehen, erzeugte ein mulmiges Gefühl. Obwohl ich nicht die entsprechende Kleidung trug, hatte ich immer Angst, für eine Prostituierte gehalten und von Freiern angesprochen zu werden. Trotz der ausreichenden Straßenbeleuchtung schien in jedem zweiten Hauseingang eine dunkle Gestalt zu lauern. Ich wurde niemals belästigt, trotzdem fühlte ich mich nie ganz wohl in dieser Umgebung.
Die Lärmbelästigung des viel befahrenen Gürtels hielt sich in Grenzen, da meine ebenerdige Wohnung zum Innenhof hin lag. Es war eine richtige Bruchbude, billig und herabgekommen. Ihre Größe nannte man eineinhalb Zimmer, jedoch konnte ich das halbe Zimmer nicht benutzen, weil die Wände zum Großteil mit Feuchtschimmel überzogen waren. Das Haus stammte aus dem 18. Jahrhundert, hatte keinen Keller – was den Schimmel erklärte – und befand sich im Stadium der Auflösung. So feierten wir wilde Partys, die am Zustand der Wohnung nichts verschlimmern konnten und nur die Nachbarn verärgerten. Meinen Freund vermisste ich überhaupt nicht, aber die kleine Badewanne schon. In dieser Wohnung gab es nur ein altertümliches Klo und in der Küche eine wacklige Dusche.
Nach wenigen Monaten schlug sich der Schimmel auf meine Lungen, aber die Wiener Stadtverwaltung befand dies als nicht besorgniserregend genug, um mir eine Gemeindewohnung zuzugestehen. Ich beschloss, meinem verwahrlosten Dasein ein Ende zu bereiten und suchte mir Arbeit. Aufgrund der Vermögensverhältnisse meiner Eltern wurde mir kein Stipendium gewährt und ich war zu stolz, sie um mehr Geld zu bitten. Meine Unabhängigkeit war mir soviel wert, dass ich eine Halbtagsstelle als Sekretärin an der Universität Wien annahm. Ich konnte immer noch relativ bequem studieren und mir eine ordentliche Wohnung leisten.
Die Wohnung in der Marinelligasse im 2. Bezirk war die jüngste, die ich in Wien je bewohnt habe. Das Haus lag an der Ecke zur Nordbahnstraße und ich mochte die bequeme Verkehrsanbindung des in der Nähe gelegenen Pratersterns, auch wenn der Bahnhof keinerlei Atmosphäre versprühte und von der glanzvollen Vergangenheit nichts mehr übrig war. In der Zeit der k.u.k. Monarchie war der Nordbahnhof einer der bedeutendsten Bahnhöfe in Europa gewesen. Als einer der Hauptbahnhöfe Wiens mit den wichtigen Verbindungen nach Brünn, Kattowitz, Krakau und Lemberg war er auch für viele Einwanderer das erste, was sie von Wien sahen. Im Ersten Weltkrieg wurden hier Truppentransporte an die russische Front abgefertigt und Verwundetentransporte übernommen. Im März 1938 flüchteten viele Verfolgte vor den Nationalsozialisten mit der Nordbahn in die Tschechoslowakei. In der Endphase des Zweiten Weltkriegs wurden der Bahnhof und seine Umgebung durch Bombentreffer und durch Artillerie schwer beschädigt. Mit dem folgenden Kalten Krieg schlossen sich die Grenzen zu den nördlichen und östlichen Nachbarstaaten und die Nordbahnstrecke verlor ihre überregionale Bedeutung. Das kulturhistorisch wertvolle Bahnhofsgebäude wurde dem Verfall preisgegeben und bekam die Ehre, zu seinem hundertsten Geburtstag 1965 gesprengt zu werden. Die architektonische Missgeburt von Bahnhof, die danach errichtet wurde, erregt noch heute manchmal die Gemüter.
Mein Haus war ein klassischer Nachkriegsbau aus dem Jahre 1953, rasch und billig hochgezogen, um Wohnraum für die Eisenbahner zu schaffen. Entsprechend dünn waren die Wände und man bekam einen ziemlich guten Eindruck vom Leben der Nachbarn. Glücklicherweise lag meine Wohnung im obersten Stock, sodass ich wenigstens kein Getrampel über mir hatte. Dafür hatte das Haus keinen Lift und meine Familie und mein Freundeskreis stöhnten gleichermaßen, wann immer ich einen neuen Einrichtungsgegenstand anschaffte. Eine neue Waschmaschine brachten Vater und Bruder zur Verzweiflung, als sie die alte Maschine fünf Stockwerke hinunterschleppen und die neue wiederum fünf Stockwerke hinauf tragen mussten. Der schwere marokkanische Teppich, der mir jahrlang als Bett diente, bis mein Rücken zu alt wurde, um weiterhin auf dem Boden gebettet zu werden, wurde von einem muskulär kräftigen Freund gebracht. Als ich mir einen Geschirrspüler kaufte – einen kleinen – ließ ich den wohlweislich von der Firma liefern.
Die Wohnung hatte ein Schlafzimmer und einen schlauchartigen Raum, der halb Küche und halb Was-immer-man-daraus-machte war. Ich platzierte ein kleines Sofa gegenüber des Gasofens, um im Winter wenigstens warme Füße zu haben. Die alten Balkontüren hielten den in diesen Höhen blasenden Wind nicht ab. Beide Zimmer besaßen je einen schmalen Balkon, die einen erlaubten, ins Freie zu treten, aber nicht wirklich gestatteten, sich gemütlich niederzulassen. Den Balkon zum Hinterhof hin nutzte ich im Sommer manchmal als Schlafzimmer, eine Person konnte da gerade bequem liegen. Die Aussicht der Wohnung über den Bahnhof und den Norden Wiens war spektakulär, wenn man Züge mochte, und da ich aus einer Eisenbahnerfamilie stamme, hatte ich damit kein Problem. Der Balkon eignete sich auch wunderbar für Silvesternächte, da sich von hier die Feuerwerke der halben Stadt bewundern ließen. Ebenso schön war es, wenn im Sommer beim Donauinselfest das große Schlussfeuerwerk abgefackelt wurde. Ansonst waren die Balkontür verschlossen, um die Lärmbelästigung der Nordbahnstraße in Grenzen zu halten.
Diese Wohnung war die einzige, die ich als so etwas wie ein Zuhause betrachtete und auch die einzige, für die ich je einen richtigen Mietvertrag besaß. Ich blieb fast fünf Jahre dort, während ich Geld verdiente und mich durch das Studium arbeitete. Was ich an dieser Wohnung besonders liebte, war das Licht. Ich hatte fast immer in dunklen oder ebenerdigen Wohnungen gelebt. Als ich die Wohnung vor dem Einzug renovierte, malte ich sie gewohnheitsmäßig weiß aus. Schon im ersten Sommer wurde mir klar, welch falsche Entscheidung ich getroffen hatte. An sonnigen Tagen kurz nach Sonnenaufgang blendeten mich die angestrahlten Wände so sehr, dass ich den Kopfpolster über die Augen ziehen musste. Da ich nebenbei auch in einer Bar arbeitete, war dies gegen sechs Uhr morgens keine schöne Erweckung. So kaufte ich erneut Farbe und malte alles in kräftigem rosa, blau und grün und absurden Formen aus. In diese Zeit fielen auch diverse Drogenexperimente und man konnte mein Schlafzimmer, welches einem verrückte Traumreisen erlaubte, nur als psychodelisch beschreiben.
Doch Träume genügten mir bald nicht mehr. Ich begann auf die große Reise zu gehen. Mein Studium befand sich im Endstadium und mein Halbtagsjob erlaubte mir, im Winter für drei Monate zu verschwinden. Ich machte mich auf nach Südostasien, entdeckte den Dschungel und die Unterwasserwelt des Meeres und wollte nichts als immer zu reisen. Wer brauchte ein Zuhause, wenn die weite Welt lockte? Ich beschloss, die sehr günstige Einzimmerwohnung einer Freundin zu übernehmen, die gerade geheiratet hatte und die Wohnung eigentlich aufgeben wollte. Diese billige Unterkunft erlaubte mir in den folgenden Jahren, jeden Winter zu reisen und trotzdem mit einem Halbtagsjob zu überleben.
Die kleine Wohnung in der Neustiftgasse war die ideale Studentenbude und als diese hatte meine Freundin sie ursprünglich gemietet. Das Haus war an die 120 Jahre alt und hatte ein eindrucksvolles Treppenhaus mit einer halbrunden Stiege und schmiedeeisenen Geländer. Meine Wohnung war wohl ursprünglich wie die Pfaffendeckelwohnung im 15. Bezirk als Dienstbotenwohnung für die große Herrschaftswohnung nebenan gedacht gewesen. Sie bestand nur aus einem Flur, einer Küche, einem Klo und einem großen Wohnraum.
Wieder hatte ich Flügeltüren, diesmal mit Glas, und einen Parkettboden, der allerdings schon recht mitgenommen war. Das Haus besaß noch die ursprünglichen Holzdecken und -böden, sodass jedes Mal, wenn jemand unten die Haustür zuschlug, der Boden sanft in den Vibrationen mitschwang.
Meine Freundin hatte die Wohnung noch mit einem kleinen Holzofen geheizt. Ich modernisierte, indem ich den Ölofen meiner verstorbenen Großmutter aufstellte. Das Beste an dieser Wohnung waren die fast vier Meter hohen Wände. Mein Vater, gelernter Tischler und begabter Holzarbeiter, baute mir ein Hochbett und eine Bücherwand. So wurde die Wohnung gemütlich und effizient. „Das ist das letzte Mal, das ich dir helfe,“ sagte er schnaufend zum Einzug. „Ich werde zu alt für solche Sachen,“ fügte er bitter hinzu.
Als ich dann die Dreißig überschritt, das Studium tatsächlich auch einmal beendete und Jahr für Jahr deprimierende Sommer in Wien verbrachte, dämmerte mir allmählich, dass die Worte meines Vaters wohl auch für mich galten. Jedes Jahr zog ich für drei Monate fort und entdeckte verschiedene Winkel der Welt. Nur einmal verbrachte ich fast einen ganzen Winter in dieser dunklen Wohnung, um für meine Diplomprüfung zu lernen. Einzig und allein die Aussicht auf das Ende des Studiums ließ mich diese Zeit psychisch einigermaßen gesund überstehen. Meine Fenster erblickten nichts als eine dunkelgraue Hauswand und lediglich im Hochsommer verirrten sich ein paar Sonnenstrahlen ins Zimmer. Manchmal lehnte ich mich weit aus dem Fenster, um den Sonnenuntergang über dem Wienerwald beobachten zu können. Die Neustiftgasse ist eine der Hauptverbindungswege zwischen dem inneren Ring und dem Gürtel und wann immer ich von einer Reise zurückkehrte, versuchte ich mir den Tag und Nacht rauschenden Straßenlärm als Meeresrauschen einzureden.
Aber ich liebte diese kleine Wohnung. Ihre zentrale Lage im 7. Bezirk bot dem Herzen außer Rasten im Grünen, alles, was es begehrte. In zehn Minuten war ich mit dem Rad an der Universität und damit an meinem Arbeitsplatz. In zwanzig Minuten konnte ich mittels U-Bahn-Anbindung jeden interessanten Punkt der Stadt erreichen. Zum Einkaufen ging ich in die Mariahilferstrasse und die unzähligen Beiseln und Restaurants in der Umgebung boten ein abwechslungsreiches Nachtleben. Der im 7. Bezirk gelegene Spittelberg war im 19. Jahrhundert das Prostituiertenviertel der Stadt und aufgrund seiner Kriminalität berüchtigt gewesen. Heute ist dieser Stadtteil immer noch ein beliebter Treffpunkt für Nachschwärmer und das Beispiel für eine Luxussanierung der großteils aus dem 17. und 18. Jahrhundert stammenden Häusern. Mein Wohnhaus lag in der Nähe des Gürtels und gehörte zu den vernachlässigten Teilen des Bezirkes. Doch war dieser Bezirk multikulturell wie kein anderer und war auch der erste Bezirk Wiens, der von der Partei der Grünen verwaltet wurde. Ich genoss die Vorzüge eines nebenan gelegenen indischen Supermarktes und hatte mit der Eröffnung der neuen Stadtbibliothek am Urban-Loritz-Platz einen weiteren Grund, es noch einige Jahre in dieser Wohnung auszuhalten.
Doch mit dem Alter kam auch die Bequemlichkeit. Ich besaß eine altersschwache Dusche, die einen Großteil des Flurs verstellte, aber nirgendwo anders Platz hatte, da es nur dort einen Wasseranschluss gab. Die Dusche leckte und trotz mehrmaliger Reparaturversuche verrottete allmählich der Holzboden unter ihr. Es gab eine relativ große Küche, aber dort gab es keine Wasserleitung, sodass sich die Abwasch ebenfalls im Eingangsbereich befand. Jede Kochaktion bestand hauptsächlich im Hin- und Herlaufen zwischen dem Flur und der Küche. Als ich einzog, gab es in der Küche noch den originalen, mit Holz zu befeuernden Küchenofen, der so alt war wie das Haus selbst. Schon lange ohne Funktion, stellte er nur mehr ein riesiges, dunkelblau gekacheltes Dekorationsstück dar. Ich fand tatsächlich jemanden, der den alten Ofen abbaute und in einem alten Bauernhaus wieder aufbaute, wo er sich sicher gut machte. Gasofen, Kühlschrank, Küchenkredenz und Esstisch hatten Platz in der Küche, aber es gab fast kein Tageslicht, da das große Milchglasfenster nur ins Stiegenhaus ging.
Erst als ich Wien verlassen hatte und in das ewig sonnige Ägypten zog, ging mir auf, wie sehr mir Tageslicht in dieser Wohnung und in den meisten anderen meiner Wohnstätten gefehlt hatte. Es war mir immer seltsam vorgekommen, warum ich ohne Schwierigkeiten zwölf bis vierzehn Stunden schlafen konnte und warum ich so antriebslos war. In Ägypten schlafe ich nie mehr als acht Stunden, einfach weil die Sonne lockt und das Leben sich draußen abspielt. Gerade in dieser letzten Wohnung hatte ich mich eingesperrt gefühlt und war, wie Rilkes Panther, ruhelos auf- und abgewandert. Doch dann fand ich die Tür, öffnete sie und ging hinaus in die große Welt, so wie ich mir das immer erträumt hatte.
Meine fünf Wiener Wohnungen bezeichnen das, was mir an Wien immer das Liebste gewesen ist: eine Jahrtausende alte Geschichte, über die man stolpert, wo immer auch man hingeht, und die Hinterlassenschaft dieser Geschichte in Form hervorragender Architektur. In all den Jahren, die ich in Wien wohnte, ging ich staunend und die Augen bewundernd über die Häuserfassaden gleiten lassend durch die Stadt. Wien ist so schön und die Bewohner haben sich trotz mancher architektonischer Missgriffe einen Gutteil ihres Erbes erhalten. Darauf können sie stolz sein.