„Nicht eigen
(Miniatur),
für Claude Lévi-Strauss“
14. Mai, Dongpo.
Die übermächtige, glasierte Nanda Devi (7816 Meter)
sah ich aufgehen
als Blütenhaupt des nahen Himalaya (Weisszwirn),
der das engverborgene Tal des Sutlej,
das (hier) auch Garuda-Tal genannt wird
und, so wissen meine liebsten Historiker, das Zentrum des Bön-Königreichs Shang-Shung war,
(weithin) parallel als Riegel Schanze Drachenkamm
vom indischen Subkontinent abtrennt.
Von den achtzehn Mythos-Königen der Chronik von Shang-Shung,
so erzählte mir Pasolini, regierten drei im Garuda-Tal:
Letra Guge, der mit der gehörnten Krone aus klarem Licht,
Gyungyar Mukho, der mit der gehörnten Krone des Regenbogenlichts,
Kyile Guge Unchen, der mit der gehörnten Muschelkrone.
Blutgeruch als das Identische.
Im Schwemmland Sinter von Dongpo beeindruckt
die Streuung der Funde
aus Eis und Glas (ich fand Nasen,
Ringe, Methangas.
Blüten, Kräuter Korallenriffs waren nicht viele, dafür Wasseradler
(braune, schwarzschwarze, lamentierende,
die einkreisten)
und mich, am Gegenhang, aufmerken liessen ein erbrochenes
und ein neuerbautes Männerkloster
(tropfenweise):
welches war welches?
Überaus „nicht mehr“,
„nicht mehr über Strömungs-Störungsreste hinaus“,
gab sich der kleine, retardierende Siedlungskern,
der vorzeiten Vorhut einer zinnoberrot-weissen Grotten- und Königsstadt gewesen war, und dessen meiste, nach Jahrhunderten stetiger Zerstreuung, Minderung Inversion verbliebene Einwohner, beim Einmarsch der chinesischen Truppen über die nahen Pässe des Himalaya ins indische Garhwal,
nach Kinnaur geflüchtet waren
(und zwar ohne Wiederkehr).
Tagelang sah ich nur „auf“ und „vor“
(wenige mittelbare Einzelheiten fielen mir auf).
Wochen später notierte ich: „Genaugenommen zwei
und zwei leichte Wüstentage, zählten wir doch die schlaflosen Nächte mit ein“, folgten wir dem Sutlej-Canyon,
(eine arschglatte Militärpiste benützten wir sicher nicht),
dessen Abbrüche Einrisse (wirre) Konglomerate
(leicht) hunderte Meter, auch senkrecht, abfielen:
„An einer Spick
und Spina,
an einer Klause sah ich,
dass der Fluss (in der Hypertiefe)
nur mehr Mühle war,
Walze (geräuschlos),
ein Flur!“
(Den Flursalamander sah ich nicht,
aber Dagmema, die ihr erhabenes Geburtsland
(in einer vereisten Verblockung) mit Handzeichen grüsste,
mit Klangzeichen (sie benützte dafür ein Schwirrholz,
das summte),
erzählte mir vom „Khyung“, dem gehörnten Feuervogel
und allgegenwärtigen Schützer des Tales,
in einem Quelltraum
(der Modellfauna)
ihrer Bergwüstenheimat.)
Wir konnten ungehindert (fliegend) gehen: man sah uns nicht.
Ich konnte selbst rufen, man hörte mich nicht.
Ich fand heisse Quellen, die ich nicht gesucht hatte.
Der Fliesstraum wurde mein Eigen
(misstraute ich doch der festen Form
und der wachen Verkörperung
ganz und gar!)
Pasolini, den Hüter der Herden
(der Holden), der darauf bestand Italiener
(Norditaliener, Friulaner, mindestens aber Mecker-
Europäer zu sein), antwortete ich:
„So finde ich im weglosen Streifen
kein Aussen, kein Innen
(„Bringschatten, blaue“ bilde ich mir ein zu sehen),
so weiss ich nichts von der Beobachtung
der, mehr oder weniger, unverständlichen Fremden
(von denen Lévi-Strauss sprach),
denn fremd ist mir nichts
(und niemand)
und bin ich nicht,
nicht eigen,
da ich nicht bin.
Da ist nichts.
Da ist nichts (weiter) zwischen mir und
den Anderen.
Den Anderen (definitiv)
gibt es nicht!“
Aus: Formiert aus Luft, Aufzeichnungen aus dem Himalaya, Teil 3. Ritter Verlag, Klagenfurt 2010.