Irene Kabanyi
All of me (Teil 2)
Die Runde verharrt fuer eine Weile in gedankenvollem Schweigen. Eine tiefe, melodioese Stimme hat die Astrologin, in der sie ferne Welten mitschwingen lassen kann und das Unglaubliche in die Luft malt. Alle ueberlegen, was sie wohl befehlen wuerden, wenn sie diese Macht haetten, aber als der Schriftsteller das zum Tischgespraech machen will, weist ihn die Astrologin scharf zurecht. Die Imagination gelingt nur im Schweigen, sagt sie ihm, Sie duerfen sie nicht profanisieren. Was Ihnen am wichtigsten ist, muessen Sie in sich behalten und naehren. So lange, bis es Ihnen von aussen entgegen zu kommen beginnt.
Der Schriftsteller will protestieren, haelt dann aber inne. Ja, gibt er zu, das ist auch beim schreiben so. Wenn Sie ueber ein Werk reden, bevor Sie es vollendet haben, ruinieren Sie es. Reden Sie ueber etwas, das Sie gerade schreiben, entziehen Sie ihm die Energie, die es braucht, um zu wachsen. Je mehr sie darueber reden, umso weniger werden Sie es zu Ende bringen.
Das scheint ein allgemeines Lebensgesetz zu sein, mischt sich der Wissenschaftler ein. Mit der Entwicklung der Chaostheorie gelingt es jetzt ja nachzuweisen, dass alles miteinander verbunden ist. Dass Gesetze, die sie in der Physik vorfinden, ebenso in der Meteorologie als auch in der Medizin gelten, in der Wirtschaft genauso, wie in der Psychologie.
Ich bitte um Verzeihung, erhebt der Boersenmakler spoettisch seine Stimme, ich wage zu behaupten, dass sich die Boerse diesem Gesetz widersetzt. Das Fallen und Steigen der Aktienkurse haengt in nicht unerheblichem Mass von Geruechten ab; davon dass die Leute ueber was reden, das laengst noch nicht vollendet ist. Und wenn Sie Gewinn an der Boerse machen wollen, muessen Sie eben genau mit diesen Entwicklungen spekulieren. Es hat keinen Sinn und wird Ihnen, als Profi, meine ich natuerlich, nicht viel bringen, wenn Sie erst dann auf den Zug aufspringen, wenn schon allen klar ist, wo er hinfaehrt. Als Profi muessen Sie aufspringen, wenn die anderen noch nicht einmal wissen, dass das der Zug ist, der demnaechst abfaehrt.
Natuerlich wollen jetzt alle wissen, ob er einen Tip hat, was der naechste Zug sein wird. Ein handfester Boersentip ist allemal interessanter, als Zahlengeheimnisse.
Zahlen sind auf der Habenseite des eigenen Kontos am besten aufgehoben, darueber ist man sich schnell lachend einig.
Ergrimmt beugt sich die Astrologin ueber ihren Teller. Alice sieht, dass sie mit ihren Bissen auch noch einiges anderes mit hinunterschluckt.
Sie selber weiss nichts zu sagen, hat sich noch nie mit diesen Themen beschaeftigt. Es macht ihr nichts aus, zu schweigen und zuzuhoeren. Sie macht sich auch gar keine Sorgen, ob jemand sie etwa fuer beschraenkt haelt; sie weiss genau, dass in einem Kreis brillanter Redner nichts so dringend benoetigt wird, wie einer, der zuhoert. Derjenige, der zuhoert, wird bald der Mittelpunkt, um den sich alles dreht, denn er ist es, durch den der Redner seinen Glanz bekommt. Alice ist sich dieser Macht wohl bewusst.
Leider kommt es anders, als sie denkt, denn das war auch schon das Ende des allgemeinen Gespraeches. Verschiedene Gespraechsfaeden beginnen durcheinander zu laufen; Menschen, die sich etwas zu sagen haben, oder es meinen, verknuepfen sich miteinander. Nur an Alice laufen sie vorbei, denn ihr Tischherr, der Architekt, schaufelt verbissen schweigend in sich rein.
So ist Alice froh, als endlich, nach dem Dessert, Elisabeth vorschlaegt, doch den Rest des Abends im Garten zu verbringen. Sie haetten eine kleine Bar draussen aufgebaut, man solle sich doch selbst bedienen.
Alice steht auf und prallt gegen den Kopf des Boersenmaklers, der sich gerade nach vor gebeugt hat, um ihr mit dem Stuhl behilflich zu sein. Sie hatte ihn nicht einmal bemerkt. Beide murmeln zugleich eine Entschuldigung und gehen nebeneinander in den Garten hinaus.
Ob Sie mir wohl erlauben werden, Ihnen ins Wunderland zu folgen, Alice?, fragt er und beugt sich nah zu ihr hin.
Alice verzieht den Mund. Warum auch jeder halbwegs gebildete Mann versucht, ihr mit diesem Spruch zu kommen! Aber da ist etwas in seinem Blick, das draengt und brennt, und sie instinktiv erschrecken laesst. Sie will zurueckweichen und etwas zieht sie zu ihm hin.
Wissen Sie nicht, dass man allein sein muss,um ins Wunderland zu kommen?, sagt sie, und ist fassungslos ueber die Bitterkeit in ihrer Stimme. Was treibst du?, schreit eine Stimme warnend in ihr: Halt dich bedeckt, was faellt dir ein, dich einem Fremden dermassen schamlos zu oeffnen!
Wenn das so ist, werde ich Ihnen ein Wunderland bauen, in dem das nicht noetig ist, schlaegt er vor: Eines, das natuerlich Platz fuer mich hat. Fuer einen harten Boersenmakler sind Sie ganz schoen romantisch!, versucht Alice mit Spott ihre Haltung wiederzugewinnen. Ich bin nicht hart, behauptet er, ich bin nur darauf trainiert, gute Chancen zu erkennen und sie zu nutzen.
Welche Chance sehen Sie jetzt?, fragt Alice . Sie!, sagt er bestimmt: Gleich als ich Sie sah, wusste ich, dass Sie die Frau sind, auf die ich immer gewartet habe. Aber Sie kennen mich doch gar nicht, antwortet Alice.
Sie kommt sich daemlich vor, der Situation ganz und gar nicht gewachsen. So etwas passiert einem doch nicht im wirklichen Leben! So etwas sieht man im Film und seufzt und wuenscht sich, dass einem das auch einmal passiert. Aber dass es dann passiert, damit kann man doch wirklich nicht rechnen.
Ich kenne Sie besser, als Sie glauben, behauptet der Mann. Wieso?, fragt Alice unsicher.
Seit Tagen fahre ich in meinem Boot an Ihrem Haus vorbei und beobachte Sie, wie Sie auf Ihrer Terrasse sitzen und fruehstuecken, sagt er: Glauben Sie mir, am Besten lernt man einen Menschen kennen, wenn er sich unbeobachtet glaubt und so ganz bei sich selbst ist. Voellig unbeeinflusst von dem, der ihn beobachtet. Das ist ja unerhoert!, empoert sich Alice: Hat Ihnen Ihre Mutter nicht beigebracht, dass man so etwas nicht tut? Wenn ich mich an das gehalten haette, was mir meine Mutter erlaubt hat, waere ich nicht der, der ich heute bin, stellt er lachend fest. Und wie sind Sie heute ?
Unverschaemt, erfolgreich und verliebt!, sagt er und versucht, Alice in seine Arme zu ziehen.
Alice wird steif und stoesst ihn gereizt von sich. Was sollen denn die anderen von ihr denken, wenn sie sich so einfach von einem wildfremden Mann betapschen laesst! Unverschaemt stimmt auf jeden Fall. Und die anderen sind so in ihre Gespraeche versunken, dass niemand sie beobachtet.
Aber das hatte sie ja auch geglaubt, als sie am Nachmittag nackt am Bootssteg gelegen war, faellt ihr jetzt ein, und treibt ihr den Schweiss auf die Stirn.
Es ist unfair, dass Sie mehr von mir wissen, als ich von Ihnen, stellt Alice fest.
Das laesst sich aendern, sagt der Mann, ich hoffe sogar sehr, dass sich das aendert.
Er greift in die Innentasche seines Jacketts und zieht eine Visitenkarte heraus, die er Alice mit einer formellen Verbeugung ueberreicht. Beginnen wir mit dem Anfang, sagt er dazu.
Alice greift nach der Karte. Handgerissenes Buetten, Stahlstich. Horst von Balow, steht da in sehr aufrechten Lettern, dazu der Name einer Firma und eine Adresse in Frankfurt. Alice ist beeindruckt.
Fragen Sie mich, was immer Sie wollen, bietet er an. Ich weiss nicht was, sagt Alice zoegernd. Gut, dann fragen Sie mich, ob Sie mich noch wohin bringen koennen, schlaegt er vor.
Wieso?, fragt Alice verbluefft.
Weil Sie erstens einen Wagen haben, zweitens ich noch irgendwo mit Ihnen etwas trinken moechte und drittens schon ein allgemeiner Aufbruch beginnt.
Alice blickt um sich. Er hat recht! Die Gaeste umringen die Greifensteins, schuetteln Haende und geben Danksagungen und Abschiedsfloskeln von sich. Und sie ist noch nicht einmal dazu gekommen, sich mit ihren Gastgebern zu unterhalten! Die werden einen schoenen Eindruck von ihr haben!
Sehen Sie, was Sie angerichtet haben!, sagt Alice anklagend zu Horst: Sie haben mich dermassen mit Beschlag belegt, dass ich den primitivsten Forderungen der Hoeflichkeit nicht nachkommen konnte. Ich hoffe, das wird so bleiben, antwortet Horst grinsend, ohne die geringste Spur von Schuldgefuehl zu zeigen.
Abrupt wendet ihm Alice den Ruecken zu, erstaunt, ueber die Heftigkeit ihrer Gefuehle, ueber die Naehe, die sie zu diesem Mann empfindet, ueber den Ton, den sie ihm gegenueber anschlaegt. Schau, dass du schleunigst wegkommst, draengt eine Stimme in ihr.
Sie naehert sich Elisabeth, die auch gleich die Hand nach ihr ausstreckt. Amuesieren Sie sich?, fragt die Gastgeberin. Es war ein wundervoller Abend, bestaetigt Alice verlegen, ich bedaure nur, dass wir keine Gelegenheit gefunden haben, uns ausfuehrlicher zu unterhalten.
Jetzt, wo wir uns kennen, ist das kein Problem mehr, versichert Elisabeth, Sie werden jetzt oefter kommen, das muessen Sie mir versprechen. Ich rufe Sie morgen an.
Alice wendet sich zum gehen. Sie kann Horst nirgends mehr sehen. Wo ist er wohl hin verschwunden? Betaeubt, in einer Mischung von Erleichterung und Enttaeuschung geht sie zum Parkplatz.
Er wollte wohl nur ausprobieren, wie weit er bei mir gehen kann, sagt sich Alice. Ein Voyeur, der sehen will, aber nicht involviert werden. Vielleicht macht es ihm Spass, zu provozieren, und die Menschen aus der Fassung zu bringen. Vielleicht hasst er auch Frauen. Ich kann froh sein, dass er weg ist, wer weiss, was mir damit erspart bleibt! Sie ist aber nicht froh.
Sie sperrt ihren Wagen auf und bleibt, mit der Hand an der Tuerschnalle, fuer einen letzten Rundblick stehen. Nichts. Nur startende Wagen, die ihre Scheinwerfer aufblenden und abfahren. Vielleicht sitzt er in einem von denen, denkt Alice, vielleicht zieht er diese Masche grad bei der Aerztin oder bei der Astrologin ab.
Schnaubend oeffnet sie die Tuere und laesst sich hinter das Lenkrad fallen. Startet und faehrt dem letzten Wagen nach, der eben den Parkplatz verlaesst. Ueberlaesst sich ihren bruetenden Gedanken. Nach einer Weile werden die ihr aber zu laut. Sie stellt das Radio an, um sie zu uebertoenen. All of me, singt Ella Fitzgerald. Das hat mir gerade noch gefehlt!, sagt Alice laut und wuetend. Sie beugt sich nach vor und dreht den Radio ab. Es macht ihr Spass, mitten in ein Wort zu wuergen.
Warum drehen Sie ab?, fragt eine Stimme vom Ruecksitz: Mir gefaellt das Lied!
Erschrocken tritt Alice auf die Bremse. Der Wagen haelt mit einem Ruck, der sie gegen das Lenkrad presst. Sie stemmt sich hoch und dreht sich um. Starrt direkt in das Gesicht von Horst, der sie schon wieder unverschaemt angrinst.
Wie kommen Sie in meinen Wagen?, fragt sie fassungslos: Der war doch abgesperrt.
Ich hab da so meine Tricks, tut er geheimnisvoll. Sind Sie etwa im Nebenberuf Autodieb?
Nur vergesslich, was die kleinen Dinge des Lebens betrifft, beruhigt er sie: Ich habe so oft meine Wagenschluessel stecken lassen, dass der Mann vom Aufsperrdienst Mitleid mit mir hatte, und mir zeigte, wie ich auch ohne Schluessel in mein Auto komme.
Mit selbstverstaendlicher Geste klappt er den Beifahrersitz um und klettert neben Alice. Macht es sich bequem und legt den Arm um die Lehne ihres Sitzes.
Wohin jetzt?, fragt er munter.
Nirgendwohin, bescheidet ihm Alice, so fest sie nur kann: Ich bin muede und will nach Hause!
Sie koennen mich doch nicht mitten auf der Landstrasse aussetzen!, appelliert er an ihr soziales Verantwortungsgefuehl: Hier kriege ich kein Taxi und sie werden doch nicht wollen, dass ich in einer fremden Gegend, mitten in der Nacht, kilometerweit laufen muss! Das geschaehe Ihnen nur recht, sagt Alice kuehl, fuehlt aber ihren Widerstand schwinden: Ich habe Sie nicht eingeladen. Jeder muss die Konsequenzen seines Verhaltens tragen!
Gemeinsam traegt es sich besser, findet Horst: Bringen Sie mich wenigstens in mein Hotel und trinken Sie noch ein Glas an der Bar mit mir.
Na gut, gibt Alice nach: Ich will Gnade vor Recht ergehen lassen. Ich bringe Sie in ihr Hotel. Aber nur, wenn Sie mir versprechen, dort brav auszusteigen. Trinken werde ich nichts mehr mit Ihnen! Und wenn ich es nicht verspreche?
Alice schuettelt missbilligend den Kopf, hat keine Lust auf weitere Debatten. Sie wird ihn absetzen und damit Basta. Wo wohnen Sie?
Im Hotel Seehof.
Natuerlich. Das beste Hotel in der Gegend. Alice kennt es. Sie startet den Wagen, der bei ihrem Bremsmanoever abgestorben ist, wendet und drueckt das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Der Wagen schiesst mit einem Satz los.
Vorsicht!, warnt Horst: Bringen Sie uns nicht um. Ich stelle es mir zwar schoen vor, gemeinsam mit Ihnen zu sterben, wuerde es aber vorziehen, wenn wir damit warten, bis wir ueber Achtzig sind. Ja, ja, sagt Alice und reduziert die Geschwindigkeit.
Woher weiss er, dass das immer mein Traum war: einen Mann zu finden, der sich wuenscht mit mir alt zu werden? Alt werden und sterben und ineinanderwachsen als Hecke.
Wie unverbesserlich kitschig ich doch bin, schilt sich Alice, vollgestopft mit Klischees!
Horst greift sich eine ihrer Haarstraehnen, wickelt sie um seinen Finger und zieht dadurch leicht ihren Kopf in seine Richtung. Sie tun wie ein Kueken, stellt er fest, aber eigentlich haben Sie das Zeug zum Adler.
Ach ja, sagt sie: Woran sehen Sie das?
Ihr Blick geht in die Weite, diagnostiziert er sachkundig: Sie sind faehig, hoch nach oben zu steigen und von dort auf die Erde zu schauen. Ganz unberuehrt. Nichts, was Sie sehen, kann Ihren Flug hemmen. Ein Fluegelschlag und Sie drehen ab.
Schoen waers, denkt Alice, das koennte ich gut brauchen. Hoch oben sitze ich zwar am Richtertisch, aber nicht so hoch, dass mich der Schmutz nicht beruehren wuerde. Freilich, frueher ist er mir ueber den Kopf geschwappt, jetzt beruehrt er gerade noch meine Fuesse.
Und wozu haben Sie das Zeug?, fragt Alice.
Sie will ihm nichts von ihren Gedanken und Gefuehlen verraten. Dieser Mann erfasst sie ohnehin mit einer beunruhigenden Praezision. Muehelos scheint er in ihre Gehirnwindungen eindringen zu koennen und kennt sich da aus, als waere er zu Hause.
Wie mein Name sagt: ich bin der Horst fuer Adler. Ach, so ist das, sagt Alice enttaeuscht.
Wieder so ein Spruch, denkt sie. Wahrscheinlich erzaehlt er das auch jeder Frau. Und in ihr beginnt das Verlangen zu keimen, dass er es ernst meint. Dass er es ernst meint, selbst wenn er das jeder Frau erzaehlt. Dass sie die einzige Frau ist, bei der er meint, was er sagt.
Was ist los?, fragt er: Haben Sie nie das Beduerfnis, sich auszuruhen, ein Nest zu haben?
Freilich, sagt sie, das hat doch jeder.
Alice, wird er auf einmal streng: Sie machen es mir nicht leicht. Was mache ich falsch, dass Sie so sproede und abweisend sind? Sie machen nichts falsch, beruhigt sie ihn: Sie sind nur zu schnell fuer mich. Ich kenne Sie doch ueberhaupt nicht und Sie sagen all diese Dinge zu mir, ich weiss einfach nicht, wie ich darauf reagieren soll. Sie fragen sich, ob ich es ernst mit Ihnen meine? Ja, rutscht es ihr raus.
Wollen Sie, dass ich es ernst meine?
Das hat sie nun davon! Alice schweigt erbittert, sieht gar nicht ein, warum sie Farbe bekennen und ihre Karten aufdecken soll. Was redet er ueberhaupt staendig von ihr! Ueber sich verliert er kein Wort!
Ich meine es ernst, sagt er nach einer Weile, in einem Tonfall, als haette sie ja gesagt.
Erleichtert sieht Alice das Hotel vor sich auftauchen. Sie faehrt direkt an die Rampe und haelt mit laufendem Motor. Er macht nicht die geringsten Anstalten, auszusteigen.
Wir sind da, draengt sie.
Sie haben mir noch keine Antwort gegeben, bleibt er ganz ruhig sitzen. Worauf?
Auf alles.
Hoeren Sie, sagt Alice, ergreift seinen Oberarm und schiebt ihn Richtung Tuere: Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, als ich gesagt habe. Steigen Sie jetzt aus und lassen Sie mich darueber schlafen. Wenn Sie wollen, koennen Sie mich ja morgen anrufen.
Er nimmt ihre Hand von seinem Oberarm, Alice denkt, er will sie ihr zum Abschied kuessen und laesst sie ihm, ohne Widerstand. Das nutzt er aus. Mit einer raschen Bewegung zieht er sie zu sich, so dass ihr der Schaltknueppel in den Bauch sticht, und kuesst sie heftig auf den Mund. Auch die Chance, dass Alice ihren Mund zum protestieren oeffnet, laesst er nicht ungenuetzt verstreichen: schon hat sie seine Zunge im Mund. Ein kleines, weiches Tier, beweglich und zart. So freundlich und zutraulich, dass sie mit ihm zu spielen beginnt, neckisch zuerst, dann immer wilder. Und als Alice sich ganz fangen hat lassen, gibt er wieder das Tempo vor, fuehrt sie und laesst sie los und faengt sie wieder und laesst in ihr eine Sehnsucht wachsen, dass sie schreien moechte und ihn anbetteln, bloss nicht aufzuhoeren.
Und er spuert es und laesst sie los. Alices Kopf bleibt an seiner Schulter kleben, moechte nie wieder irgendwo anders sein. Da gehoert sie her, alles andere ist doch Unsinn!
Komm!, sagt er in ihr Haar.
Ja, murmelt sie.
Sie weiss nicht, wie sie sich aufrichten soll. Ist nicht so schraeg an seinen Koerper gelehnt sein ihre ganz natuerliche, angeborene Koerperhaltung? Wie hat sie denn je auskommen koennen ohne diesen Horst? Alle Schutzlosigkeit, die Alice jemals empfunden hat, sammelt sich jetzt in ihr, bereit, in das Becken zu fliessen, das er ihr hinhaelt. Wie hat sie je auskommen koennen ohne das?
An das: Imaginiere und es wird geschehen!, der Astrologin muss Alice denken.
Das war es, was sie in all den Jahren in sich getragen hat und niemand sagen konnte. Das, was jetzt passiert, war in ihr, all die Zeit. Und jetzt kommt es ihr von aussen entgegen! Deswegen geht jetzt alles so rasch. So schnell geht das!
Und man muss sich bewusst sein, dass nichts mehr so ist, wie es war, wiederholt sie die Worte der Astrologin.
Horst ergreift ihren Kopf, dreht ihr Gesicht zu ihm hin. Sein Gesicht verschwimmt in ihren Augen. Seinen Blick spuert sie.
Ich will nicht mit dir ins Hotel, sagt er.
Alice erschrickt. Er wird sie jetzt doch nicht wegschicken! Nicht jetzt, wo sie so offen und bereit fuer ihn ist, wie sie es noch nie fuer einen Mann war. Unwillkuerlich haelt sie den Atem an. Wartet bang. Er streichelt ihr Gesicht und laechelt. Sie wartet auf einen Dolchstoss, haengt an seinen Lippen. Ihre Lippen muss sie zusammenpressen. Nur nicht betteln!, muss sie ihnen befehlen.
Nimm mich mit zu dir, sagt er, und sie atmet auf, wie sie noch nie aufgeatmet hat.
Sie kann gar nicht anders als singen: Why not take all of me.
Schnell wendet sie den Wagen, bevor er es sich anders ueberlegen kann. Heim will sie ihn bringen; in ihr Nest, das erst ein Nest wird durch ihn. Wo er ist, ist zu Hause. In seinen Worten, seinen Haenden, seiner Haut, findet sich Alice.
Ihre Finger hat sie in seine verschlungen, faehrt mit einer Hand, und wenn sie schalten muss, tun es ihre beiden Haende, als waeren sie schon immer miteinander verbunden. So gleichzeitig und ohne Widerstand, als wuerden sie von einem Hirn gelenkt.
Kaum auszuhalten, die Minute, in der sie ihn doch auslassen muss, um den Wagen abzustellen und auszusteigen.
Schon haben sie sich wieder, haelt er sie eng an seinen Koerper gepresst, in den sie muehelos hineinfliessen kann. Auf das Haus laufen sie zu, aber die Strecke ist zu lang.
So landen sie in der Wiese. Im Rollen, in der Begierde, Haut zu spueren, loesen sich die Kleider auf. Ein Buendel von Haut und Haaren, Schreien und Fluestern, Keuchen und Stoehnen sind sie. Und lang dauert es, lang, bis Alice, auf dem Ruecken liegend, den sternenuebersaeten Himmel wieder sieht.
Noch nie hat er so geglaenzt, das koennte sie schwoeren. Noch nie haben sich die Sterne so gedraengt, haben fast die dunklen Stellen, die ein Nachthimmel doch auch braucht, verdraengt. Warum es Milchstrasse heisst, sieht sie heute ganz deutlich. Aber was heisst Strasse! Heute ist das geradezu eine Autobahn.
Gluecklich laechelnd erwacht Alice in ihrem Bett, das sie erst im Morgengrauen aufgesucht haben, als das Froesteln sie ungeschickt zur Zaertlichkeit machte. Wie die Kinder hatten sie sich aufs Bett geworfen und waren bibbernd unter die Decken gekrochen, hatten spitze Schreie ausgestossen, wenn sie einander mit ihren eiskalten Fuessen beruehrten. Geschichten aus ihrem Leben hatten sie begonnen, einander zu zufluestern, eine nach der anderen, bis sie einschliefen mitten in einem Wort und es weitertraeumten.
Wie spaet mag es wohl sein?, fragt Alice wohlig mit halbgeschlossenen Augen.
Erst als sie keine Antwort bekommt, oeffnet sie sie ganz. Kein Horst in ihrem Bett! Das reisst sie hoch. Mit einem Blick sieht sie, dass er nicht im Zimmer ist. Laut seinen Namen rufend springt sie auf und durchsucht das ganze Haus nach ihm. Vergeblich.
So landet sie schliesslich auf der Terrasse, aber auch da ist er nicht.
Ich will mich nicht daran gewoehnen, dass du staendig verschwindest, wenn ich es am wenigsten erwarte, ruft sie boese in die Landschaft: Tu das nicht mit mir, das kann ich nicht leiden!
Der Blick ueber den Zaun hat etwas Unvertrautes. Alice braucht eine Weile, um drauf zu kommen, was es ist: ihr Auto steht nicht da. Sie laeuft ins Haus zurueck und schaut auf die Kommode, auf die sie normalerweise die Autoschluessel legt. Weg. Erschrocken denkt sie nach, findet schliesslich die Loesung: er wird einkaufen gefahren sein, um Fruehstueck fuer uns zu holen. Vielleicht wollte er auch ins Hotel um sich umzuziehen. Sie muss kichern, als sie an den Zustand seines vordem so gepflegten Abendanzugs denkt. Kein Wunder, wenn er den so schnell wie moeglich austauschen wollte, und dafuer eine Zeit gewaehlt hat, in der er noch ungesehen das Hotel betreten kann!
Aber jetzt soll er sich beeilen, er sollte schon wieder da sein, was soll Alice denn machen ohne seine Arme!
Unter die Dusche gehen, beschliesst sie nach einer Weile des sehnsuechtigen Herumstehens. Oder vielleicht doch nur das Gesicht waschen und seinen Geruch an ihrem Koerper behalten, bis er wiederkommt und ihn durch neuen ersetzen kann.
Schnell ist das Gesicht gewaschen, schnell ein Kleid uebergestreift, schnell die Haare gebuerstet. Wo bleibt er so lang? Sie nimmt ihre ziellosen Wanderungen wieder auf. Der Blick aufs Telefonbuch bringt die rettende Idee. Schnell hat sie die Nummer des Seehofs gefunden, waehlt sie mit ungeduldigen Fingern.
Ist Herr von Balow auf seinem Zimmer?, erkundigt sie sich. Wissen Sie die Zimmernummer?, fragt der Portier. Nein, leider nicht.
Einen Moment bitte, ich sehe im Gaestebuch nach. Alice hoert ihn blaettern. Mach schon, faucht sie innerlich, was dauert das denn so lang.
Wir haben keinen Gast dieses Namens, sagt der Portier schliesslich. Sie muessen sich irren!, besteht Alice.
Tut mir leid, gnaedige Frau, ich habe mehrmals ueberprueft.
Erschlagen legt Alice den Hoerer auf. Das darf doch nicht wahr sein! Im selben Moment klingelt es. Sie reisst den Hoerer hoch.
Wo bist du?, schreit sie hinein.
Hier ist Elisabeth Greifenstein, sagt die Stimme aus der Muschel: Ich fuerchte, Sie erwarten einen anderen Anruf. Ja, vergisst Alice jede Konvention.
Soll ich auflegen und die Leitung freimachen?, bietet Elisabeth an. Ja, nein, verzeihen Sie, stammelt Alice, aber jetzt ist ihr auch schon alles egal, warum soll sie nicht sagen, wie es ist: Wie Sie merken, bin ich in einem etwas ramponierten Zustand. Verzeihen Sie also bitte meine Direktheit - was wissen Sie ueber Horst von Balow? Nicht viel, meint Elisabeth gedehnt, ich habe ihn gestern zum zweiten Mal gesehen. Ich kann mich nicht einmal erinnern, wer ihn zum ersten Mal mitgebracht hat. Ich habe ihn amuesant gefunden, und ihn fuer den Abend eingeladen, als ich ihn gestern zufaellig auf der Strasse traf. Wissen Sie, wo er wohnt?
In Frankfurt, glaube ich.
Nein, ich meine hier.
Leider.
Darf ich Sie spaeter zurueckrufen?, fragt Alice. Freilich. Geben Sie gut auf sich acht!, sagt Elisabeth und legt auf.
Alice ist dankbar, dass Elisabeth keine Fragen gestellt hat. Was die sich wohl ueber sie denken mag, will sie sich auch nicht vorstellen. Was tun?
Es muss eine andere Loesung des Raetsels geben, als die, die sich ihr so unangenehm aufzudraengen beginnt. Das, was sie gerade erlebt, ist doch nicht zu vergleichen mit einigen Faellen, die sie verhandelt hat, und die sich jetzt in ihr Gedaechtnis draengen. Sie hatte sich immer gefragt, wieso diese Frauen so naiv sein konnten.
Sie wird in Frankfurt anrufen!
Genau. In seiner Firma wird man ja wohl wissen, wo er ist und alles wird sich klaeren. Wo hat sie nur seine Visitenkarte? Ins Portemonnaie hat sie sie gesteckt, und das ist in der Tasche, und wenn sie sich jeden Schritt einzeln vorsagen muss, so wird sie sich jeden Schritt einzeln vorsagen und ihn tun. Die Tasche muss irgendwo bei der Tuer liegen, wo sie sie beim reinkommen achtlos fallen gelassen hat.
Genau, da liegt sie. Alice packt sie, leert den ganzen Inhalt auf den Boden, setzt sich dazu und wuehlt. Kein Portemonnaie. Kein Etui mit ihren Kreditkarten. Kein Scheckheft. Keine Wagenpapiere.
Mit wellenartigen Bewegungen schiebt sie den Tascheninhalt ueber den Boden. Eine ganz andere Betonung als gestern findet sie fuer die Worte, die sich in ihre Kehle draengen: Why not take all of me...
Sie nimmt sich Zeit, ihr Lied zu Ende zu singen. Ganz gefasst ist sie, als sie aufsteht, um die Polizei anzurufen.
E-mail kabanyi@chello.at