Mahler klagt
von Rasha Khayat
Die Bahn rattert durch den Regen. Über den Landungsbrücken hängt grauer Dunst, die Barkassen liegen träge und ein bisschen ratlos in den Fleeten vor Anker. Mahler starrt aus dem Fenster und sieht sein Gesicht in der Scheibe, sieht, wie er den Kopf schüttelt, immer wieder schüttelt, und wie ihm dabei eine Strähne seines blonden Haars in die Stirn fällt. Mahler wippt mit dem rechten Bein, trommelt mit den Fingerspitzen auf die Oberschenkel, trommelt den Rhythmus eines Beatles-Songs, Penny Lane, oder Hey Jude, so genau weiß er das nicht. Seine Füße sind nass, glaubt er, zumindest der rechte, die Sohlen der alten Lederstiefel sind schon durchlässig. Er sollte sich mal neue kaufen, denkt er.
»Ich werde ihn verklagen!«, murmelt Mahler entschlossen. »Verklagen vor Gericht! Ich suche mir einen Anwalt, und dann verklage ich ihn.« Die anderen Fahrgäste schauen ihn skeptisch an. Die ältere Dame mit dem Yorkshire Terrier auf dem Schoß rückt ein wenig von ihm ab. Mahler merkt es nicht.
Mahler ist auf dem Weg zu seinem Therapeuten, und Mahler ist wütend. Gestern traf er Bine auf der Straße. Bine, diese schöne kleine Schauspielerin, mit der er ein paar Mal geschlafen hatte, in die er sich, ja, er wagt es zu denken, in die er sich so sehr verliebt hatte, die er anhimmelte, mit ihrem kinnlangen schwarzen Pagenschnitt und diesen tiefblauen Augen, die Mahler den Verstand raubten. Bine, die immer wieder beteuerte: »Du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben, aber ich kann nicht, ich kann mich nicht richtig auf dich einlassen. Ich kann es einfach nicht, ich habe Angst.« Dabei drehte sie den Kopf zur Seite und schloss die Augen. Bine, die immer wieder von ihren selbstzerstörerischen Tendenzen redete, und die Mahler so gern heilen wollte. Bine, die so grazil und zauberhaft war, sobald sie eine Bühne betrat, und die dann immer in sich zusammensank wie ein kleines, scheues Tier, wenn er sie nach ihren Vorstellungen in eine Kneipe begleitete.
Er will Bine für sich. Warum und wofür, das weiß er nicht so genau, aber er will sie nicht länger teilen. Gestern auf der Straße hatte sie einen anderen Mann dabei, einen großen, kantigen Typen in St. Pauli-Sweater und klobigen Turnschuhen. Mahler war sich schäbig vorgekommen in seinen durchlässigen Stiefeln und seiner himmelblauen Schlaghose. Er war nicht klein, nein, das kann man nicht sagen, aber der St. Pauli-Typ überragte ihn um einen ganzen Kopf. Und Mahler schaut nicht gern nach oben.
Mahler ist Musiker und mag sein Leben.
Mochte, denkt er, ich mochte mein Leben. Und dann kam Bine und ihre Selbstzerstörung und all das Gerede darüber, dass er »Issues« habe. Was sollte das eigentlich heißen, »Issues«? Bindungsgestört, hatte Bine gesagt. »Du bist halt auch so’n Bindungsgestörter. Sind wir alle, in unserer Generation.« Mahler will das nicht glauben. Er will sich doch binden, und am liebsten an Bine.
»Du hast ganz viel verdrängt«, hatte Bine vor ein paar Monaten gesagt. Er hatte neben ihr im Bett gelegen und sie im Arm gehalten. Er roch an ihrem Haar, Pfirsich und Lavendel, und sie redete von Verdrängung. Mahler nickte und bemühte sich, zuzuhören. Bine mochte es, wenn man ihr zuhörte. »Du hast dich ja überhaupt noch nicht von deinen Eltern gelöst! Du machst immer nur alles, um deiner Mama zu gefallen.« Mahler nickte und atmete Pfirsichduft ein.
Die Bahn hält an, die Dame mit dem Terrier steigt aus. Das Abteil wird leerer, sie bewegen sich langsam in Richtung Norden, wo keine Touristen mehr hin wollen. Mahler hat noch sechs Stationen vor sich und er trommelt einen Beatles-Rhythmus. Was war es noch mal? Ach ja, Penny Lane, da ist er sich jetzt ganz sicher. Er schaut hinaus in den Regen, der ein bisschen weniger wird, und denkt an seine Eltern. Seit 38 Jahren verheiratet und wie Mahler glaubt, glücklich.
Sie hatten ihm alles gegeben, dem einzigen Kind, hatten ihm früh Klavier- und Gitarrenunterricht ermöglicht, ihm ohne nachzufragen erlaubt, die Schule kurz vor dem Abitur abzubrechen, weil er mit seiner Schülerband auf Tour gehen wollte. Sie hatten ihm die Miete gezahlt und ihm ein Auto gekauft. Eine glückliche Kindheit, mit allem was dazu gehört, im Hamburger Umland unter Apfelbäumen. Warum sollte er da bindungsgestört sein?
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Bine hatte die Nummer eines Therapeuten rausgesucht, den sie kennt, und hatte Mahler das Telefon in die Hand gedrückt. Sie war aufgestanden aus dem Bett, hatte Mahler einen Kuss auf die Stirn gedrückt, nackt vor ihm gestanden und gesagt: »Das ist jetzt mein Abschiedsgeschenk für dich. Vielleicht hilft es dir. Du hast es bitter nötig.« Mahler wollte sagen, dass Bine es doch viel eher brauchte, das Therapieren, dass sie doch immer von ihrer Selbstzerstörung redete. Doch er brachte es nicht übers Herz. Er wollte Bine heilen, und sie ihn. Das musste doch Liebe sein, da musste sich doch etwas machen lassen. Mahler wählte die Nummer.
Seither geht Mahler zweimal die Woche in die lindgrün gestrichenen Praxisräume von Doktor Fechner, und redet über seine Gefühle. Er redet über seine Mutter, die ganz ängstlich ist, wenn er mit seiner Band auf Tour geht und von seinem Vater, der nie viel redet, ihm aber immer wieder sein Auto repariert und anschließend 50 Euro ins Handschuhfach legt.
Und je mehr Mahler redet bei Doktor Fechner in dem lindgrünen Zimmer, umso schlechter schläft er, umso lauter wird es in seinem Kopf. Er erinnert sich an frühere Beziehungen, die auseinander gegangen waren, an Jobs, die er nicht bekommen hatte, an die Schule, die er geschmissen hatte um Rockstar zu werden.
Mahler ist ein gutmütiger Mensch, ein ruhiger Typ. Er mag das an sich selbst. Mochte, denkt er, ich mochte das immer an mir selbst. Natürlich, man warf ihm vor, auch Bine warf ihm vor, seine Gefühle nicht zu artikulieren, aber sein Vater tat das auch nicht und immerhin waren seine Eltern doch glücklich, seit 38 Jahren, im Hamburger Umland unter Apfelbäumen.
»Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der Beziehung zu Ihrer Mutter und den Beziehungen zu Ihren Exfreundinnen?«, hatte Doktor Fechner letzte Woche gefragt. Mahler hatte in seinem schwarzen Ledersessel gesessen, die Hände im Schoß gefalten und sehr lange nachgedacht. Dabei hatte er das Windspiel in Doktor Fechners Fenster beobachtet und versucht, die Tonart auszumachen, in der die kleinen Metallstäbchen aneinander stießen und KlingKlingKlong und Kling machten. Mahler hat ein gutes Gehör. Das hilft in seinem Job. Er hört doch die Zwischentöne, verdammt noch mal.
Aber nun kann Mahler nicht mehr schlafen, ihm gehen die Fragen von Doktor Fechner nicht aus dem Kopf. Auch seine Arbeit hilft ihm nicht mehr dabei, Dinge zu vergessen, an die er nicht denken will. Und Mahler wird plötzlich ständig wütend. Wird wütend, wenn sein Mitbewohner vergisst, Kaffee zu kaufen, wird wütend, wenn ein Auftraggeber seine Rechnung nicht zeitig zahlt, wird wütend auf Bine und den Turnschuhtypen, wütend auf seine undichten Stiefel.
Das ist alles Doktor Fechners Schuld. »Glauben Sie, Ihre Eltern haben Ihnen genug Grenzen gesetzt als Kind?« Was sollte das überhaupt heißen? Mahler stampft mit dem Fuß auf und er bildet sich ein, dass die Bahn ein wenig ins Wackeln gerät. Er ist doch ein Mann, zum Teufel. Was interessiert denn heute noch, was in der Kindheit war? »Umarmen Sie Ihr inneres Kind!« Mahler hat keine Ahnung, wovon der Therapeut spricht.Aber Mahler kann nicht mehr schlafen. Seit Wochen.
Hatten seine Eltern je über ihre Gefühle geredet? Hatten sie sich gestritten? Hatten sie ihre inneren Kinder umarmt? Sicher nicht. Und sie waren doch glücklich! Herr Therapeut, meine Eltern sind seit 38 Jahren glücklich verheiratet, die sind doch auch nicht bindungsgestört! »Ihre Mutter hat Sie einfach sehr verwöhnt. Sie waren Partnerersatz für Ihren abwesenden Vater.« Mahler kann doch nichts dafür, dass seine Mutter ihn gern verwöhnte. Er will seine Ruhe zurück, verdammt. Seine Ruhe, und Bine.
Nein, es gibt keine andere Lösung. Wenn er jemals wieder schlafen will, muss er aufhören, an Doktor Fechners Fragen zu denken. Das ist doch völlig unverantwortlich von einem zertifizierten Therapeuten, seine Klienten so aus der Bahn zu werfen, das kann doch nicht richtig sein! Und Bine, die hatte jetzt den Turnschuhtypen und Mahler war in seiner Liebe zu Bine kein Stück voran gekommen. Er würde gleich in die Praxis marschieren und es Doktor Fechner sagen. Er würde sagen: »Ich werde Sie verklagen, wegen falscher Behandlung, wegen Pfusch, weil ich nicht mehr schlafen kann, weil mir ihre verdammten Fragen nicht aus dem Kopf gehen!«
Die Bahn hält an und Mahler springt energisch auf. Raus aus der Tür, den Bahnsteig runter durch den Regen, über die Straße, an der kleinen Bäckerei vorbei, rennt dabei fast einen alten Mann um, der sich eine Zigarette anzündet. Der kennt sein inneres Kind bestimmt auch nicht, denkt Mahler. So ein Schwachsinn.
Mahler spürt seine feuchten Socken nicht mehr, fährt sich mit beiden Händen durch die dichten blonden Haare und klingelt dann an der Tür der Praxis.
Nach einer Minute geht der Summer und die Tür springt auf. Mahler nimmt zwei Stufen auf einmal, hinauf bis in den dritten Stock. Oben ist er ein wenig außer Atem. Er klopft leise. Atmet zwei-, dreimal tief ein.
»Herr Mahler«, sagt Doktor Fechner und hält ihm lächelnd die ausgestreckte Hand hin. »Wie geht es Ihnen denn heute?«
Mahler betritt das lindgrüne Zimmer. Der Windhauch der sich schließenden Tür bringt das Glockenspiel zum klingen. A-Dur, denkt Mahler.
»Ich habe gestern Bine getroffen, Herr Fechner. Mit einem anderen Mann.« Mahler lässt sich in den schwarzen Sessel fallen, schnauft und streckt die Beine aus.

© Anna Maria Thiemann
Rasha Khayat, geboren im tiefsten Ruhrgebiet, wuchs in der Wüste von Saudi Arabien auf. Seither führt sie ein Nomadenleben zwischen Wüsten, Städten und Dörfern. Studiert hat sie Vergleichende Literaturwissenschaften, Germanistik und Philosophie, absolvierte diverse Lektoratspraktika und schließlich ein Volontariat bei einem großen Hamburger Verlag und arbeitet seither als freie Autorin und Übersetzerin.
Im März 2016 erschien ihr erster Roman „Weil wir längst woanders sind“ im Kölner Dumont Verlag.
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