Ein mögliches Leben (Auszug)
von Hannes Köhler

 

II.

„Komm schon, komm rüber!“

Er winkt ihn zu sich. Franz klettert aus seiner Hängematte, steigt über einige am Boden liegende Kameraden. Die Laternen am metallenen Haken unter der Decke sind pausenlos in Bewegung, sie lassen die Schatten im Zwischendeck schwanken.

„Er ist einverstanden.“

Paul strahlt.

„Wir sollen jetzt zum Schott kommen, uns in der Nähe aufhalten. Er wird uns holen, wenn es soweit ist.“

„Bist Du sicher?“

Paul hebt den Daumen und spaziert vorweg zum Schott am Ende des Zwischendecks, wo er sich hinsetzt und seine Skatkarten aus der Uniformjacke zieht. Sie spielen eine Weile schweigend. Schließlich setzen sie sich an die Rückwand und schauen in den Lagerraum. Sie spüren das warme Metall im Rücken, spüren die Vibrationen der Motoren. Die Männer vor ihnen schlafen oder unterhalten sich leise. Eine große Ruhe nach den Tagen im Sturm, eine große Ruhe, diese Sicherheit, dass der Krieg für sie vorbei ist, dass sie an Bord eines Transporters sind, der sie nach Amerika fährt. Bis der Führer sie abholen wird, hat einer gesagt. Einige lachten laut darüber. Andere schwiegen.

Das Schott neben ihnen öffnet sich, ein amerikanischer Soldat betritt den Raum. Er schaut sich beiläufig um.

„You two!“

Er zeigt auf Paul und Franz.

„Get up! Work!“

Ein Kamerad neben ihnen sieht von seinem Buch auf.

„Arme Schweine“, lacht er.

Sie folgen dem Amerikaner. Als sich das Schott hinter ihnen schließt, gibt er Paul grinsend die Hand.

„I should win an Oscar for that performance“, sagt er. „Hurry up!“

Er läuft voran. Sie steigen einige Treppen hinauf, biegen um Ecken, erklettern Leitern. Die weiß gestrichenen, niedrigen Gänge des Schiffes sind verlassen. Die Maschinen wummern, das Klongklongklong ihrer Schritte wird von den Wänden geschluckt. An einem weiteren Schott bleibt der Mann stehen, dreht sich um und sagt etwas auf Englisch. Paul hört ihm zu und nickt.

„Er sagt, dass die Besatzung und die Verwundeten schon beinahe alle an Deck sind, um zu schauen. Er lässt uns bis zur Außentür. Er selber wird davorstehen. Die Tür wird offen sein, aber wir müssen drin bleiben. Wenn wir rausgehen, knallt er uns ab.“

„Alles klar?“ fragt der Ami.

„Yes“, sagt Franz, „alles klar.“

Der Ami lacht.

„Wir können so lange bleiben“, sagt Paul, „bis er uns ein Zeichen gibt. Dann geht’s zurück in den Lagerraum. Und wenn einer fragt, haben wir Latrinen geschrubbt.“

Fremde Geräusche sind von draußen zu hören, Möwen, Möwen oder andere Tiere. Dann begreift er: sie hören Menschengeschrei, Jubel, Pfeifen. Der Ami öffnet das Schott, läuft wieder voran, am Ende des Gangs das Tageslicht, davor Schemen in Bewegung. Ihr Wächter legt einen Finger auf die Lippen, bevor er ins Freie tritt. Sie stellen sich an die Schwelle, strecken die Köpfe vor.

Licht, gleißend grell, Lärm, nicht nur von Menschen, auch aus den Hörnern anderer Schiffe, die Welt überdreht, tönend und leuchtend, Franz sieht zunächst nichts als Helligkeit, sieht die dunklen Umrisse der Soldaten vor sich, der Männer, die an der Reling stehen, teilweise halb emporgeklettert, die johlen, lachen und sich umarmen. Nach einigen Augenblicken sieht er das Wasser, das Blau, sieht die vielen Schiffe darin, den kleinen grünen Turm, fokussiert ihn langsam, er begreift, erkennt die Krone und die Fackel.

Er schaut zu Paul, der mit weit geöffnetem Mund lacht, während das Schiff eine leichte Drehung fährt und die Statue hinter sich lässt. Eine endlose Ebene aus Flachbauten, Lagerhäusern, Fabrikschloten. Überall Boote, groß und klein, grau gestrichen, an den Anlegern oder im Wasser, ein großes Durcheinander, unzählig, unbeschreiblich. Ist das schon New York, ist es das schon? Er erhält einen Stoß gegen die Schulter.

„Schau!“, ruft Paul, er streckt den Arm hinaus aus der Tür. Franz Blick folgt dem Zeigefinger, blickt über das Wasser, weg von den Lagerhäusern, über die kleinen Boote hinaus weiter nach Norden. Dort sieht er sie. Dunkle, dicht gedrängte Gebäude neben grauem Sandstein, rote Backsteinklötze neben dem Glänzen von Glas und Metall in der Sonne, das grüne Funkeln der Kupferdächer, Nadelspitzen, die in den Himmel stechen. An Kirchtürme denkt er, umstellt von dicken Blöcken, die alleine schon doppelt so hoch sind wie der Bergmannsdom in Katernberg. Von Süden nach Norden scheinen die Gebäude zu wachsen; Orgelpfeifen, die Stadt steigt auf, sie reckt sich ins Blau. Danach eine Lücke, ein Abebben, flachere Bauten, und dahinter, im fernen Dunst des Sommertages, noch mehr Türme.

„Empire State“, sagt Paul, „siehst du? Empire State!“

Und Franz nickt, obwohl er nicht begreift, er würde zu allem nicken, er staunt, kann den Blick nicht abwenden, sein Blick ist hungrig, hat einen Appetit, den Franz nicht gekannt hat bisher, der mehr will, nicht satt zu kriegen ist. Das hier, denkt er, und versucht sich jeden Turm einzuprägen, jede Lichtreflektion, jede Spitze und jede Antenne, die Form der Torbögen an den Fähranlegern, das hier darfst du nie vergessen.

*

Das ganze Dorf ist gekommen. Er sieht Väter, die ihre Kinder auf den Schultern tragen, Mütter mit weißen Hauben, alte Frauen, Halbstarke, Franz sieht Automobile, Traktoren, auf denen einige Frauen sitzen und winken, er sieht weiße und schwarze Gesichter, hört Stimmen, Gelächter, Kleinkindergeschrei. Ein Volksfest, oder vielleicht ein Zoobesuch. Alle halten gebührenden Abstand, warten hinter der Reihe amerikanischer Soldaten, die mit gesenkten Gewehren, aufgepflanzten Bajonetten und ernsten Gesichtern darauf warten, dass die Deutschen den Zug verlassen.

Eine einfache Schotterstraße kreuzt die Schienen, zwei Warnschilder, sonst nichts. Nur die zusammengelaufenen Menschen zeugen von der nahe gelegenen Siedlung.

Franz blinzelt, er beschirmt sein Gesicht mit den Händen, er stolpert vorwärts, folgt den Kameraden durch jenes Spalier, das die amerikanischen Soldaten ihnen bilden. Sie marschieren voran, oder marschieren nicht, sie laufen, humpeln, schleppen sich. Erst nach einigen Metern scheinen sie sich daran zu erinnern, wer sie sind, sie fallen in Reihe, mehr oder minder, sie halten Gleichschritt, auch das mehr oder minder, mit ihren Rucksäcken, Seesäcken oder Koffern beladen. Die Sonne steht hoch, brennt auf sie nieder, die Hitze unerträglich, die Luftfeuchtigkeit raubt ihm den Atem, Salz läuft ihm in die Augen, brennt, der Vordermann nur eine verschwommene Form inmitten einer Wolke wirbelnden Staubs. Er bemüht sich die Füße zu heben, den Rhythmus zu halten, nicht aus der Reihe zu fallen.

Motorenbrummen begleitet sie, Franz erkennt zwei Jeeps, die langsam neben ihnen fahren, er erkennt große Formen auf der Ladefläche: die MGs. Die Bevölkerung bleibt zurück oder hält Abstand, er schaut nicht zurück, schaut nur auf die hin und her schwankenden Rohre. Eine der Waffen würde ausgereichen, vermutet er, vielleicht würden es einige in das nächste Wäldchen schaffen, vielleicht nicht. Seine Kleidung klebt ihm am Körper, der Rucksack schwer, die Beine kraftlos, durch seinen Kopf poltern Gedanken, so als fielen sie aus einem Regal an ihm vorbei, hinab, wohin auch immer, aber hinab, in einen Stollen, dein Bergmannsgehirn, was ist los, was geht da durcheinander. Es ist doch beinahe geschafft, die werden uns nichts antun, nicht vor Zivilisten. Und das rote Kreuz, sowieso das Rote Kreuz. Wo ist Paul, denkt er, hebt ein wenig den Kopf, aber der Schweiß läuft und brennt, nur noch graue Schlieren im Blick. Du musst schreiben, sobald du angekommen bist, dem Bruder und der Mutter, dass du wohlauf bist, das müssen sie wissen, dass du sie vermisst, dass du sogar den Vater vermisst, sogar den Toten. Dein Kopf, denkt er, die Sonne. Ein Butterbrot, wie wunderbar das jetzt wäre, ein Butterbrot mit einem Glas Milch, oder den Zechenturm zu sehen, Kohlestaub auf dem Gesicht zu haben, mit der Hand über die gewachste Tischdecke in der Küche der Mutter zu streichen. Du brauchst Wasser, du brauchst Schatten. Er konzentriert sich auf seine Schritte, einen Fuß vor den anderen, immer weiter, immer geradeaus, einen Schritt, einen zweiten, einen dritten, er beginnt zu zählen. Links und rechts die Bäume, eher lose Ansammlungen als wirklich ein Wald, keinerlei Schutz gegen die Sonne. Er hat bis jenseits der Tausend gezählt und schon eine Weile aufgegeben, als endlich Stimmen laut werden und sich das Marschtempo verlangsamt. Er drückt das Gesicht in seinen Ärmel, reibt sich die Augen, hebt den Kopf, blinzelt so lange, bis er wieder etwas erkennen kann: Stacheldraht hinter der Baumreihe zu seiner linken, hinter dem Zaun mehrere große, längliche Gebäude. Unruhe macht sich breit, ein Summen in Köpfen und Stimmen, sie setzen sich nach Aufforderung der Amerikaner wieder in Bewegung, beschleunigen ihre Schritte. Die Baumreihen öffnen sich, geben den Blick frei auf die großen, grauen Baracken, ein zweiflügliges Tor im Stacheldraht, das bereits offen steht, dahinter ein weiterer Jeep mit aufgepflanztem MG. Strommasten erheben sich zwischen den Gebäuden, die Kabel wie unerreichbare Wäscheleinen. Rauch steigt auf und es riecht nach Essen. Er spürt weder Freude noch Angst, die Bilder drücken alle Gefühle aus seinem Kopf. Sie marschieren hinein in das Lager, vorbei an den ersten Gebäuden; Menschen warten an den Türen oder am Straßenrand und beobachten sie: Männer und Frauen in grünen Uniformen, einige Zivilisten oder Gestalten in weißen Arztkitteln. Sie durchqueren diesen Bereich, er sieht rechts noch mehr Baracken, ganz Reihen von ihnen, sieht noch mehr grünuniformierte Menschen. Neben einem weiteren Tor in einem doppelten Drahtzaun stehen die ersten Türme, bullig und vieleckig. Soldaten auf den Aussichtsplattformen, die Scheinwerfer auf den Dächern und die Gewehre, die auf sie gerichtet sind. Dahinter unzählige Dächer, Rauch, ein Dorf, eine Stadt im Draht.

Sie biegen nach rechts auf eine Straße, ihre Dorfstraße, an der links und rechts Baracken liegen, erhöht auf Stelzen. Auf beiden Seiten der Straße auch Entwässerungsgräben, von winzigen Steinbrücken überspannt, an den Rändern der Gräben sauber gezogene Blumenbeete, Stiefmütterchen, Vergissmeinnicht. Eine Idylle, wie ausgestorben, als habe der Erdboden alle Menschen, die jene Brücken gebaut und Pflanzen gezogen haben, vor ihrer Ankunft verschluckt. Aus einem großen Gebäude steigt Rauch auf, das einzige Anzeichen von Leben. Ein Raunen und Flüstern, als sie auf der Rückseite dieses Gebäudes einen Brunnen ausmachen, ein Halbrund aus Beton mit einer Steinwand an der Rückseite, einer Steinwand, aus der drei Gesichter mit gehörnter Stirn schauen und Wasser in das Becken unter sich spucken.


hk_12_2014_001-kopieGeboren 1982 in Hamburg. 2001 Umzug nach Berlin. Dort und in Toulouse Studium der Neueren deutschen Literatur und Neueren/Neuesten Geschichte. Mitbegründer der Literaturgruppe und Lesebühne »Die Lautmaler« – von 2003 bis 2010 regelmäßige Veranstaltung von Lesungen in Berlin.

2009 Stipendiat der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin. Im April 2011 erschien der Debütroman „In Spuren“ im Hamburger mairisch Verlag. 2013 Stipendiat der Stiftung Preußische Seehandlung. 2014 Stipendiat im Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf. Im März 2018 erscheint sein neuer Roman „Ein mögliches Leben“ im Ullstein-Verlag. Lebt als freier Autor in Berlin.