WE SAW MONSTERS von Erna Ómarsdóttir auf Kampnagel

„Once upon a time…“ WE SAW MONSTERS

Erna Ómarsdóttir erzählt und besingt in WE SAW MONSTERS reale Geschichten von Mord, Verstümmelung und sexuellen Obsessionen. Es geht um Schmerz und Lust, Liebe und Hass und vor allem Lust am Schmerz und Lust am Hässlichen.

Zur Thematik von WE SAW MONSTERS sagt die isländische Künstlerin in einem Interview mit der Zeitschrift Tanz:

„Ich glaube, ich kämpfe immer mit meinen Ängsten in meinen Stücken. Nicht, dass ich traumatisiert wäre, ich hatte eine gute Kindheit. Aber wie alle Kinder hatte ich Angst vor der Dunkelheit – und ich fürchtete mich vor Monstern.“

WE SAW MONSTERS erzählt von diesen kindlichen Ängsten, aber auch vom kindlichen Spaß an Schmerz und Zerstörung. Angst, Schmerz und Lust liegen hier eng beieinander, so wie in den Choreografien Zartheit und Gewalt, Ruhe und Heftigkeit, Sensibilität und Rohheit eng miteinander verwoben sind.

So bewegen sich z.B. zwei beeindruckenden Tänzerinnen in lavendelfarbenen Hemdchen mit Spitzenkragen und weißen Strümpfen zwischen kindlicher Unschuld und exzessiver Gewalt, oder es entspinnt sich ein poetischer Tanz mit dem Sensemann.

Die Choreografien sind untrennbar mit der Musik von Valdimar Jóhannsson verbunden, der eine Kombination aus Kinderliedern und Industrial-Metall schafft. Kindergemurmel wird zu Geschrei, die Spieluhr-ähnliche Musik wird zu stampfendem Industrial-Sound, immer wieder begleitet durch die Stimmen und Schreie der Tänzer sowie den Gesang von Erna Ómarsdóttir.

WE SAW MONSTERS auf Kampnagel. Foto: Adrian Anton

Besonders gegen Ende hin findet Erna Ómarsdóttir in WE SAW MONSTERS eine düstere Form von Pierre-et-Gilles-Ästhetik, in der mit Prothesen und Kunstblut opulente Bilder entstehen, die voller ironischer Überzeichnung und schwarzem Humor sind.

„Ich wollte ein Ende, das zugleich grausam und tröstlich ist.“

Während das 2011 beim Nordwind-Festival gezeigte TEACH US TO OUTGROW OUR MADNESS durch die thematische Fokussierung auf Weiblichkeitsbilder eine ganz andere inhaltliche Brisanz hatte, bleibt WE SAW MONSTERS auf eine ästhetisch-beeindruckende Art aber verhältnismäßig eindimensional und beinahe hedonistisch. Die Sinnlichkeit und Poesie von Alpträumen wird in WE SAW MONSTERS zwar kunstvoll bebildert und musikalisch untermalt, aber den Bewegungen, Bildern und Stimmungen fehlt die mehrdeutige Tiefgründigkeit, die TEACH US TO OUTGROW OUR MADNESS so ausgezeichnet hat.

 

WE SAW MONSTERS

Von und Mit: Erna Ómarsdóttir, Valdimar Jóhannsson, Sigrídur Soffía Níelsdóttir, Sigtryggur Berg Sigmarsson, Ásgeir Helgi Magnússon, Lovísa Ósk Gunnarsdóttir
Musik: Valdimar Jóhannsson
Kostüme:  Gabríela Fridriksdóttir, Hrafnhildur Hólmgeirsdóttir
Dramaturgie Assistenz: Karen Maria Jónsdóttir
Prothetik: Heimir Sverrirsson
Licht: Larus Björnsson, Sylvain Rausa
Ton: Lieven Dousselaere

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Wie ein Traum: TOSHIKI OKADA / CHELFITSCH: “Current Location” auf Kampnagel

Current Location“: sieben Frauen, die mit Teetassen an nüchternen kleinen Tischen sitzen, abwechselnd Monologe oder Dialoge halten über ihr Leben im “Dorf”, über dem wie eine bedrohliche Wolke Angst schwebt. Beunruhigend ruhig läuft alles ab: die Gespräche, die Bewegungen, die Zuspitzungen. Wie in einem schlechten Traum scheint die Szenerie traumwandlerisch-verlangsamt. Oder wie vor Angst gelähmt.

“Die ganze Welt ist doch ständig am untergehen”

Angst ist auch das zentrale Thema in “Current Location”. Angst wovor? Angst vor Bedrohung, Angst vor Ungewissheit. Angst, keine Angst mehr davor zu haben. Angst, was andere von einem Denken. Angst, von der Angst regiert zu werden.

“Wenn jemand stirbt, dann geht seine Welt unter”

Current location. Foto: © Tsukasa Aoki

Toshiki Okada und seinen Darstellerinnen gelingt es, dieses komplexe Thema der Angst vielschichtig und vor allem vieldeutig zu inszenieren. Während die Inszenierung “Hot Pepper, Air Conditioner, and the Farewell Speech” von  2010 die Entfremdung und Zurichtung in der modernen Arbeitswelt sehr physisch darstellte,  voller Verrenkungen und rastloser Bewegungen und Wiederholungen, wirkt “Current Location” beinahe statisch in seiner sehr reduzierten Formsprache, die dadurch aber auch sehr konzentriert ist. Auch wenn die beiden Inszenierungen formal sehr unterschiedlich sind, ist ihnen jedoch gemeinsam, dass Okada eine ganz eigene Form und Sprache gefunden hat, die den jeweiligen Themen seiner Stücke extrem gut entspricht und gerecht wird. Beeindruckend!

STÜCK/REGIE: Toshiki Okada
MIT: Luchino Yamazaki, Yukiko Sasaki, Saho Ito, Kei Namba, Mari Ando, Izumi Aoyagi, Azusa Kamimura
BÜHNE: Shusaku Futamura
MUSIK: Sangatsu

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Qualen bei Kušejs “INTERVIEW” auf Kampnagel

Die Inszenierung von Martin Kušej nach einem Film von Theo van Gogh wurde von der SZ als “Sternstunde des Theaters” bejubelt. Auch das auffällig Kampnagel-untypische und dafür auffällig Hamburger-Theater-Festival-typische Publikum jubelte. Fragt sich: Warum? Weil sie “ein Kammerspiel von präziser Grausamkeit, atemloser Spannung und messerscharfen Dialogen” gesehen haben?

Ich jedenfalls habe selten so unerträgliches Schmierentheater gesehen: die völlig fehlbesetzte (das ist ein Kompliment!) Birgit Minichmayr als angestrengt vulgär-schlampiges Silikon-Filmsternchen im Pseudo-Psycho-Dialog-Duell (“Warum quälst Du mich? Weil Du mich quälst!”) mit einem ebenso angestrengt-verkorksten Journalisten. Eine Aneinanderreihung plakativer Stereotypen, vorhersehbarer Witze, Möchtegern-Psychologie und konstruierter Konflikte inklusive achso überraschender Wende am Ende. Fühlt sich an wie Privatsender-Vorabendprogramm in Überlänge bei dem Versuch Ingmar Bergman zu immitieren: Unerträglich!

MIT: Birgit Minichmayr und Sebastian Blomberg
REGIE: Martin Kušej
BÜHNE: Jessica Rockstroh
KOSTÜME: Werner Fritz
DRAMATURGIE: Rahel Bucher

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“HATE RADIO” von Milo Rau und dem IIPM auf Kampnagel

“HATE RADIO” von Milo Rau und dem International Institute of Political Murder setzt sich mit der Rolle des Radiosenders RTLM während des Genozids in Ruanda 1994 auseinander. Die Hintergründe und meine Eindrücke von der Inszenierung habe ich bereits im Mai auf dem Theatertreffen-Blog beschrieben.

Jetzt, fast fünf Monate später, gastiert “HATE RADIO” auf Kampnagel. Eigentlich schreibe ich nur selten – bzw. bisher noch nie – mehrfach über eine Inszenierung. Im Falle von “HATE RADIO” wollte ich aber meine ersten Eindrücke noch einmal überprüfen und hinterfragen. Zumal ich mir noch nicht ganz klar war, wie ich die Inszenierung – oder vielmehr die Herangehens- und Arbeitsweise von Milo Rau und dem IIPM, also die Form eines “Reenactments“, nun finde. Aber auch nach dem zweiten Blick kann ich das nicht wirklich sagen. Ich kann nur sagen, dass ich die Wahl des Themas sehr gut und die Umsetzung beeindruckend finde. Allerdings ist fraglich, ob das Theater eine adäquate Plattform für diese Form der Geschichtsschreibung bzw. -erzählung bietet, da im Theater politische Themen häufig Gefahr laufen, in einer scheinbar unausweichlichen “Ist-ja-alles-nur-Kunst”-Belanglosigkeit zu verpuffen.

“HATE RADIO” ist daher auch einer der wenigen Fälle, in denen ich die Hörspiel-Fassung eines Theaterstücks beinahe gelungener finde als die Theater-Fassung. Die “Macht der Sprache” wird in der Hörspiel-Fassung besonders deutlich, da alle Bilder im Kopf des Zuhörers entstehen, während der Theater-Zuschauer eher Bilder rezipiert als produziert. Andererseits kann die Theater-Fassung Details zeigen, die den Bildern im Kopf entgegenlaufen: die selbstverständliche Beiläufigkeit, mit der die Moderatoren Schusswaffen tragen, oder wie jemand in Nelson-Mandela-Shirt zum Mord aufruft.

Die Hörspielfassung liefert noch zusätzliche Hintergrundinformationen, z.B. zur Rezeption und zu Reaktionen, die die Aufführungen von “HATE RADIO” in Ruanda ausgelöst haben und die extrem auseinander gehen können: Betroffene und Augenzeugen stehen hier Jugendlichen gegenüber, die die grausame Realität hinter dem Gezeigten kaum kennen.

Hier in Europa ist die Diskrepanz noch gravierender: hier stehen auf der Bühne Überlebende des Genozids einem Publikum gegenüber, das die Geschehnisse –  wenn überhaupt –  lediglich aus der  Berichterstattung westlicher Medien kennt.  Beim Theatertreffen 2012 in Berlin fanden daher nach jeder Aufführung Publikumsgespräche statt, die diese Diskrepanz in teilweise abstrusen Diskussionen verdeutlicht haben. Auf Kampnagel gab es nach der gestrigen Premiere leider kein Gespräch , aber dafür sind für die drei folgenden Aufführungen Publikumsgespräche mit eingeladenen Experten geplant. In Berlin habe ich das Publikumsgespräch als wichtigen Teil der Inszenierung empfunden, da hier der sehr geschlossene und formale Rahmen der Inszenierung erweitert und gebrochen wurde. Gerade im Gespräch mit den Beteiligten wurde das Angebot zur aktiven und konstruktiven Auseinandersetzung mit der Inszenierung gemacht. Ob dieses Angebot vom Theaterpublikum angenommen wird, ist eine andere Frage.

Am Mikrofon: Milo Rau. Publikumsgespräch zu “Hate Radio” beim Theatertreffen 2012. Foto: Nadine Loes

 

BUCH/REGIE: Milo Rau
DRAMATURGIE/CONCEPTUAL MANAGEMENT: Jens Dietrich
MIT: Afazali Dewaele, Sébastien Foucault, Estelle Marion, Nancy Nkusi und Diogène Ntarindwa UND DEN STIMMEN VON Thomas Bading und Sven Tjaben
PRODUKTIONSLEITUNG: Milena Kipfmüller

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Nature Theater of Oklahoma’s LIFE + TIMES

Das Nature Theater of Oklahoma präsentiert beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel die Episoden 3 + 4 von LIFE + TIMES.

LIFE + TIMES ist ein auf insgesamt 10 Episoden ausgelegtes Großprojekt, in dem die exakte Transkription von 10 Telefonaten inklusive aller Ähs und Brechungen die Lebenserzählung von Kristin Worrall auf die Bühne bringt.

Die Episoden 3 + 4 erzählen vom Eintritt in die Pubertät bis zum Ende der Highschool-Zeit. Also eine Zeit, die von großen Gefühlen, Dramen und vor allem großen Hoffnungen geprägt ist. Eine Zeit, in der die erste Zigarette, die erste Party, der erste Kuss, die erste Reise nach London, der erste Joint, die erste Schwärmerei noch Erwartungen auf eine verheißungsvolle Zukunft schüren und in der Bands wie The Doors, The Police oder The Smiths den Soundtrack liefern. Zumindest im Text.

Denn während Episode 1 und Episode 2 mit ihren Musical- und Show-Elementen sowie poppigen Trainingsanzügen eine Entsprechung zur textlichen Ebene lieferten, verfolgen die Episoden 3 + 4 ein entgegengesetztes Konzept: auf der Bühne finden sich keine Hinweise auf Punkrock oder Rebellion, sondern eine gemalte Pappkulisse im englischen Landhausstil passend für einen Agatha Christie-Klassiker. Auch die Kostüme verweigern jegliche jugendlich-subkulturellen Bezüge und persiflieren stattdessen klassische Krimi-Kuriositäten in Tweed und Strick.

Nature Theatre of Oklahoma: Life and Times - Episodes 3&4. Foto: Anna Stöcher

In dieser zeit- und ortsentrückten Szenerie englischer Krimi-Romantik wird nun die Zeit der Pubertät einer in den 1970er Jahren in einer amerikanischen Vorstadt geborenen Frau erzählt: Prosaische Alltäglichkeiten bzw. Großereignisse der Adoleszenz wie das Wachsen von Schamhaaren oder der erste Kuss werden dramatisch überhöht vorgetragen – eben wie in einem etwas peinlichen Kriminalstück. Das könnte eine Entsprechung zu der Dramatik sein, die diese Ereignisse in der Wahrnehmung Heranwachsender einnehmen und an die sich wohl auch jeder Zuschauer erinnern kann. Allerdings spielt das Nature Theater of Oklahoma dieses Mal weniger mit Entsprechungen, sondern vielmehr mit Diskrepanzen zwischen Inhalt, Sprache, Gestik und Mimik. Dieses Spiel wird noch weiter getrieben, indem den Darstellern – während sie spielen – immer wieder kleine Kärtchen mit Regieanweisungen wie „scared“ oder „all look at Bobby“ hochgehalten werden. Pavol Liska und Kelly Copper, die für Konzept und Regie verantwortlich sind, sagen hierzu:

„Wir streben danach, eine verunsichernde Situation zu schaffen, die allen Anwesenden absolute Präsenz abverlangt.“ Das gelingt allen Beteiligten auch extrem gut, was dieses Theater positiv von sehr vielen anderen abhebt: die absolute Präsenz aller Anwesenden. Allerdings führt in Episode 3 + 4 die streng konzeptionelle Inszenierung zu einer zu großen Statik auf der Bühne, auf der außer ein paar plötzlichen Auf- oder Abtritten und Gesten des Erstaunens nicht viel passiert. Text und Darstellung gehen hier so weit auseinander, dass sie beinahe den Kontakt zueinander verlieren.

Während die Episoden 1 + 2 maßgeblich geprägt waren von Bewegung, Tanz, Musik und Gesang, werden diese Elemente dieses Mal – wenn überhaupt – nur extrem reduziert eingesetzt: lediglich der erste Kuss auf einer Klassenfahrt nach London und ein paar Jahre später der erste große College-Prom inklusive erster großen Schwärmerei werden in Liedform vorgetragen. Tanz fehlt leider vollständig. Die ersten beiden Episoden von LIFE + TIMES haben durch dieses Zusammenspiel von Text, Tanz, Gesang und Musik eine enorme Energie entfaltet – das strenge und statische Konzept der Episoden 3 + 4 beschränkt die Darsteller aber leider so sehr, dass deren Potentiale und Energie nicht wirklich genutzt werden.

Davon abgesehen gelingt es dem Nature Theater of Oklahoma aber auch mit den Episoden 3 + 4 wieder, den schmalen Grad zwischen ironischer Distanz und respektvoller Empathie im Erzählen einer Lebensgeschichte zu verfolgen. Gerade gegen Ende der Episode 4 wird dies deutlich, wenn Kristin Worrall ihre eigenen Zweifel am eigenen Erzählen und Inszenieren ihrer Biografie äußert, sinngemäß: „It’s just a mess of nothing. Like it was not my life-story.“

LIFE + TIMES ist viel mehr als die Lebenserzählung einer Person – auf jeden Fall immer wieder extrem sehenswertes großes Theater! Gut zu wissen, dass noch 6 Teile folgen werden!

Konzept + Regie:
Text nach einem Telefongespräch mit Kristin Worrall
Originalmusik: Robert M. Johanson, Daniel Gower
Design: Peter Nigrini
Mit: Ilan Bachrach, Gabel Eiben, Anne Gridley, Robert M. Johanson, Matthew Korahais, Julie Lamendola, Alison Weisgall, Kristin Worrall
Musiker: Daniel Gower, Robert M. Johanson, Kristin Worrall
Prompter: Elisabeth Conner
Dramaturgie: Florian Malzacher
Tontechnik: Daniel Gower, Kristin Worrall
Produktionsmanager: Dany Naierman

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WE MIGHT AS WELL LIVE von Sharon Smith und Tom Parkinson beim KALTSTART-Festival

Sharon Smith und Tom Parkinson: WE MIGHT AS WELL LIVE

WE MIGHT AS WELL LIVE von Sharon Smith und Tom Parkinson ist wie eine Einladung, einen Blick in den Browser-Verlauf eines fremden Computers zu werfen: Interessen, Fragen und Sorgen, Konsum-, Beziehungs- und Sexualverhalten tauchen wie Schlaglichter auf. Es ist nichts so wie es wirklich ist, aber es bietet seltsame Einblicke, wie durch ein Kaleidoskop. Dieses schöne Bild stammt nicht von mir – bis auf das Kaleidoskop – sondern von Sharon und Tom.

“We’ve been exploring sound – and the effects sound has on the body, and sound as metaphor, as a way of exploring composition, of bodies and space and relationships.”

Sharon und Tom fragen, untersuchen, mutmaßen und wundern sich über Beziehungen, Abhängigkeiten und Kausalitäten – und stellen Verbindungen her, wo eigentlich keine zu vermuten wären: in Lautsprechern blubbernde Flüssigkeiten, tanzende Strohhalme, singende Gläser, die unterschiedlichen Einflüsse „neutraler“ oder „romantischer“ Musik auf das menschliche Verhalten und Geschichten wie die über kleine Parasiten, die Mäuse dazu verleiten, vor einer Katze zu tanzen, werden durch Tanz- und Gesangseinlagen miteinander verbunden.

Kuriose wissenschaftliche Erkenntnisse, Theorien oder Versuche werden übertragen auf das kuriose Versuchslabor Leben, auch unter Einbeziehung des Publikums: ein Zuschauer auf Sharons Rücken illustriert z.B., warum Kakerlaken nicht zertreten werden sollten. Experimente mit Peitschen und Würstchen werden unterbrochen durch „Blackouts“ und begleitet von großzügigen Mengen Wein.

Sharon Smith, PhD in Performance und u.a. Mitglied von GOB SQUAD

Obwohl die Performance mehrere Elemente beinhaltet, die ich ansonsten kategorisch ablehne, wie das Rumreichen von Weinflaschen oder Mitsing-Aktionen, wirkte hier alles völlig passend. Überhaupt zeichnet sich WE MIGHT AS WELL LIVE dadurch aus, dass alle Elemente und Fragmente sehr stimmig und stimmungsvoll kaleidoskopartig zueinander gehören: Performer und Performance sind nicht zu trennen. Sharon und Tom schaffen Authentizität ohne Authentizitätsbemühungen. Nicht alleine was sie tun und sagen, sondern wie sie es tun und sagen hat eine sehr unmittelbare und berührende Wirkung – was z.B. dadurch belegt wird, dass sie es tatsächlich geschafft haben, das Hamburger Publikum komplett zum Mitsingen zu animieren, inklusive mir selbst.

 

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[M]IMOSA – Twenty Looks or Paris is Burning at The Judsons Church [M] auf KAMPNAGEL

Cecilia Bengolea, Trajal Harrell, Marlene Monteiro Freitas: MIMOSA

Eine karge Bühne, die von grellen Scheinwerfern umstellt ist, vier Personen, die im Wechsel tanzen, singen, sprechen. Episodenhafte Choreografien und fragmentarische Monologe, in denen es irgendwie immer um Konzepte von Identität und/oder Authentizität geht.

Klingt erst einmal nach allen Klischées von Contempourary Dance. Aber [M]IMOSA hebt sich von den angestrengten Authentizitätsbemühungen vieler post-something Produktionen nicht nur dadurch ab, dass hier die Künstlichkeit und Inszenierung präsent ist und immer wieder dramaturgisch-geschickt gebrochen wird. Das können andere wie De Keersmaeker oder Jérôme Bel auch und vielleicht handwerklich ausgefeilter.

[M]IMOSA beeindruckt durch die Präsenz und Konsequenz der vier Darsteller_innen: Cecilia Bengolea, François Chaignaud, Trajal Harrell und Marlene Monteiro Freitas repräsentieren eine Form von Stärke, die nicht aus Selbstbewusstseinskult, sondern aus einer kompromisslosen Ehrlichkeit entsteht.

Cecilia Bengolea: MIMOSA

Denn hier stehen offensichtlich vier Personen auf der Bühne, die mit gängigen Schönheits- und Identitätsbemühungen oder Geschlechterrollen gebrochen haben, die sich entblößen ohne Bloßstellung, sondern voller Selbstachtung. Stärke und Schwäche sind hier nicht mehr zu trennen, da die Stärke der Vier gerade darin besteht, offensiv gesellschaftlich-stigmatisierte und -sanktionierte Schwächen zu thematisieren und dadurch anzugreifen. Und zwar nicht über kostruiert-intellektuelle Rationalität, sondern über körperliche und atmosphärische Intensität. Heftige Tanz-Performances wechseln mit ruhigen Monologen und emotionalen Liedern, Solo-Nummern wechseln mit Gruppenperformances.

Cecilia Bengolea, Marlene Monteiro Freitas: MIMOSA

Während den Solo-Performances laufen immer wieder die anderen Performer über die Bühne oder durchs Publikum, trinken Wasser, schminken sich, ziehen sich um oder applaudieren einander. Diese vermeintlichen Störungen wirken aber eher so, als ob sich die Darsteller gegenseitig [und somit auch dem Publikum] ein Gefühl von Selbstverständlichkeit und Sicherheit bei gleichzeitiger Verunsicherung vermitteln. Überhaupt wirkt das Zusammenspiel der Vier wie ein gemeinsamer Schutzraum. Was vielleicht darauf zurückzuführen ist, dass alle Vier kollektive Arbeitsformen verfolgen. So haben z.B. François Chaignaud und Cecilia Bengolea schon mehrfach zusammengearbeitet und gastierten u.a. beim Image- und bei ImPulsTanz-Festival oder mit “Castor & Pollux” am BRUT in Wien. Zur explizit feministischen bzw. queeren Ausrichtung passt auch, dass François Chaignaud 2009 ein Buch mit dem Titel „L’Affaire Berger-Levrault – les féminismes à l’épreuve“ zur frühen feministischen Bewegung in Frankreich veröffentlicht hat. Marlene Monteiro Freitas ist Mitgründerin der Tanzgruppe COMPASS und Mitglied des Lissabonner Kollektivs BOMBA SUICIDA. Und Trajal Harrell liefert die Klammern, von denen das Stück zusammengehalten wird: die Figur MIMOSA, von der alle Beteiligten behaupten, MIMOSA zu sein, sowie das Format M, das auf die Reihe verweist, deren einzelne Arbeiten nach den Kleidergrößen von XS bis XL benannt sind. Der Vorgänger von M, also „Twenty Looks or Paris is Burning at The Judsons Church [S]“ wurde vom TimeOut-NY Magazine zu den “best dances of 2009” gewählt. Außerdem verweist der Titel auf den semidokumentarischen Film „Paris is Burning“ über die queere DIY-Ball-Szene von New York. Diese inhaltlichen Klammern geben [M]IMOSA eine zusätzliche Tiefe, die Performance an sich hat aber bereits genug eigene Substanz und Heftigkeit, so dass dieses Hintergrundwissen wörtlich lediglich den Background liefert. Aber es verweist auf die hohe Qualität von [M]IMOSA, da das Stück sowohl auf intellektueller als auch auf einer eher körperlich-sinnlichen Ebene funktioniert: die einzelnen Elemente von Gesang, Monolog und Tanz sind heftig genug, um für sich zu stehen, werden durch den hohen inhaltlichen und thematischen Gehalt aber noch verstärkt.

Francois Chaignaud, Trajal Harrell: MIMOSA

Bleibt zu hoffen, dass die Arbeiten L bis XL oder die CREATION von François Chaignaud und Cecilia Bengolea für die Bienale de Lyon 2012 und das Festival d’Automne a Paris 2012, auch hier zu sehen sein werden.

KONZEPT, PERFORMANCE:
Cecilia Bengolea, Paris
Francois Chaignaud, Paris
Marlene Monteiro Freitas, Lissabon
Trajal Harrell, New York

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GOB SQUAD: Simon Will on “Before Your Very Eyes”

Gob Squad’s Before Your Very Eyes combines two of the 2012 Theatertreffen’s “remarkable” aspects: time and collectives. More specifically, this transnational performance collective raises questions about the subjectivity of time… and what a life-time really means.

Time and Collectives: Gob Squad. Photo: Manuel Reinartz

 

Before Your Very Eyes is a performance with seven teenagers who perform their lives in fast forward. In the “safe environment” of a glass house, a voice from above guides them through their lives. It also confronts them with questions and challenges on their way from puberty to mid-life crisis and ’til death do them part. Their journey into the future is linked to the past when the kids are faced with interviews with themselves – recorded when they were two years younger.

The following interview might serve a similar purpose some years from now, as I talked to Simon Will, one of Gob Squad’s seven core members since 1999, about life’s challenges and changes.

Undisguised: Simon Will from Gob Squad. Photo: Adrian Anton

 

Adrian Anton: The very entertaining Gob Squad FAQ pages host interviews and frequently asked questions. In one of the videos there you state that you as performers are not representations of something – but isn’t any public speaking or acting always a representation of something?

Simon Will: It’s a question of how you define “representation”. Of course we are performing aspects of ourselves on a stage or in front of a camera, which is different from the “self” sitting here talking to you. Although in the expanded sense of the word I am still performing: I am performing talking to you, we are performing an interview, and it is somehow artificial. But it’s nice to have that expanded idea of performance happening all the time. I even wonder if it’s accurate or helpful to say that we are representing ourselves up there on stage. Because we aren’t speaking on behalf of ourselves in the sense of: I am a white, gay, middle-aged man. You can take aspects of me and be tempted to say that that what I represent. Of course you can’t be separated from what you are, but actually I’m not speaking on behalf of any one of those attributes. You might have an accordance with what I say or you might not. It’s as simple as that and that’s as far as it goes.”

A.A.: Before Your Very Eyes implicitly asks how, why, and when life turned out wrong. Do you think that everybody comes to a point in life when you ask those questions?

S.W.: When we were making the work we had a lot of discussions and debates about that question. I think that to a smaller or greater degree that’s something that a lot of people can relate to. I wonder, if there was a twenty-year-old me, listening to me now, what would that twenty-year-old me would have to say about that? Because in some ways as a twenty-year-old I was much more of a fundamentalist in some ways: in terms of what I expected from life, what I expected from people, what I expected from the world. Although I still look at the world and see things that are frustrating and that I find unfair, as a teenager the weight of that was immense, and somehow this weight has come off me.

A.A.: Can you name any particular influences for Before Your Very Eyes?

S.W.: One of the big influences or inspirations for Before Your Very Eyes was a film by Charlie Kaufman, Synecdoche, New York. It’s a story about a theatre director living in New York with his family who reaches middle age, starts thinking he’s getting ill, and his whole life falls apart as he’s moving towards death. Some of the opening lines of the show that deal with death actually come from this film. Some think this film’s really devastating, but on some level it is really quite elevating. The first thing the film says is: everybody is disappointed. You carry around this ideal of someone or something and in the end they disappoint. It’s about the question: What was I expecting from life? Hopefully the way those seven kids on stage enact those clichés about how life is supposed to be and those rites of passage works on more levels than just to create a sense of devastation.

A.A.: I believe this device of putting kids on stage makes it easy for people to relate to the play. Another interesting device is this guiding but non-omniscient voice, what was the idea behind that voice?

S.W.: The idea of the voice came through working on the piece. In this work we had to deal with practical things we were not accustomed to at Gob Squad. First of all we’re not accustomed to writing scripts. We normally never work with scripts. Although we often work with a structure or a set of events, we found it very difficult to work with texts. Normally we don’t need scripts in order to give room to developments and we have the freedom to fill the spaces according to our needs.

Martha Balthazar, Spencer Bogaert, Zoë Luca, Faustijn De Ruyck, Gust Hamerlinck, Jeanne Vandekerckhove, Ine Verhaegen. Photo: Phile Deprez

 

But in this case we couldn’t do that because we knew there would be subtitles. That was already a kind of problem for us. So we asked ourselves how we could work around this theatrical device, these subtitles that form a block of text on stage. The solution came by turning it around: usually subtitles tell you what happens on stage. Here it tells the actors on stage what to do. And later the idea of the voice came along.

In the beginning the voice says: “Hi kids! What are you doing? We love to watch you play!” We as adults tend to look at children in quite a voyeuristic way. So much is projection: Children as our future. So much is expectation. We could sit and watch children play all day long and project things on to them. And then we say: “Grow up!

The voice is a sort of authority: it’s us, the directors, but it’s also a voice from within. So the voice functions on different levels and can also be seen as metaphorical. I hope that it possibly speaks on quite a few levels.

A.A.: The biography of Gob Squad stresses challenges due to procreation or funding or personal crisis – aspects that usually remain in the private sphere. The theatre scene especially doesn’t seem to pay too much attention to such influences, and common biographies of directors usually only focus on successes. Why do you pay attention to those private aspects in your work?

S.W.: Maybe, especially in German theatre, there’s still a favoritism towards directors, male directors in particular are treated as geniuses. Like a genius complex. But I often look at theatre and the people who are making theatre and I want to ask: how can I make a connection to you and how you made that piece of work and who you work with and your life and your life within the system that you work in?

What I often wonder is whether people reading our biography  in which we include issues of childcare, funding, and all these struggles  take it seriously or see these challenges as small and trivial.

A.A.: Do you think it’s a political question?

S.W.: I know a lot of people look at us and say we are just light and not political. But I totally disagree: I think that we’re very political with our process, with the way we’re handling things, with this different structure than the hierarchical one that is usually in place, and even the way we distribute money among ourselves, the way we make allowances for people with children, but also for people without children who want to go out instead and so on. And all those things are important and political.

The personal is political.

But in theatre those things only seem to matter when they become a big thing, like if someone becomes ill or dies. Like Sarah Kane. You cannot watch these plays without knowing that she died. You cannot separate those aspects.

A.A.: Sarah Kane’s biography has become a public subject. Do you find it more empowering or sometimes also exhausting to address your personal challenges publicly?

S.W.: Personally I can not really imagine it being in any other way. So I don’t know any alternative. For us it is a process, and sometimes we do get very tired from it. But if I think about what came along with our selection for the Theatertreffen is the remark: “Oh, now you are successful.”

But actually the success is that we’ve been working together since we were like 19 years old. Anyone who has ever worked in any kind of collective or any kind of theatre, whether it is hierarchical or non-hierarchical, knows the struggle to negotiate and to try and find your way or build relationships in any kind of context. If anything should be measured as successful, than it’s that. That more than anything, really.

A.A.: As you mentioned success, back in 2010 your website stated: ‘The group are uncertain whether to be flattered that they now seem to be part of official performance art history, or whether this marks their arrival in the mainstream, and therefore the company’s imminent demise.’ Any comments now that you’ve been invited to the Theatertreffen?

S.W.: Well, I think we’ll survive. What I think is really great is that a whole different audience is going to see the play now. It’s like being in a new fish bowl. Our audience is really important to us and our work. We really think about them while doing our work.

A.A.: Do you think the Theatertreffen is going to influence your work or your view on theatre?

S.W.: We don’t think about theatre very much, because we come from a performing arts background. That’s really liberating, because we don’t really need all this. That was the real challenge making “Before Your Very Eyes”, because we really had to think about theatre. But in the end: who cares if this is really theatre? The question is: did you really get into it? Did it speak to you? It doesn’t matter if it’s theatre or sculpture or any other form it comes in. The ritual of gathering a bunch of people together is about creating something. It’s as simple as that!

 

Veröffentlicht am 18. Mai 2012 auf Theatertreffen-Blog

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POPKULTUR + MASSENMORD: HATE RADIO

Hate Radio“ von Milo Rau und dem International Institute of Political Murder setzt sich mit der Rolle des kigalesischen Radiosenders RTLM während des Genozids in Ruanda im April 1994 auseinander.

Dieser Genozid, also die versuchte Auslöschung der Tutsi-Minderheit durch die Hutu-Mehrheit in Ruanda, ist in seinen Ausmaßen kaum zu erfassen oder zu beschreiben. Im umfangreichen Programmheft, das aus einer Sammlung von Interviews und Essays besteht und zu Beginn an alle Zuschauer verteilt wird, heißt es: „Die Zahl der Opfer konnte nur geschätzt werden: Nach Regierungsangaben starben in 100 Tagen rund 1.174.000 Menschen, 10.000 pro Tag.“ Diese Morde waren von der Regierung legitimiert, wurden aber von einer breiten Masse der Bevölkerung durchgeführt. Die Mörder kannten die Ermordeten meist als Nachbarn oder Familienangehörige. Das wirft Fragen auf: Wie kann es zu einem Genozid kommen? Wer ist dazu fähig?

„Hate Radio“ begegnet dieser Komplexität der Thematik, indem ein Ausschnitt fokussiert wird: Radio-Télévision Libre de Mille Collines, kurz RTLM. Das Konzept von RTLM, oder „Radio Sympa, die Stimme des Volkes“, als das es sich selbst bezeichnete, setzte auf betont lockere Moderatoren und auf ein junges Publikum ausgerichtete Musik. Dazwischen: Denunziationen und rassistische Mordaufrufe. Gewalt wurde hier als Teil eines attraktiven Life-Styles präsentiert und reihte sich ein in positiv-konnotierte Kontexte: Joints und Bier sind cool, die Musik ist cool, Tutsis jagen und töten ist cool. Wer auch cool sein will, kann ganz einfach dazu gehören: kiffen, die Musik von RTLM hören und Tutsis töten. Gewalt und Mord wurden so nicht nur als legitim und vollkommen selbstverständlich gesamtgesellschaftlich etabliert, sondern als attraktiver Life-Style aufgewertet.

„Hate Radio“ versucht diese perfide Logik der rassistischen Gewalt auf die Bühne zu bringen: Der Senderaum von RTLM wurde nachgebaut und aus über fünfzig Interviews und anderen Dokumenten wurde eine Sende-Stunde konstruiert. Diese Sende-Stunde hat es so nie gegeben, sie stellt eine „konzentrierte Verdichtung oder Kondensation“ dar. Milo Rau betont aber, dass alles authentisch „belegt“ ist. Der Begriff der Authentizität spielt in dieser Inszenierung eine bedeutende Rolle: Alles, was gesagt und gezeigt wird, gilt als „belegt“. Selbst die Schauspieler verkörpern im wörtlichen Sinn diese Authentizität, da es sich um Überlende des Genozids handelt.

„Hate Radio“ liefert keine Antworten und einfache Erklärungen, es liefert keine umfassende Analyse oder Lesarten, es lässt vielmehr jeden Zuschauer mit Fragen zurück. Beim Publikumsgespräch im Anschluss an die zweite TT-Vorstellung, geleitet von Tobi Müller, bestand die Möglichkeit, die Darsteller Afazali Dewaele, Sébastien Foucault, Nancy Nkusi, Diogène ‘Atome’ Ntarindwa, Dorcy Rugamba sowie Milo Rau und den Dramaturgen Jens Dietrich nach Hintergründen, Erklärungen oder persönlichen Aspekten zu befragen.

Am Mikrofon: Milo Rau. Publikumsgespräch zu “Hate Radio”. Foto: Nadine Loes

 

Milo Rau betonte hierbei noch einmal den „dokumentarischen Anspruch“ aller Details und dass „Reenactment“ keine Wiederholung der Vergangenheit, sondern die „Wahrhaftigkeit des Akts auf der Bühne“ beschreibt. Die „Macht der Sprache“ verdeutlichte Dramaturg Jens Dietrich an den Parallelen zu NS-Ideologien, die in der RTLM-Propaganda zu einer Täter-Opfer-Verkehrung instrumentalisiert wurden. Die Tutsi-Minderheit wurde mit den Nazis , also einem Feindbild, gleichgesetzt, während die Gewalt der Hutu-Mehrheit mit der französischen Résistance verglichen und somit positiv aufgewertet und legitimiert wurde.

Diogène ‘Atome’ Ntarindwa berichtete von seinen persönlichen Erinnerungen an die Sendungen von RTLM, die perfide Umkehrung von Wortbedeutungen, wo zum Beispiel der Spruch „Geh arbeiten!“ zu einem Synonym von „Geh töten!“ wurde. Er betonte  auch, dass „Die Grausamkeit oft im Nicht-Gesagten“ zu finden ist.

Diogène “Atome” Ntarindwa. Foto: Nadine Loes

 

Die Schilderungen und Antworten der Schauspieler während dieses Publikumsgespräches verdeutlichten noch einmal die Rolle der Authentizität, die durch ihre Zeugenschaft vermittelt wird. Während sie in der Inszenierung die Rolle von Tätern einnehmen, sind ihre Aussagen hier die von Zeugen und Betroffenen. Nancy Nkusi betont hierbei, dass die Darstellung ihrer Rollen sehr viel Kraft und Disziplin erfordert, da sie enorme Emotionen auslösen, die aber in der Darstellung kontrolliert werden müssen. „Es herrscht eine enorme Distanz zwischen mir als Person und der Figur, die ich spiele“ konstatiert sie, was auch alle anderen Darsteller bestätigen. Sie betont außerdem, dass sie „nicht immer wieder auf ihren Opferstatus reduziert werden“ will und dass ein Grund für ihre Mitarbeit an diesem Projekt war, dass sie kein Opfer darstellt.

Nancy Nkusi. Foto: Nadine Loes

 

Für kontroverse Reaktionen sowohl im Publikum als auch auf dem Podium sorgten Einwände (oder eher Vorwürfe), dass die Inszenierung durch den authentischen Gestus aufklärerisch wirke, aber eigentlich anti-aufklärerisch sei. Ein anderer Zuschauer spitzte diesen Vorwurf noch zu und warf der Produktion eine „Verteidigung dieser Ideologie“ vor. Leider entstand hieraus keine konstruktive Diskussion, sondern lediglich eine emotionale Aufgeladenheit aller Beteiligten, so dass Tobi Müller diese Diskussion unterband. Am sachlichsten und konstruktivsten blieben erstaunlicherweise die Darsteller und auch Milo Rau, der klarstellte, dass der Abend keine Analyse leisten wolle, sondern durch Reduzierung Raum für den Betrachter lassen wolle. Das Interesse wäre weder Betroffenheit zu erzeugen, noch eine Leseanleitung zu liefern.

Das Publikumsgespräch habe ich in diesem Zusammenhang als wichtigen Teil der Inszenierung empfunden, da hier der sehr geschlossene und formale Rahmen der Inszenierung erweitert und gebrochen wurde. „Hate Radio“ ist also nicht grundlos die einzige Inszenierung des Theatertreffens, zu der nach jeder Vorstellung ein Publikumsgespräch stattfindet. Daher stimme ich der These, dass „Hate Radio“ die Zuschauer traumatisiere, auch nicht zu. Gerade im Gespräch mit den Beteiligten wurde das Angebot zur aktiven und konstruktiven Verarbeitung der Inszenierung gemacht.

Allerdings denke ich persönlich, dass, entgegen der Aussagen von Milo Rau, ein Projekt wie „Hate Radio“ durchaus mit der Betroffenheit der Zuschauer spielt. Das halte ich auch für geradezu unvermeidlich und höchst legitim. Allerdings sollte dieses Mittel dann auch transparent eingesetzt werden, ohne es mit Begriffen wie Authentizität oder Reenactment zu verdecken. Zumal gerade zu Beginn der Inszenierung offensichtlich Betroffenheit und Emotionalität erzeugt werden soll: Bevor die Radio-Sendung performt wird, werden in Video-Einspielungen Augenzeugenberichte von überlebenden Opfern des Genozids, die unvorstellbaren Grausamkeiten auf sehr erschütternde und persönliche Weise vorgetragen. Allerdings wird auch hier nicht auf Bilder oder Gesten, sondern einzig auf die Kraft und Macht der Worte gesetzt.  Diese Macht der Worte beschwört „Hate Radio“ geradezu unheimlich eindringlich und verweist darüber hinaus darauf, dass Menschen unter bestimmten Umständen zu unvorstellbaren und unbeschreiblichen Grausamkeiten fähig sind, die sich allen Worten und Versuchen der Beschreibung oder Darstellung entziehen.

Afazali Dewaele. Foto: Nadine Loes

 

Veröffentlicht am 18. Mai 2012 auf Theatertreffen-Blog

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VINGE IST VISCONTI: “John Gabriel Borkman” im Prater der Volksbühne

John Gabriel Borkman“, inszeniert von Vegard Vinge/Ida Müller und ihren Lieben, dürfte die wohl meist diskutierte Nominierung des diesjährigen Theatertreffens sein.

Hinkel als Graf Zahl... 598, 599... Foto: Nadine Loes

Selbst eher theaterferne Menschen wissen bereits, was sie in diesem Stück erwartet: der Regisseur pinkelt sich in den Mund, scheißt Farbe auf Bilder, bedroht das Publikum. Das stimmt auch alles, aber das ist nicht das, was diese Inszenierung eigentlich auszeichnet: Sie ist ein Gesamtkunstwerk voller Emotionen, Energie, Poesie und Musik.

Zu Beginn der gestrigen Vorstellung verkündete Vegard Vinge (unter anderem): „Ich bin Visconti!“, während er zur Musik von „Tod in Venedig“ seinen mit einem Gesicht bemalten Penis in die Kamera hielt. Klingt pubertär, war aber tatsächlich ein sehr poetisch-melancholischer Moment. Solche eher stillen Momente wechselten in den folgenden fast 12 Stunden mit Momenten zermürbender Langeweile oder Wiederholungen, aber auch mit unglaublich energievollen Ausbrüchen. Der Rhythmus dieser Wechsel wirkt sehr musikalisch, und Vinge sprach an einer Stelle von einer „Partitur“, was ich für eine sehr treffende Bezeichnung halte.

Musikalität zieht sich durch die gesamten 12 Stunden. Die musikalische Bandbreite reicht von skurrilen eigenen Liedern über Opernmusik bis zu Dance. Aber auch der Umgang mit Sprache ist höchst musikalisch: das endlose Zählen des Advokaten Hinkel (heute kam er bis 600), die Wiederholungsschleife der Wehklagen der Mutter, oder die kindlich-schaurig verzerrte Stimme von Vinge selbst, der mit Regieanweisungen und größtenteils improvisierten Monologen bzw. Beschimpfungen durch den Abend leitet wie ein sadistischer Conférencier.

Die Inszenierung wirkt apokalyptisch und beinahe surreal, was vor allem darauf zurückzuführen ist, dass sämtliche Darsteller bis hin zu den Technikern Masken tragen – und sich in einem überwältigenden Bühnenbild bewegen. Ida Müller hat den gesamten Prater in ein Geisterbahn-ähnliches Szenario aus Pappe verwandelt.

Masken, Bühnenbild, Requisiten, die Spielart der Schauspieler: alles suggeriert offensive Künstlichkeit, zum Beispiel, wenn das Kind aus einer zweidimensionalen Pappattrappe Cola trinkt. Diese Künstlichkeit steht im krassen Kontrast zu den vermeintlichen Schockmomenten der Inszenierung: Gewalt, Fäkalien, Nacktheit. Aber gerade diese „Schockmomente“ verdeutlichen, dass hier tatsächlich etwas physisch-reales passiert. Wenn Vinge sich in den Mund pinkelt oder anal Farbe einführt oder mit bloßen Händen das Bühnenbild zerlegt, spürt jeder Zuschauer, dass hier jemand steht, der nicht nur spielen will, sondern der nichts und niemanden schont, schon gar nicht sich selbst. Bei der heutigen Vorstellung hat sich Vinge beim Zerschlagen einer Wand auch eine Hand verletzt, so dass er in den letzten paar Stunden kaum bzw. gar nicht mehr präsent war.

Der Abend endete daher bereits um 3:30 Uhr. Früh für Vinge, sehr spät für die meisten Zuschauer. Hier ein paar getwitterte Bemerkungen aus der Nacht:

tt_blog12: Selten jemanden so poetisch seinen Penis in die Kamera halten gesehen #borkman #tt12

tt_blog12: Danse macabre: Vinge lässt die Toten tanzen

tt_blog12: Vinge sucht Sammler für beschissene Bilder

Nachrichtvonmir: Borkman seit Stunde 8 nur Variationen auf das bekannte Thema. Ich gebe mich geschlagen. Gute Nacht!

tt_blog12: Vinge hatte versprochen: Heute gibt es keine verletzten Zuschauer. Alle um mich rum wirken aber sehr zerstört

tt_blog12: Niemand verletzt – außer Vinge. Früher Feierabend um 3:36 Uhr.

Der Prater als Gesamtkunstwerk von Vinge/Müller. Foto: Nadine Loes

 

Veröffentlicht am 14. Mai 2012 auf Theatertreffen-Blog

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