Axonas ist ein Zettelkasten, der Notizen, Exzerpte und Zitate aufbewahrt. Weder stellen die Notizen meine abschließenden Gedanken dar noch drücken die gesammelten Exzerpte und Zitate unbedingt meine Meinung aus.

Als öffentlich begehbarer Buchstabengarten ist dieser Zettelkasten zugleich Bestandteil eines Austauschs an Gedanken und Ideen, den ich mit einigen Menschen pflege. Er ist ein Hilfsmittel im Wechselspiel von Rede und Widerrede und den Nutzen und die Grenzen eines solchen Buchstabengartens hat Sokrates in Platons Phaedros treffend beschrieben.

Wolf Dieter Storls "Zeitenwende"

Meine Göttin ;-), was geht mir der in weiten Teilen der esoterischen, „spirituellen“ und naturreligiösen Szene verbreitete Hang zur kommenden kosmischen Erlösung auf die Nerven.

„Ja der Wendepunkt ist überschritten, das Pendel schwingt schon in die andere Richtung. Vorbei ist es mit dem kruden Materialismus und simplen Rationalismus. Es kommt die von den Traumtänzern des New Age als »Wassermannzeitalter« bejubelte Zeit der mystischen Schau, der Götternähe; zugleich aber nimmt auch die Zauberei, die magische Manipulierung durch heimliche, verschworene Mächte zu. Fernab vom Auge der Öffentlichkeit bemächtigt sich ein zunehmender Okkultismus der Politik und der Wirtschaft. Filme wie Harry Potter, Matrix oder Herr der Ringe deuten vage an, was sich im Hintergrund bewegt.“
(Wolf Dieter Storl: „Naturrituale – Mit schamanischen Ritualen zu den eigenen Wurzeln finden“; Baden und München 2004; S. 24)


Das Kapitel aus dem Buch "Naturrituale" ist mit „Zeitenwende“ überschrieben.

Wie oft höre ich solche Sätze über den „kommenden Umbruch“, das Auslaufen des „Maya-Kalender“, das neue Zeitalter etc. Gerne auch garniert mit apokalyptischen Gedanken: Ich habe einen hochreflektierten Freund, der mir jedes Jahr aufs Neue Gründe liefert, was Anzeichen für die kommende große Krise ist. Mal ist es der Börsencrash, mal y2k, mal der Anschlag auf das WTC, mal die Wirtschaftskrise und die Umstrukturierung der Sozialsysteme in Deutschland. Jetzt wird es die Flut in Südostasien sein.

Irgendwie hat man das Gefühl, dass die 68er und ihr Gefolge das Nichteintreffen des Sozialismus mit menschlichen Anlitz nie überwunden haben. Also müssen andere Naherwartungen her. Jeweils mit wechselnden Versionen des Jüngsten Gerichts.
Kann man dann damit rechnen, dass - je länger die Erfüllung der Naherwartung ausbleibt - die Konzeptionen des kommenden Reich Gottes umso abstrakter und metaphysischer werden? Bis es dann irgendwann rückwirkend heisst: Seit diesem oder jenem Zeitpunkt, hat sie schon längst begonnen, die Erlösung der Menschheit. Du musst dich nur dem neuen Lebenstil öffnen etc etc.

Als ich den alarmierenden Bericht des „Club of Rome“ gelesen hatte, zeichnete sich schon ab, dass er so sich nicht bewahrheiten würde. Anfang der 80er hieß es dann, die atomare Vernichtung stünde kurz bevor. Es folgte die „nahe“ Selbstzerstörung des Menschen durch seine vielen Umweltsauereien. Wie lange warten sie denn jetzt schon auf die kommende Kulturrevolution: Seit 1830? Seit 1900? Seit 1914?

Ich sehe keine "spirituelle Zeitenwende" - was immer das heißen soll. Unsere Kultur verändert sich permanent in verschiedensten Bereichen. Manchmal langsam und stetig, manchmal eruptiv. Esoterik ist gerade in Mode bzw. eine Modewelle, die schon wieder am abklingen ist: der Zenith scheint mir überschritten. Starke Bindungen an die Kirchen lösten sich zwar, das Mainstream-Christentum geriet in die Defensive. Ich vermute, dass es schon längst dabei ist sich zu erholen: Christ sein wird wieder in. (Passenderweise ist dies der ZEIT in ihrer Weihnachtsausgabe ein Leitartikel wert.)

Aber vor allen Dingen setzt eine "Zeitenwende" etwas Neues voraus. Unsere heutige moderne Kultur ist aber in ihren Grundfesten durch das Okkulte geprägt. Es gibt keine „Wende“ zum Okkulten, weil das Okkulte Bestandteil und Voraussetzung jenes Phänomens ist, das Symbol, Ideologie und Wegmarke der westlichen Zivilisation ist: Die Aufklärung ist partiell ein okkultes Phänomen. An der Genese der modernen Naturwissenschaften haben die okkulten Strömungen des 15. / 16. / 17. und 18. Jahrhunderts einen nicht zu unterschätzenden Anteil. Pythagoras, Newton, Galilei… Kopernikus? Giodarno Bruno. Das Revival vorchristlicher Religionen ab der Renaissance hat einen Bezug zur Entstehung moderner Staatsformen. Der okkulte Anteil des deutschen Idealismus und der deutschen Klassik. Und so weiter.

Zu Storl: Das soll kein Fazit über sein neues Buch sein. Wie das Buch sonst ist, weiß ich noch nicht...
jensscholz - Sa, Jan 01, 2005

Ich gehe davon aus, daß es fest im Menschen verankert ist, die eigene Endlichkeit seines Lebens mit dem Ende der Welt zu verwechseln. Es gibt ja in nahezu jeder Epoche völlig unabhängig vom Grad einer irgendwie gearteten "Aufgeklärtheit" die der jeweiligen Kultur entsprechenden Endszenarien. Daß diese bei und inzwischen in die Richtung wirtschaftlichen Zusammenbruchs geht ist da schon so dermaßen zeitgeistgesteuert, daß es kracht.
Julio Lambing - So, Jan 02, 2005

Interessant, jede Generation oder jede Epoche hat also ihre eigene chiliastische oder apokalyptische Erwartung. Etwas vereinfacht als Idealtypus:
Generation: Wäre das gekoppelt an ein bestimmtes Alter? Also die 68er den Sozialismus, die 78er das nuklear versuchte Europa? ;-)
Epoche: An dieser Zeitenscheide verblasst die alte Vision der sozialistsichen Räterepublik, jetzt kommt das 3. Reich?
Ist grob vereinfacht, aber ich suche noch nach Beispielen...
jensscholz - Mo, Jan 03, 2005

vielleicht gibt es mehrere Stellen. Natürlich zum Einen die Pubertät, in der die Rebellion gegen bestehende Verhältnisse zwischen Allmachtsphantasien und dem Gefühl völliger Resignation dazu führt, daß man solche Endzeitszenarien entwickelt.
Andererseits tauchte die überzeugendste Enzeitvision in meinem eigenen Umfeld erst später auf, nach der Schule und bevor das "echte Leben" begonnen hat. Eventuell hat das mit dem Moment zu tun, an dem man die Schwelle zu dem Zustand überschreitet, der einen die kommenden 50 Jahre beschäftigt.
Der Beginn des Lebens in der Matrix ist vielleicht nur akzeptierbar in der Annahme, daß es schneller vorbei ist.
albannikolaiherbst - Mo, Jan 03, 2005

Wenn ich mich einmal einmischen darf.

Seit längerem beschäftigt mich dieser Themenkomplex poetisch. Ich habe zum Bespiel h i e r darüber publiziert. Die prinzipielle Undurchschaubarkeit der hochtechnologisierten Welt (Quantität bekommt einen qualitativen Charakter) kann jener der mythischen durchaus parallelgedacht werden, es herrscht Stärkeres als nur eine lockere Analogie. Theoretisches dazu auch h i e r.
Julio Lambing - Di, Jan 04, 2005

Gerne, aber...

jetzt artet es in Arbeit aus... ;-) Einige der Ansätze in den beiden Texten finde ich recht interessant, es dauert aber, bis ich sie durchdacht habe. Vielleicht ist Kollege Scholz ja schneller. Vielen Dank für die Anregung!

Trackback URL:
http://axonas.twoday.net/stories/456776/modTrackback

Praxis der Aphrodisia

Spiegel

Herzlich willkommen. Sie sind nicht angemeldet. Sie können dennoch einen Kommentar abgeben.

Die Startseite finden Sie hier.


Kontakt und RSS

Sie erreichen mich über diese Emailadresse.


Creative Commons License

kostenloser Counter


Neue Feeds!

Zeigt den Feed an.


Translation Google:

See this page in English Voir cette page en francais