Kurt Drawert VON ANFANG AN (Emerson, Lake & Palmer)
Als ich im Herbst 1967 in eine neue Schule kam, war das erste, das ich von den Mitschülern gefragt wurde: „Beatles oder Stones?!“ Ich erinnere mich, dass ich noch gar nicht meine Jacke ausgezogen und meinen Platz gefunden hatte, als diese Frage, scharf wie die Klinge eines Messers, wenn es einem am Hals sitzt, von mehreren Seiten gleichzeitig an meine Ohren drang: „Beatles oder Stones?!“ Meine Antwort würde ein Bekenntnis sein und eine Zugehörigkeit bedeuten für die nächsten mindestens drei Jahre, soviel war mir augenblicklich klar. Aber wem würde ich mit welcher Entscheidung zugehören? Ich blickte ratlos um mich und sah ein paar hochaufgeschossene, übel verpickelte Jungs, die grinsend zu mir herabsahen wie auf ein Wild, das ihnen gleich in die Falle gehen würde. „Beatles oder Stones?!“ - für mich gleichbedeutend mit Pest oder Cholera. „Ich bin Small-Faces-Fan“, konterte ich schließlich, um Zeit zu gewinnen und herauszubekommen, zu welcher Fraktion diese Kerle mit den scheußlichen Gesichtern gehörten, die mir so unendlich viel Angst einjagten. „Sieh an, ein Facer!“, sagte der Älteste unter ihnen, den sie Micki nannten. „Hier herrschen die Stones und niemand sonst, klar?!“ – „Klar“, sagte ich. Das also war meine erste „Fanzeit“, etwas gewaltsam herausgefordert von einer Schulgang und nicht wirklich meinem Geschmack entsprechend, aber immerhin: ich war „zugehörig“ und konnte verbergen, dass ich ein Einzelgänger war und am liebsten allein.
Anders und um vieles selbstbestimmter war meine zweite „Fanzeit“ knappe zehn Jahre später. Ich war unterdessen Arbeiter in einer Fabrik, ein wenig abgekommen vom üblichen Karriereweg, für den Kompromisse notwendig waren, die ich nicht eingehen konnte, dann aber wie ausgesondert und weggeworfen in einer Bestimmtheit, die nicht vorhersehbar war, für mich nicht und für meine Freunde nicht, denen es ähnlich erging, in unserer Dresdener Hof-, Boden- und Kellerwelt, in die wir uns zurückgezogen und eingenistet hatten wie die Ratten in den morschen Winkeln zwischen den Tonnen, auf der Rückseite einer nach Fleischabfall stinkenden Kneipe, in der ich hin und wieder Töpfe abwusch für eine Mark zweiunddreißig die Stunde. Wir hießen alle nach unseren Vorbildern in der Popmusik, Morrison oder Mayall, Clapton oder Santana, bis eines Tages Emerson bei uns auftauchte, ein schweigsamer, etwas untersetzter Junge mit langen, buschigen Haaren, einer eigenen Elektrogitarre und einer Sammlung von Tonbandaufnahmen, wie sie keiner sonst von uns hatte. „Emerson. Ich bin Emerson“, sagte er, als hätten wir sofort Bescheid zu wissen. Dann verabredeten wir uns in einem unserer Keller, und Emerson spielte uns die ganze Nacht, in der wir uns wie immer unsere psychedelischen Cocktails mischten - für Kenner des Ostens: Faustan zerrieben und mit Kartoffelstärke gemischt auf gekühlten Rotwein oder Wodka getrunken -, seine Aufnahmen vor. Emerson, Lake & Palmer, Tarkus, Trilogy, Pictures at an Exhibition, annähernd alles, was von dieser Gruppe bis Mitte der 1970er Jahre zu hören war.
Ich war von dem viele Musikstile wie Jazz, Blues, Pop, Klassik und klassische Moderne vermischenden Sound dermaßen fasziniert, dass ich sofort bei meinen Freunden einen Antrag auf Namensübernahme stellte. Keith Emerson, der die Hammond-Orgel und den legendär gewordenen Synthesizer wie vor ihm niemand beherrschte, war bereits an jenen neuen Freund vergeben, dem wir diese musikalische Entdeckung verdankten. Wieder und wieder spielten wir Lucky Man und erwarteten die gedehnten Synthesizer-Akkorde am Ende des Titels wie Süchtige den Rausch ihrer Dosis. Aber Greg Lake, dessen wie Glocken so klare, helle Stimme, die ich schon von King Crimson her kannte, wo er bis zur Gründung von ELP 1970 spielte und sang, war gewiss noch zu bekommen. Einen Cocktail darauf, und schon war ich Lake. Danach ging der Schlagzeuger Carl Palmer weg wie heiße Semmeln, und schon waren die drei Namen vergeben. Wir hörten alles und unablässig und eine Zeit lang nichts anderes sonst. Ein anderer Freund, der seine Ohren von so etwas Entlegenem wie Deep Purple nicht lassen konnte, wurde ausgegrenzt wie uns der Staat ausgegrenzt hatte, so oder so ähnlich und in dieser Reihenfolge. Wir waren da rigoros. Keine Kompromisse, keine Zugeständnisse. Auch Nice, die Gruppe, der Keith Emerson bis zur Gründung von ELP angehörte, ging nicht durch, und ganz und gar unmöglich war Pink Floyd, die vielleicht größte Konkurrenz zu unserer Band, da sie einen mindestens ebenso großen elektronischen Aufwand betrieb und nicht weniger populär war. Pink Floyd war ganz klar Hochverrat und wurde mit standrechtlicher Verachtung geahndet. Und es war nicht nur die Musik von Emerson, Lake & Palmer, für die es nichts Besseres gab. Auch die Texte, die wir uns gegenseitig abschrieben und übersetzten und auswendig lernten, trafen ins Herz unseres Lebens-, oder besser, unseres Sterbensgefühls. Das am Ende von The great gates of Kiev in hoher Stimmlage herausgeschrieene Death is life hätte niemand von uns besser, kürzer und klarer ausdrücken können. So waren wir und unsere Umstände und unsere Vorlieben für Musik und Literatur, verweigerungsbegabt, noch ehe einer auch nur einen halben Fuß in die falsche Tür setzen konnte, bis zum Finale.
Wie lange ist das jetzt her? Ich weiß es nicht. Jahreszahlen können es nicht belegen. Manchmal höre ich noch ELP, wenn ich lange Fahrtstrecken mit dem Auto vor mir habe, und dann am liebsten Works I und II. Es ist dann mehr die Lust an der Erinnerung, die mich drängt, diese Musik zu hören und mich zu erinnern, wie es war, als alles noch in seinem Anfang lag. You see its all clear/ You were meant to be here / From the beginning.
Emerson, Lake & Palmer war die Musik meiner Jugend oder eines Teils dieser Jugend, die schön zu nennen mir auch heute nicht einmal im Traum einfallen könnte. Vielmehr war sie der passende Hintergrund zu einem Gefühl, das mit und in ihr aufgehen konnte und so zu seinem Ausdruck fand. Wenn ich jetzt am liebsten Barock-Opern höre, Monteverdi oder Rameau, Donizetti und besonders gern Händel, dann mögen vielleicht ELP und deren Adaptionen von Bach oder Bartók, Chopin, Grieg oder Mussorgsky einen Weg gewiesen haben, den ich anders nicht gefunden hätte. Und wieder geht es mir bei Händels Ombra mai fu wie damals bei From the beginning: So und nicht anders möchte ich schreiben.
Kurt Drawert, geboren 1956 in Henningsdorf/Brandenburg, Autor von Lyrik, Prosa, Dramatik und Essays, lebt in Darmstadt. Zuletzt: Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte. Roman (2008).
Beatlemania!

1. Auflage 2010, ca. 140 Seiten, mit über 100 Fotos, Dokumenten u. Faksimiles
ISBN: 978-3-7844-3221-2
19,95 EUR D / 20,60 EUR A / 34,50 CHF (UVP)
LangenMüller
Als sie noch live auftraten, wurden sie von ihren Fans in einem Maße verehrt, wie es keiner anderen Popgruppe je zuteil wurde. Der Kult um die vier Jungs aus Liverpool hält bis heute ununterbrochen an. Die Beatles haben die Musik revolutioniert und die Menschen begeistert. Die Beatles und ihre Fans – das ist ein seit damals andauerndes Liebesverhältnis, fast schon eine Weltanschauung. In diesem aufwändig und liebevoll gestalteten Album wird diese besondere Beziehung dokumentiert – mit vielen raren, zum Teil unveröffentlichten Fotos und Texten. Ein Buch von Fans für Fans.
Mit Texten von Horst Fascher, Lisa Fitz, Chuck Hermann, Jürgen Herrmann, Chris Howland, Klaus Kreuzeder, Gabriele Krone-Schmalz, Uschi Nerke, Abi Ofarim, Brian Parrish, Helmut Schmidt, Manfred Sexauer, Tony Sheridan, Pete York uvm.
Fotos von Bubi Heilemann, Werner Kohn, Ulrich Handl, Rainer Schwanke, Frank Seltier, Günter Zint u.a.