Barbara Bongartz: Gottes Schwanz (Amon Düül)
Im Großen und Ganzen ist die Erinnerung falsch.
Truman Capote
Hanne machte mir die Haare. Der Windfang ging auf. Maurus und Magnus stürzten rein. Wie immer hatten sie Hunger. Nicht nur die Kinder machten den Eindruck, als sei nie genug zu essen da.
„Ich wollte immer Haare machen, schon als Mädchen.“, sagte Hanne. Wieder ging die Tür des Windfangs auf. Falk. Was er wollte, wusste er selbst nicht. Er war Musiker, wie mehr oder weniger alle hier. Früher hatte er auch Plattencover gemacht. Manchmal photographierte er schöne Mädchen. Genau in dem Augenblick, als Hanne meine Mähne auf Lockenwickler drehte, brach meine Welt in zwei Stücke, die Gegenwart eine klaffende Lücke zwischen Gestern und Morgen, in die ich fiel. Wieder ging die Tür auf. Dieses Mal war es Renate.
„Was macht ihr denn da?“
„Wir machen Haare, Krötenschwanz.“
Kaum später drangen psychedelische Klänge aus dem Wohnraum, so laut, dass die Scheiben des alten Kastens vibrierten.
„Renate, mach leiser, die Alte von oben setzt uns sonst wieder zu.“
Die Alte von oben war die Vermieterin. Renate reagierte nicht. Sie hörte nicht, was Hanne schrie. Die Musik war zu laut.
„Das hab ich schon mal bei Karl gehört. Was ist das?“
„Ihre Gruppe. Amon Düül II. Sie hört sich selbst. Sie war die Leadsängerin. Das ist Phallus Dei. Ist Latein. Ihr Durchbruch. Kennst du das etwa nicht?“
„Phallus Dei heißt Gottes Schwanz und nicht Ihr Durchbruch. Von wann ist die Scheibe?“
„Ende der Sechziger.“
Die hat Nerven, dachte ich. Ende der Sechziger war ich zehn. Da hörte ich abends Uncle Satchmo’s Lullaby und putzte mir die Zähne mit Himbeerzahnpasta. Die olle Villa war im Begriff, vom Boden abzuheben und über Nymphenburg hinweg den Mond anzupeilen. Verrockte Sphärengeräusche, dazwischen hohe Stimmen wie zugedröhnt, der Text, soweit verständlich, ein Gemisch aus bayrischem Deutsch und englischem Kauderwelsch. Hanne ließ von den Lockenwicklern ab und ging hinüber in das hochherrschaftliche Zimmer, in dem die Dame des Hauses hundert Jahre früher wahrscheinlich ihre Empfänge abgehalten hatte. Ich folgte ihr. Renate saß auf dem blank polierten Parkett und tat so, als würde sie singen. Aus voller Kehle. Stumm. Offen der Mund, die Augen zu. Ihre Arme wiegten sich dem All entgegen. Hanne stellte die Musik ab. Der Windfang klappte. Karl stand im Zimmer. Er sah mich, brach in Gelächter aus.
„Was macht ihr hier?“
„Wir machen Haare. Und Krötenschwanz tut wieder so, als ob sie singen würde und macht auf stumm. Sing laut, Krötenschwanz.“
„Mach die Musi wieder an.“
„Du sollst selber singen und nicht dauernd hören, wie du mal gesungen hast. Und dann so laut. Wir sind mit der Miete im Rückstand.“
Sie setzte ihrer Schwester die Kopfhörer auf. Renate sang mit stummer Stimme weiter.
„Wie lang dauert das noch mit Barbaras Haaren? Kannst du meine danach schneiden?“
Karl war Ende zwanzig, hatte aber kaum noch welche auf dem Kopf. Ich hätte es scharf gefunden, wenn er sich den Schädel kahl rasiert hätte. Aber damals war das noch nicht Mode. Wir hatten uns in einem kleinen Theater kennen gelernt. Er spielte irgendeinen russischen Großfürsten (oder vielleicht auch dessen Attentäter), und ich soufflierte. Nach einer Probe fragte er mich, ob ich das immer machen würde.
„Natürlich nicht“, sagte ich, „ich brauche Geld. Ich studiere Theaterwissenschaft. Aber eigentlich will ich Schriftstellerin werden.“
Wir gingen etwas trinken und landeten danach bei ihm. Ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft, voll gestopft mit Platten und unausgepackten Kartons. Ich glaube, er war der erste, der meinen Plan, schreiben zu wollen, nicht absurd fand. Jedenfalls interpretierte ich das so. Er stellte mir diese Kiste hin und faselte von einem irren Manuskript, das sich darin befinden würde. Dann legte er eine Platte auf, die den Raum in einen eintönigen Rhythmus hüllte, synthetisch der Klang, fast trotzig der Refrain: "Wolf City". Die Vocals hörten sich an wie von meiner nach New York ausgewanderten Tante Hilde intoniert.
„Was ist das“, rief ich Karl hinterher, der in der Küche verschwunden war, und steckte meine Nase in die Kiste. Die Vorstellung eines echten Manuskripts, wer immer es verfasst hatte, übte eine magische Kraft auf mich aus. Ich fühlte mich auserwählt, den Göttern nah, oder zumindest denen, die so ähnlich sein mussten, um den Mut zu haben, einige hundert mit der Maschine geschriebene Seiten mit dem Vermerk Roman darauf zu verfassen. Der Geburtsort der Schwarte war L.A. Der Autor kam schnell auf den Punkt. Nachdem er die Szenerie - Bel Air - kurz eingeführt hatte, beschrieb er die sommerliche Hitze, in der ein unglaubliches Massaker geschah. Karl kam mit einer Flasche Rotwein und zwei Gläsern zurück.
„Was um Himmels willen ist das?“
„Es geht um die Morde der Manson-Family. Erinnerst du dich nicht?“
„Wann war das?“
„Ende der Sechziger … der Mord an Sharon Tate …“
Während Karl durch den Refrain von Wolf City hindurch von dem Mord an der schwangeren Ehefrau Roman Polanskis erzählte, die einfach hingerichtet worden war, weil ein Irrer meinte, Helter Skelter von den Beatles als psychedelische Botschaft interpretieren zu müssen, überkam mich das scheußliche Gefühl, dass ich nie eine Schriftstellerin werden würde, da es mir immer noch nicht gelungen war, meine guten Manieren abzulegen, ich immer noch ein schlechtes Gewissen hatte, wenn ich nach drei Tagen bei einem Typen im Bett landete, und keine Leute kannte, die andere umgebracht hatten.
„Karl, du kannst schon mal deine Haare waschen. Ich bin gleich mit Barbara fertig.“
„Warum singt Renate nicht?“
„Sie sagt, sie kann nicht. Hat angeblich keine Stimme mehr. Stimmt aber nicht. Sie singt wundervoll. Sie hat einen Knall.“
Alle in dem Haus hatten einen Knall. Deswegen kam ich her. Deswegen hatte ich mich in Karl verliebt. Gegen mein Elternhaus, dessen bürgerliche Fassade gerade im Bröseln begriffen war durch die Intervention einer Geliebten meines Vaters, nahm sich diese Familie wie ein Chaotenhaufen aus. Eigentlich war es keine Familie. Es war "Wolf City" oder, wenn man so will, "Phallus Dei". Es war eine Sammelstelle mit Heiligenschein. Leute pilgerten her und verflüchtigten sich wieder. Die Knaups standen im Zentrum des Sturmauges, um das der Wirbel tobte. Die Villa war die Herberge irrer Gestalten. Es gab keine Manieren, keine Regeln, kein Geld und jede Menge bizarrer Ideen und Tätigkeiten, mit denen man versuchte, sich über Wasser zu halten. Zum Beispiel, indem man Freunden und Geschwistern, die auch kein Geld hatten, die Haare machte. Und irgendwie hatten sie’s alle mit der Musik. Nur ich träumte vom Schreiben und davon, dünner zu sein und so schön wie Renate Krötenschwanz.
Das war nicht das München, in das meine Eltern mich gern hatten ziehen lassen. Das waren die Jagdgründe des Ratten- & Schmeißfliegenfängers Strauß, der damals das Bayrische Land regierte, und die Knaups, die ausgerechnet aus dem Kaff stammten, in dem der fette Landesvater seine Sonthofener Strategie zum besten gab, waren im wahren Wortsinn seine Zielgruppe. Allerdings gerieten sie ihm immer wieder aus dem Visier, frei nach dem Motto, dass bewegliche Ziele schwerer zu treffen sind.
Hanne setzte mir die Trockenhaube auf. Ich sah aus, als nähme ich teil an der Mond-Expedition, zu der die mit den psychedelischen Klängen angefüllte Villa jederzeit aufbrechen konnte. Ich räumte meinen Platz für Karl und setzte mich zu der stummen Sängerin ins Zimmer, wo sie nun schalldicht abgeschlossen war von jedem Außen, wenn auch "Phallus Dei" in ihren Ohren wohl anders klang als in meinen das Gebläse. So bekamen wir beide nicht mit, dass Herbert angekommen war. Erst als er zusammen mit Karl, Hanne und Falk im Zimmer stand, eine Flasche Sekt in der Hand, kamen Renate und ich zurück auf die Welt mit alltäglicher Tonspur. Das improvisierte Fest zu Herberts Basler Engagement verlief sich wie alles im Haus und seinen Sphären. Wie meine Verliebtheit in Karl. Zu meiner großen Verblüffung entdeckte ich neulich, dass Renate wieder singt.
Barbara Bongartz, geboren 1957 in Köln. Autorin von Romanen und Erzählungen. Lebt in Berlin. Zuletzt: Perlensamt (2009). www.barbarabongartz.de
Beatlemania!

1. Auflage 2010, ca. 140 Seiten, mit über 100 Fotos, Dokumenten u. Faksimiles
ISBN: 978-3-7844-3221-2
19,95 EUR D / 20,60 EUR A / 34,50 CHF (UVP)
LangenMüller
Als sie noch live auftraten, wurden sie von ihren Fans in einem Maße verehrt, wie es keiner anderen Popgruppe je zuteil wurde. Der Kult um die vier Jungs aus Liverpool hält bis heute ununterbrochen an. Die Beatles haben die Musik revolutioniert und die Menschen begeistert. Die Beatles und ihre Fans – das ist ein seit damals andauerndes Liebesverhältnis, fast schon eine Weltanschauung. In diesem aufwändig und liebevoll gestalteten Album wird diese besondere Beziehung dokumentiert – mit vielen raren, zum Teil unveröffentlichten Fotos und Texten. Ein Buch von Fans für Fans.
Mit Texten von Horst Fascher, Lisa Fitz, Chuck Hermann, Jürgen Herrmann, Chris Howland, Klaus Kreuzeder, Gabriele Krone-Schmalz, Uschi Nerke, Abi Ofarim, Brian Parrish, Helmut Schmidt, Manfred Sexauer, Tony Sheridan, Pete York uvm.
Fotos von Bubi Heilemann, Werner Kohn, Ulrich Handl, Rainer Schwanke, Frank Seltier, Günter Zint u.a.