Georg Meier: Beck-Ola
Zu Ingos schlechten Eigenschaften gehörte die ständige Überschätzung seiner Möglichkeiten, was ihn hin und wieder in unangenehme Situationen brachte – und da ich sein Kumpel war, durfte ich einige Scheißerlebnisse mit ihm teilen. Zum Beispiel jenes im November 1969: Das Wetter war, wie es sich für einen anständigen November gehört, unter aller Sau. Kalter Wind durchkämmte jede Straße, unglaubliche Wassermengen fielen aus grauem Gewölk, und an den Schuhsohlen klebte mit Hundescheiße vermischtes Laub.
„Jetzt wird diese Gegend wieder für Monate unbewohnbar“, seufzte ich, apathisch auf den Berg dreckigen Geschirrs glotzend.
„Und diese Wohngemeinschaft besteht, von uns beiden abgesehen, nur aus verbissenen Strebern“, sagte Ingo, ebenfalls seufzend. „Wir gehören gar nicht richtig dazu, weil wir weder Studenten noch Lohnsklaven sind, und weil diese pseudolinken Wichser, die noch immer von ihren Alten die Kohle in den Arsch geschoben kriegen, genauso elitär denken wie die Bourgeoisie, der sie entstammen.“
„Das ist zwar richtig“, räumte ich ein, „aber wir sollten zu ihren Gunsten berücksichtigen, dass sie uns seit zwei Wochen hier essen und pennen lassen, obwohl wir bisher keinen Pfennig in die Haushaltskasse gelegt haben.“
„Wenn wir Geld hätten, würden wir es auch in die Kasse legen. Das weißt du genau!“ Ingo regte sich jetzt richtig auf. Mir stand momentan nicht der Sinn nach einer Idiotendiskussion, deshalb erwähnte ich den Gedanken, der mir seit Stunden durch den Kopf ging: „Wir spülen jetzt das ganze Scheißgeschirr, dann packen wir unsere Sachen und hauen ab nach Süden.“
„Dufte Idee“, sagte Ingo. „Dann brauchen wir nur noch ein paar Scheine und ein Stück Shit.“ Er habe einem Dealer vor drei Wochen einen Hunderter geliehen. Den werde er sich jetzt nebst einem Stück Haschisch und vielleicht noch zwei Trips holen, dann könnten wir sofort die Straßenbahn zur Autobahnauffahrt hinter den Elbbrücken nehmen.
Wir sparten uns das mit dem Geschirrspülen. Eine halbe Stunde später in Wandsbek ließ uns der Dealer, den ich flüchtig kannte, widerwillig in seine Wohnung. Dufte Wohnung: keine Schränke, keine Tische, nur Matratzen, Obstkisten und eine gewaltige Stereoanlage – alles in Lila. Wir rauchten ein Chillum, während die LP Beck-Ola von Jeff Beck lief. Es gab Jasmintee und Kekse, und ich fühlte mich ausgesprochen wohl, überlegte sogar, wie ich es anstellen könnte, für zwei, drei Wochen hier zu wohnen. Ingo und der Dealer steckten die Köpfe zusammen. Ihre Unterhaltung wurde von der Musik übertönt, doch mir fiel immerhin auf, daß die beiden nicht sehr freundlich miteinander sprachen. Zu allem Überfluß tauchte noch ein muskulöser Typ mit Rockerfresse auf, setzte sich dazu, um mitzustreiten.
Hangman’s Knee war der Hammer, aber es war mir nicht vergönnt, das Stück ganz zu hören, da Ingo aufsprang, die Fäuste in Boxposition brachte und Jeff Becks Gitarrensolo überschrie: „Steht auf und kämpft, ihr Säcke!“ Der mit der Rockerfresse stand folgsam auf, gab Ingo eine Ohrfeige und warf ihn aus der Wohnung. Mir geschah nichts, ich hätte auch weiterhin Jasmintee trinken und Musik hören können, wie der Dealer lächelnd anbot, was ich dankend ablehnte, denn ich vermutete Ingo vor der Haustür im Regen.
Seufzend kramte ich anschließend das Kästchen mit den imitierten Eintrittskarten, die ich in London erworben hatte, aus dem Seesack, um sie einem bekannten Devotionaliensammler zu verkaufen. Die Eintrittskarten für legendäre Beatkonzerte in so legendären Clubs wie Star Club, Marquee Club und Cavern wirkten echt und waren schon deshalb abgegriffen, weil ich sie oft genug angefasst hatte. Der Typ blätterte zweihundert Mark auf den Tisch, tätschelte mich zum Abschied, hielt mich wohl für einen Trottel. Vielleicht würde er die Wahrheit nie erfahren und mit den falschen Tickets in den Händen sterben.
Wir kamen ziemlich schnell aus Hamburg raus. Es regnete ohne Pause, Ingo brütete düster vor sich hin, noch immer die Schmach mit der Ohrfeige verarbeitend, ich quatschte dummes Zeug mit dem Fahrer, war eigentlich mit ganz anderen Gedanken beschäftigt. Vor allem ein Gedanke grellte in kurzen Abständen beharrlich auf: Sizilien oder Istanbul?
Am späten Abend strandeten wir auf dem Rasthof Nürnberg-Feucht. In der Cafeteria saßen fette Fernfahrer zusammen, erzählten sich Fernfahrergeschichten und Fernfahrerwitze. Sie blickten ein paar Mal angewidert zu uns herüber, wahrscheinlich fielen auch ein paar der damals üblichen Sprüche über „langhaariges Gesindel“. Ingo schien die Feindseligkeit nicht zu bemerken, denn er erhob sich mit der Bemerkung, er werde einen der Trucker bitten, uns mitzunehmen. Das sei keine gute Idee, sagte ich, doch er war schon auf dem Weg.
Zwar verstand ich auch diesmal nichts von der Unterhaltung, aber was ich sah, bestätigte meine Skepsis. Als sich Ingo bereits auf dem Rückweg befand, rief ihm einer unter dem Gelächter der Kollegen hinterher: „Wenn du einen Schwanz für dein Arschloch suchst, musst du dich erst mal waschen, Susi!“ Na ja, Ingo forderte den Schwachkopf natürlich zum Zweikampf auf, und kurz darauf fanden wir uns draußen im Regen wieder. Ein beschissener Tag, das war schon mal klar. Noch während wir überlegten, ob wir uns unterstellen oder mannhaft der Nässe aussetzen sollten, sprach uns ein relativ junger Fernfahrer an, der in der Cafeteria alleine an einem Tisch gesessen hatte. Zu meiner Freude entschuldigte er sich nicht nur für das Verhalten seiner Kollegen, sondern bot uns an, mit ihm nach München zu fahren.
Er kam aus Frankfurt. Vor zehn Jahren, sagte er, sei er jedes Wochenende nach Bad Nauheim gefahren in der Hoffnung, Elvis Presley zu begegnen. Es war mollig warm in seinem LKW, außerdem gab es ein Tonbandgerät. Wir tranken Kaffee, rauchten massenhaft Zigaretten, hörten ganz in Ruhe Beck-Ola vom ersten bis zum letzten Stück und erreichten München am frühen Morgen.
Nach einem verregneten Stadtbummel beschlossen wir, am nächsten Tag die Alpen zu
überwinden, um endlich den Mittelmeerwind zu spüren. Als wir abends im Big Apple
auftauchten, lag die Müdigkeit auf uns wie eine nasse Schabracke. Gute Musik, alles vom
Feinsten: Whole Lotta Love von Led Zeppelin, Don’t Steal My Love von Tony Joe
White, Come Together von den Beatles, I Want To Take You Higher von Sly & The
Family Stone und was sonst so angesagt war. Jemand hielt mir Roten Libanesen unter die Nase, und schon hatte ich für zwanzig Mark Haschisch in der Tasche. Eigentlich waren wir ja hier, um Leute nach einem Schlafplatz zu fragen. Und eigentlich schloss unser Reisebudget jeglichen Drogenerwerb aus. Doch wer wäre nicht schwach geworden, wenn seine Geruchsnerven dem Gehirn zur Vanilla Fudge-Version von Shotgun Roten Libanesen signalisiert hätten?
Dann rauchten wir zusammen mit einem Mexikaner auf dem Klo einen Joint. Geiler Stoff. Der Mexikaner grinste ständig. Ich ging davon aus, dassr irgendwann zu viel LSD genommen hatte. Dieses irre Flackern in seinen Augen. Er war dürr wie eine Vogelscheuche, ein schwarzer Vollbart ließ das schmale Gesicht noch kleiner erscheinen, die langen Kraushaare standen ab, als hätte er ein Stromkabel durchgebissen. Mich beruhigte seine sanfte Stimme. Als wir am Tresen Bier tranken, erzählte uns der Mexikaner, er sei in München hängen geblieben, weil er zweimal den Apostel Paulus getroffen habe – an der Isar und auf dem Oktoberfest. Das sei zweifellos ein Zeichen gewesen, und da der Apostel nichts gesagt habe, werde er wohl noch ein drittes Mal erscheinen ...
„Und wovon lebst du?“ fragte Ingo ohne wirkliches Interesse.
„Ich bin Kalfaktor in einer riesigen Wohnung, die wochenweise von zumeist nackten Frauen bewohnt wird.“
„Nackte Frauen?“ Ingos Interesse erwachte.
„Ja, sie sind meistens nackt, weil in dieser Wohnung Pornofilme gedreht werden. Ich muss aufräumen, spülen, einkaufen und so. Ich habe dort ein Zimmer und bekomme jede Woche fünfzig Mark Taschengeld.“
„Können wir heute Ncht dort pennen?“ fragte ich geistesgegenwärtig, und der Mexikaner, der sich Castro nannte, sagte: „Selbstverständlich. Ihr seid ja jetzt meine Freunde.“
Die Wohnung erreichten wir in zehn Minuten. Sie war in der Tat riesig: zehn Zimmer, zwei Bäder, zwei Toiletten, eine Wohnküche, überall lagen und standen Filmrollen, Stative, Mikrofonständer und Beleuchtungszubehör herum, die Mädchen, denen wir begegneten, trugen nichts weiter als Unterhosen, was mir sogleich einleuchtete, denn die Räume waren völlig überheizt. Leider schenkten uns die Girls nicht die verdiente Beachtung. Sie sagten nur: „Hallo Castro, wir brauchen morgen neuen Sekt und Badesalz.“
„Alles klar“, antwortete Castro mit sanfter Stimme. In seinem Zimmer gab es außer einem Dutzend Matratzen und einer Stereoanlage keinerlei Mobiliar. Castro servierte Tee und Meskalin. Bis dahin hatte ich über diese Droge nur gelesen. Ihre Wirkung setzte nach einer halben Stunde ein, war sehr LSD-ähnlich, alles wurde knallbunt, an den Wänden sah ich Muster und erkannte in ihnen die aztekischen Ornamente. Ansonsten checkte ich nicht mehr allzu viel. Eine der Frauen tauchte auf. „Habt ihr Shit?“ fragte sie. Ich wuss mit der Frage wenig anzufangen, und warum der Mexikaner grinsend auf mich deutete, war mir auch nicht klar. „Rück den Shit raus!“ befahl Ingo. „Ich sagte: „Leck mich am Arsch“, und erst als sich die Brust der Frau in mein rechtes Ohr bohrte und ihre Stimme was von Haschisch säuselte, kapierte ich die Sachlage.
Fünf Minuten später saßen wir alle um eine gigantische Wasserpfeife mit fünf Schläuchen herum – drei Männer und sieben fast nackte Frauen, deren Brüste hin und wieder neckisch hüpften. Castro legte eine Scheibe auf: Beck-Ola. Zu meinem Erstaunen wurde die Musik bildhaft, die Stücke verwandelten sich in Kathedralen, dann breitete sich das Haschisch in mir aus, ich dachte an klinisch reinen Sex, wünschte, ich hätte das Recht, diese Brüste anzufassen und abzulecken, irgendwann wurden Wein- und Schnapsflaschen herumgereicht, eine der Frauen sorgte für Käse, Brot und Oliven, die Heizung powerte, und mit Grausen dachte ich an den nächsten Tag. Vielleicht würden wir beim Trampen erfrieren, unseren Drang nach Süden mit dem Leben bezahlen ... In diesem Moment drang Castros sanfte Stimme in mein Ohr. Der nächste Drehtag sei erst in fünf Tagen, sagte er. Bis dahin könne er uns beherbergen.
Wir nahmen das Angebot sofort an, nahmen jeden Tag Meskalin, hörten mindestens zwölf Mal Beck-Ola, dann trampten wir erleuchtet zurück nach Hamburg, um das Geschirr zu spülen.
Beatlemania!

1. Auflage 2010, ca. 140 Seiten, mit über 100 Fotos, Dokumenten u. Faksimiles
ISBN: 978-3-7844-3221-2
19,95 EUR D / 20,60 EUR A / 34,50 CHF (UVP)
LangenMüller
Als sie noch live auftraten, wurden sie von ihren Fans in einem Maße verehrt, wie es keiner anderen Popgruppe je zuteil wurde. Der Kult um die vier Jungs aus Liverpool hält bis heute ununterbrochen an. Die Beatles haben die Musik revolutioniert und die Menschen begeistert. Die Beatles und ihre Fans – das ist ein seit damals andauerndes Liebesverhältnis, fast schon eine Weltanschauung. In diesem aufwändig und liebevoll gestalteten Album wird diese besondere Beziehung dokumentiert – mit vielen raren, zum Teil unveröffentlichten Fotos und Texten. Ein Buch von Fans für Fans.
Mit Texten von Horst Fascher, Lisa Fitz, Chuck Hermann, Jürgen Herrmann, Chris Howland, Klaus Kreuzeder, Gabriele Krone-Schmalz, Uschi Nerke, Abi Ofarim, Brian Parrish, Helmut Schmidt, Manfred Sexauer, Tony Sheridan, Pete York uvm.
Fotos von Bubi Heilemann, Werner Kohn, Ulrich Handl, Rainer Schwanke, Frank Seltier, Günter Zint u.a.