Eva Leipprand Auf einmal wieder der Apfel (Mary Hopkin)
Auf einmal wieder der Apfel. Der Apfel auf der Schallplatte, die seit Jahren vergessen zwischen Büchern im Regal steht. Eine Single in einer Hülle aus schwarzem Papier, leicht eingerissen und an den Ecken abgestoßen. Aber sie fasst sich an wie früher. Der Apfel heißt eigentlich Apple und schaut aus der schwarzen Hülle heraus grün wie ein Granny Smith und aufgeschnitten, so dass vorne, auf Apple 1, das Kernhaus zu sehen ist. Apple 2 auf der Rückseite glänzt rund und grün.
Those were the days ... das war die Zeit, als man auf dem Plattenspieler noch zwischen 45 und 78 wählen musste, bevor man die Nadel auflegte, den Saphir, was für ein schönes Wort. Der Apfel in der Mitte begann sich zu drehen, und der Saphir folgte mit elastischem Schwingen den Rillen der Platte und sammelte dabei feinen Staub auf, räumte ihn aus dem Weg, damit Mary Hopkins Stimme klar aus dem Lautsprecher kommen konnte, wie aus einer anderen Welt. Once upon a time there was a tavern ...
Der Apfel hat einen Stiel, der ziemlich frech nach oben steht. Produced by: PAUL McCARTNEY. Essex Music Ltd. 1968. Auf dem Apfelkrönchen kaum lesbar Mary Hopkins Name. Kein Foto. Ob ich je ein Bild von ihr gesehen habe? Bravo oder ähnliches kam bei uns nicht ins Haus. Aber eine Vorstellung taucht auf, ein inneres Bild, wie aus sanftem Glas. Durchscheinend. Ein Bild aus dieser Stimme entsprungen, einer Stimme, die ich nun nicht mehr aus den Plattenrillen holen kann, weil es keinen Saphir mehr gibt. Aber man kann sie finden, Mary Hopkin und ihre Stimme, gelobt sei die heutige Technik, auf Youtube. Das Jahr ist 68, das Jahr der „starry notions“. Innerhalb von drei Monaten erreichte das Lied die Spitze der UK-Charts. Mary Hopkin steht am Geländer, die Hände mit nicht ganz überzeugender Lässigkeit seitwärts aufgestützt, neben ihr sind gezielt Unbeteiligte platziert. Den Kopf hält sie mädchenhaft schräg. Nur ganz kurz und fast wie aus Versehen kommt der Minirock ins Bild. Sie singt aus ihrem blonden Haarvorhang heraus, ihre Haut ist so klar wie ihre Stimme. Sie hüpft und springt nicht, sie singt, ohne ihre Position zu verändern, das Lächeln verhalten. Sie meint es ernst. Those were the days ... das war die Zeit der schwarzen Pullis und der Zigaretten, des Leidens an der Welt auf Kissen, die hingeworfen auf dem Boden stickiger Räume lagen, bloss keine frische Luft oder gar Sport, glücklich zu sein galt als ganz und gar unpassend. Man war uneins mit dem Dasein und drückte dies in schwarzummalten Augenrändern aus. Mary Hopkins Melancholie war auch die meine. Was that lonely woman really me?
Those were the days ... da taucht ein Haus auf, eins in einer langen Reihe sich gleichender englischer Häuschen, die sich den Hügel hinauf ziehen, Glasllwch Crescent, ein walisisches Wort, auch Mary Hopkin kam aus Wales, das konnte kein Zufall sein. Da ist der front room, kalt, denn meine landlady heizte nicht mehr als das eine Zimmer nach hinten hinaus. Nur bei scharfem Frost, wenn die Wasserrohre zu platzen drohten, kam im Bad ein Paraffinofen zum Einsatz. Um das Feuer im Kamin legte sie mit freundlichen Kohlenstaubhänden meine Unterwäsche zum Trocknen, im Fernseher lief Peyton Place, die Vorabendserie. Immer wieder goss sie frisches heißes Wasser auf die im Kännchen quellenden Teeblätter. Und ich immer wieder, wie am Tropf, vorne im kalten front room, allein mit meinem Plattenspieler und Mary Hopkins süßer Melancholie.
Da ist die nächtliche Zugfahrt, im Herbst des Jahres 68, natürlich nicht im Liegewagen, das kam nicht in Frage, im Abteil Gepäck für ein ganzes Jahr England, und der Plattenspieler, ein mächtiger Kasten, unter dem Sitz, mit den fünf sechs Platten, die ich besaß. Und natürlich Mary Hopkin. Solange sie dabei war, konnte mir nichts passieren. Am Morgen in Calais war der Hals steif, der Weg weit vom Zug zur Fähre über den Ärmelkanal, die Koffer hatten keine Rollen, der Plattenspieler auch nicht. In Dover stundenlanges Gedränge bis zum customs officer, und mir war immer noch schlecht von der Überfahrt, als er meine Koffer durchwühlte und beim Anblick des Plattenspielers mich ansah, als sei ich nicht ganz bei Trost.
Those were the days ... das war die Zeit, als man seine Musikgeräte noch nicht mit sich herumtrug wie heute den MP3-Player in der Hosentasche, sondern ordentlich zu Hause in der Schrankwand eingebaut ließ. Vielleicht bewegte man sich auch deshalb noch nicht so ungeniert über den Erdball wie heute, weil die Musik nicht mitkam. Wenn du weg warst, warst du wirklich weg. Zwei Tage Zugfahrt und mit dem Schiff übers Meer, Fliegen war nur für die high society, Handy gab’s nicht, Telefon war zu teuer, Internet noch nicht erfunden. Da hieß es dann auf Briefe warten, und wenn man keine geschrieben hatte, kamen auch keine zurück. Heute hast du ja immer im Ohr, was dir gerade lieb ist. Du stellst auf einmal fest: hallo, ich bin ja auf den Philippinen!, aber deine Musik gibt dir ein Zuhause, ob du hier oder am Kap der Guten Hoffnung bist.
Those were the days ... das war die Zeit, als die Nationen technisch noch weit auseinander klafften. Als der Plattenspieler im Glasllwch Crescent endlich ausgepackt war, im kalten front room, das Gehäuse in Holzverkleidung, der Deckel aus bereits ziemlich mitgenommenem Plexiglas, und auch der Stecker mittels Adapter in der Steckdose seinen Platz gefunden hatte, und als der Tonabnehmer aus der Halterung gelöst und mit einem kleinen Knacken nach rückwärts in Startstellung gebracht war, da rührte sich nichts. Der Apfel lag still und drehte sich nicht. Die Rillen glänzten schwarz und schweigend. Mary Hopkin blieb stumm.
Oh die Einsamkeit in der Fremde! Die abgrundtiefe Heimatlosigkeit! Bis dann irgendeiner herausfand, wo das Problem lag – voltage war das Zauberwort – und Mary Hopkin doch noch zum Singen brachte. Und so sang sie dann im schönsten Englisch, das ich mir vorstellen konnte, so klar wie sanftes Glas, und baute mir mit ihrer Stimme einen Schutzraum. Das Orchester legte weiche Töne unter den Gesang, fand aber im Refrain auch schnarrige Rhythmen, um die Bitternis des Lebens anzudeuten.
Those were the days, my friend, we thought they’d never end ... da klang von Anfang an der Verlust aller Illusionen mit, das war die Essenz der Melancholie. Once upon a time... Mary Hopkin sang mit dem großen Atem der Weisheit, der aus der Erfahrung eines ganzen Lebens strömt. Als ob sie alles, was vor ihr lag, schon hinter sich hätte. We lost our starry notions on the way. Sie stand über den Dingen, über den Dingen, die ich ja erst – und nach diesem Lied erst recht – noch erleben wollte, ich war ja gerade erst aufgebrochen. Taverns kannte ich auch in Deutschland und hatte dort auch längst das eine oder andere Glas geleert, aber davon, so dachte ich, ließen sich noch keine Lieder singen, und wenn ich keine Briefe schrieb, kamen keine zurück. Mary Hopkins Stimme gab mir eine bittersüße Ahnung von dem Leben, das vor mir lag.
Those were the days... Jetzt bin ich tatsächlich ein Mensch, der zurückschaut. Weit zurück. Apple ist inzwischen keine Platte mehr, sondern ein Computer. Ich google und finde heraus: Mary Hopkin gibt es noch. Wir sind etwa im gleichen Alter, sie ist sogar ein wenig jünger als ich. Dann hat sie also damals schon, im Jahr 1968, mit achtzehn Jahren vom Verlust aller Illusionen gesungen. Sie hat aber auch schon geahnt, wie es den Ältergewordenen geht.
Oh, my friend, we’re older but no wiser
For in our hearts the dreams are still the same…
Ich schiebe die Platte mit dem Apfel zurück ins Regal.
Beatlemania!

1. Auflage 2010, ca. 140 Seiten, mit über 100 Fotos, Dokumenten u. Faksimiles
ISBN: 978-3-7844-3221-2
19,95 EUR D / 20,60 EUR A / 34,50 CHF (UVP)
LangenMüller
Als sie noch live auftraten, wurden sie von ihren Fans in einem Maße verehrt, wie es keiner anderen Popgruppe je zuteil wurde. Der Kult um die vier Jungs aus Liverpool hält bis heute ununterbrochen an. Die Beatles haben die Musik revolutioniert und die Menschen begeistert. Die Beatles und ihre Fans – das ist ein seit damals andauerndes Liebesverhältnis, fast schon eine Weltanschauung. In diesem aufwändig und liebevoll gestalteten Album wird diese besondere Beziehung dokumentiert – mit vielen raren, zum Teil unveröffentlichten Fotos und Texten. Ein Buch von Fans für Fans.
Mit Texten von Horst Fascher, Lisa Fitz, Chuck Hermann, Jürgen Herrmann, Chris Howland, Klaus Kreuzeder, Gabriele Krone-Schmalz, Uschi Nerke, Abi Ofarim, Brian Parrish, Helmut Schmidt, Manfred Sexauer, Tony Sheridan, Pete York uvm.
Fotos von Bubi Heilemann, Werner Kohn, Ulrich Handl, Rainer Schwanke, Frank Seltier, Günter Zint u.a.