Jörg Bernig: Weltuntergangshintergrundmusik (Novalis)


Es war das Tesla Stereo-Spulentonband meines Schwagers, und die volle Spule darauf drehte sich stets gemessen, während die fast leere ganz schnell rotierte. Aus einer ragte das rote Endstück des Magnetbandes ein wenig heraus und nach oben. Wenn das Band zu Ende ging, drehte das rote Zipfelchen als eine kleine Ballerina schneller und schneller werdende Pirouetten. Das Tesla wurde in der Tschechoslowakei gebaut und war selten zu kaufen, ich habe nie eines in einem Geschäft gesehen. Wer weiß, woher mein Schwager sein Exemplar hatte. Die Magnetbänder kamen aus dem Wolfener Volkseigenen Betrieb ORWO. So hieß die Firma damals Ende der siebziger Jahre, nun heißt sie wie früher wieder Agfa. Als ich die ersten ORWO-Bänder aus Wolfen in der Hand hielt, wußte ich noch nicht, daß ich in den achtziger Jahren in eben jener Stadt meinen Militärdienst abzuleisten hatte. Das war über anderthalb Jahre eine Mischung aus Erniedrigung, Stumpfsinn und Dreck. Das Kommando führte die Dummheit. Über allem lag der Gestank der Chemieregion von Bitterfeld. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Auf den Magnetbandspulen fanden sich jede Menge Raubkopien von Schallplatten, die es allesamt im Osten nirgends zu kaufen gab. Die LPs wurden von Rentnern auf Wunsch ihrer Enkelkinder in Interzonenzügen vom Westen in den Osten gebracht. Nur die Rentner bekamen damals Ausgang in den Westen und durften versprengte Familienteile besuchen. Den Rest, also die, aus denen sich noch Arbeitskraft pressen lassen konnte, ließen die Kommunisten lieber nicht hinter das Minenfeld und die Selbstschußanlagen reisen. Die kamen vielleicht von da nicht wieder. Wenn die Rentner nicht wiedergekommen wären, hätten sie den Ostkommunisten sogar einen wirtschaftlichen Gefallen getan, weil sie ihnen dann keine Rente hätten zahlen müssen.

Die Rentner also. Ihre großartige Leistung im Kulturtransfer ist noch gar nicht gewürdigt. Ihr Wirken ist ja nicht darauf beschränkt gewesen, daß sie mit Lux Seife, Jacobs Kaffee, Persil Waschmittel, Lenor Weichspüler, Wrigley’s Spearmint, Schwarzkopf Haarlack und Sarotti Schokolade Geschmack und Duft aus dem Westen in den Osten transferierten, so daß es nach dem Mauerfall für die Ostler ein Wiedererkennungserlebnis nach dem andern gab. Aber nach dem 9. November 1989 ahnte vielleicht noch keiner, daß dies immer auch ein Abschied war, denn die Seltenheit der Düfte und des Geschmacks löste sich von heute auf morgen im Überfluß auf.

Wenn sie aus dem Westen zurückkehrten, waren die Koffer der Rentner gefüllt mit all dem Wohlriechenden und Wohlschmeckenden. Sie waren aber auch prall voll von Levi’s Jeans und Jackets, Parkas oder T-Shirts. Dazwischen steckten jedoch, sicher verpackt und ihren Transporteuren wahrscheinlich ein großes Geheimnis, die Schallplatten für die Enkel. Wie viele Tonträger zudem von aufmerksamen Ost-Grenzern konsfisziert wurden, läßt sich nur vermuten. Etliche schafften es aber doch bis nach Ostelbien und wurden dort vielfach auf Magnetbänder kopiert. Um Urheberrechte kümmerte sich niemand, die Abkoppelung des Ostens vom Rest der Welt berechtigte zum Rechtsbruch. Außerdem sind schon ganz andere Sachen mit dem Verweis auf Metajuristisches begründet worden.

Raubkopiert wurden aber nicht nur die Beatles, Bob Dylan, die Woodstock-Aufnahmen oder die Kunstgriffe von Genesis und Yes. Unter all den von Deutschland nach Deutschland geschmuggelten LPs befanden sich auch Krautrock-Produkte, homemade Music gewissermaßen. Darunter wiederum so merkwürdige Sachen wie die von einer Band mit dem Namen Novalis. Merkwürdig hier wirklich in seiner Doppeldeutigkeit.

Ende der siebziger Jahre drehten sich vor mir die Spulen auf dem Tesla-Tonbandgerät meines Schwagers, und in meinen Ohren sang es Wer einsam sitzt in seiner Kammer/Und schwere, bittre Tränen weint,/Wem nur gefärbt von Not und Jammer/Die Nachbarschaft umher erscheint … Draußen lag eine sächsische Kleinstadt, sie lag aber nicht einfach so da, sondern sie zerfiel langsam. Wer sich aus dem Westen gleich 1989/90 einmal in den Osten vorgewagt hat, weiß, wohin dieser Zerfall noch führte. Die tausendjährige Kleinstadt, in die ich hineingeboren worden war, hatte kapituliert und sich aufgegeben, von innen war da nichts zu erwarten, immer und immer würde das so weitergehen, jeden Morgen war das ein Erwachen in den Untergang hinein. Wenn man mit vierzehn, fünfzehn das diffuse Gefühl hat, alles schon gesehen und erlebt zu haben, was einem noch bis zum Lebensende bevorstehen wird, dann ist das kein guter Start.

Es waren schon reichlich abgepfiffene Texte, die die Krautrocker da sangen. Da umtanzt Dunkelheit das Schiff und Kälte zieht ins Gebein und Menschen entfliehn. Irgendwann fand ich heraus, daß sich die Band nach dem Novalis, nach Friedrich von Hardenberg, benannt hatte. Novalis bedeutet Brachland. Das klingt wirklich nach Krautrock. Dennoch: Ein Dichter der deutschen Romantik gibt den Namen für eine Band! Das war und ist schon seltsam. Obwohl – Schlegel wäre auch ein guter Bandname. Wenn man dagegen bedenkt, daß sich die Jungs von Lynyrd Skynyrd nach einem ihrer Schullehrer benannt hatten … Zeigt sich auch hier einer der Unterschiede zwischen Europa und Amerika?

Wie auch immer. Novalis. Wenn ich zurückdenke, dann habe ich das Gefühl, als hätte ich 1978/79 über Wochen und Monate nichts anderes gehört als ihre Alben Sommerabend und Brandung. Es wäre ein Leichtes, das alles als pubertäre Phase, als ein Eingesponnensein in den Pubertätskokon abzutun. Das war es mit Sicherheit auch. Es war aber auch ein Weg, sich aus der real existierenden Welt zu verabschieden, weil da eine Band mit ihrem Kunstrock so ganz entschieden durch die Gegenwart hindurchmarschierte und denen, die sie hörten, neben anderem, auch sagte, daß es hinter der sich allgewaltig gebärdenden Gegenwart mit ihren diversen Vertretern eine viel längere und enorm weit zurückreichende Vergangenheit gab. Allein das konnte ein Trost sein.

Das Album Sommerabend von Novalis erschien 1976. Im selben Jahr wurde Wolf Biermann nach Westdeutschland ausgebürgert. Bis zum deutschen Herbst im Westen dauerte es auch nicht mehr lange. Und für diejenigen, die sich mit Geistesgeschichte und Literatur beschäftigten, war es damals nicht ohne weiteres selbstverständlich, daß da jemand auf die deutsche Romantik zurückgriff. Bis gegen Ende der sechziger Jahre schien es für nicht wenige eine ausgemachte Sache zu sein, daß von der Romantik ein gerader Weg zum Nationalsozialismus führte. So einfach kann man sich die Welt auch zurechtbiegen. Da hinein also klang der Sommerabend der Band Novalis mit einem neunstrophigen Gedicht aus den Geistlichen Liedern des Dichters Novalis. Das alles habe ich aber erst später herausgefunden. Damals habe ich nur gelauscht und mich nicht daran gestört, daß der Sänger die phonetischen Unterschiede zwischen einem E und einem Ä ganz gärn einmal värgaß.

Die Bekanntschaft mit dem Dichter Novalis geht nicht auf den Deutschunterricht zurück, sondern auf die Brachland-Band. Das zog dann nach sich, daß ich als sechzehn-, siebzehnjähriger Bergbaulehrling den Ofterdingen las, die Hymnen an die Nacht und den Blütenstaub mit seinem Motto: Freunde, der Boden ist arm, wir müssen reichlichen Samen / Ausstreun, daß uns doch nur mäßige Ernten gedeihn. Daß ich darauf gestoßen bin, verdanke ich also zuerst einmal jenen westdeutschen Kunstrockern. Es sei ihnen hiermit im Nachhinein das Prädikat pädagogisch wertvoll zuerkannt. Und vor der Berufsschule der Sowjetisch-deutschen Aktiengesellschaft Wismut, in der ich zu einem Bergmann ausgebildet wurde und mein Abitur machte, wenn ich nicht in den Schächten des Thüringer Reviers Sedimentgestein abbauen lernte, aus dem Uran für die Atombomben der Russen gewaschen werden konnte, vor der Berufsschule dieser zutiefst profanen und kunstfernen Welt befand sich ein Aufsteller mit einem Zitat von – – Novalis natürlich, denn der war ja nicht nur Dichter gewesen, sondern auch Salinen-Assessor. Der ist der Herr der Erde, / Wer ihre Tiefen mißt / Und jeglicher Beschwerde / In ihrem Schoß vergißt …

Nun ja, die Beschwerden ließen sich Anfang der achtziger Jahre dann doch nicht vergessen. Bei einem Besuch meiner Eltern in der tausendjährigen sächsischen Kleinstadt, die vor sich hin zerfiel, wurde ich einmal im Morgengrauen von einem langanhaltenden Sirenenalarm aus dem Bett geworfen. In der sozialistischen Schule hatte man ja so manches gelernt, zum Beispiel auch Sirenensignale zu deuten. Das, was ich da hörte, war kein Feueralarm, das war ein ABC-Alarm. ABC steht für atomare, biologische und chemische Kampfstoffe. Für Augenblicke starrte ich aus dem Fenster. Jetzt schossen sie also ihre SS-20 und ihre Pershings aufeinander. Jetzt, wo ich diesen Text hier schreibe, kommt aber nicht mehr als ein Bruchstück jenes Gefühls von damals in mir nach oben, des Gefühls, in dem man uns immer und immer gehalten hatte, nämlich daß es jeden Moment losgehen konnte. Ich bin in einer Kleinstadt mit russischer Besatzung aufgewachsen. Die Kasernen und Fahrzeuge der Russen waren derart vergammelt, daß ich mir sehr gut vorstellen konnte, daß ein durchgerosteter Draht genügte, um den Atomkrieg zu beginnen. Die Entwarnung gab dann meine Mutter, sie hatte mir am Abend zuvor vergessen zu sagen, daß die Zivilverteidigung der Stadt den Ernstfall probte. Dafür hatten sie auch den Einsatz der Ernstfallsirene angekündigt. Aber das hatte ich nicht mitbekommen, weil ich ja die Woche über in einem thüringischen Berbgbauinternat gewesen war.

All das hatte mit dem zu tun, von dem die Band Novalis auf ihrem Album Brandung sang. Zur Atmosphäre des drohenden Weltuntergangs bildete auch diese Band einen Teil der Hintergrundmusik. Nur ein paar Jahre zuvor, Ende der Siebziger, hatte ich Brandung zum ersten Mal gehört. Da ging es darum, daß der Mensch das Leben auf der Erde auslöscht, nur ein paar bleiben übrig, um zu sehen, wie sich nach dem Fallout die Sonne goldglühend in ihrer Pracht über die Welt emporhebt. Man kann nicht sagen, daß die Jungs von Novalis große Angst vor überhöhtem Pathos gehabt hätten, aber das paßte durchaus in die Zeit.

Die Band Novalis sang ihre seltsamen Texte von LPs und von ORWO-Magnetbändern in einem geteilten Land, das als das Schlachtfeld für den finalen Kampf zwischen dem Osten und dem Westen auserkoren worden war. Wir haben unsere Jugend auf diesem zukünftigen Schlachtfeld verbracht. Und zumindest wir im Osten wurden schon in der Schule darauf vorbereitet, daß es krachen würde. Daß die Herren der Band Novalis in dieser Weltlage auch auf ihrem verträumt-anderen Blick bestanden, sei ihnen nicht vergessen. Und das für das Album Brandung von ihrem Namenspatron geborgte Gedicht, das sie sangen und zu dem sie eine akustische Gitarre zupften, auch nicht.

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben
Und in die Welt wird zurückbegeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die ew’gen Weltgeschichten,
Dann fliegt vor einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

Das Tesla-Spulentonbandgerät ist mitsamt Schwager in den Wirrnissen der Zeit verschwunden. Sommerabend gibt es auf CD, Brandung gar nur als MP3-Datei für € 6,90.-. Eine kleine rote Zipfelballerina tanzt da nicht mehr.

Beatlemania!
50 Jahre Beatles! Wir feiern mit einem sensationellen Bildband von Fans für Fans, mit Insider-Stories, fantastischen Fan-Fotos, Dokumenten und Faksimiles.

1. Auflage 2010, ca. 140 Seiten, mit über 100 Fotos, Dokumenten u. Faksimiles
ISBN: 978-3-7844-3221-2
19,95 EUR D / 20,60 EUR A / 34,50 CHF (UVP)
LangenMüller

Als sie noch live auftraten, wurden sie von ihren Fans in einem Maße verehrt, wie es keiner anderen Popgruppe je zuteil wurde. Der Kult um die vier Jungs aus Liverpool hält bis heute ununterbrochen an. Die Beatles haben die Musik revolutioniert und die Menschen begeistert. Die Beatles und ihre Fans – das ist ein seit damals andauerndes Liebesverhältnis, fast schon eine Weltanschauung. In diesem aufwändig und liebevoll gestalteten Album wird diese besondere Beziehung dokumentiert – mit vielen raren, zum Teil unveröffentlichten Fotos und Texten. Ein Buch von Fans für Fans.

Mit Texten von Horst Fascher, Lisa Fitz, Chuck Hermann, Jürgen Herrmann, Chris Howland, Klaus Kreuzeder, Gabriele Krone-Schmalz, Uschi Nerke, Abi Ofarim, Brian Parrish, Helmut Schmidt, Manfred Sexauer, Tony Sheridan, Pete York uvm.
Fotos von Bubi Heilemann, Werner Kohn, Ulrich Handl, Rainer Schwanke, Frank Seltier, Günter Zint u.a.