Gregor Hens: Die meisten Worte fehlen noch (Nico)


Auf dem Selbstmörderfriedhof ziehe ich das Foto aus der Tasche und streiche es glatt. Eine Wand, weiß und mittelmeerblau getüncht Wand, davor eine junge Frau, die sich mit der rechten Hand an eine blaue Holzlatte klammert. Soviel ist sicher. Christa Päffgen blickt über die linke, unters Kinn gezogene Schulter in Richtung Kamera. Der Vater, Spross einer Kölner Brauerfamilie, fällt im Krieg oder wird verwundet und wird von den Nazis erschossen, möglicherweise in Bergen-Belsen. Sie überlebt, zieht nach Berlin, flieht vor den russischen Besatzern, wird von einem G.I. vergewaltigt. Möglich. I don’t do too much talking these days. Für die Kölner bleibt sie bis zum Schluss das Mädchen aus Köln. I’m not saying, ein harmloses Liedchen. Andreas Baader posiert für eine Berliner Schwulenzeitschrift. NICO arbeitet für Heinz Oestergaard und Coco Chanel. Mit Anfang zwanzig ist sie in Paris. Amphetamine, das ist gut für die Figur. Sie wird das Lied der Deutschen singen, alle drei Strophen und es Andreas B. widmen. NICO singt am liebsten in Moll. Sie trägt ein blutrotes, übergroßes Hemd, dessen Ärmel hochgekrempelt sind. Der schwere Samtstoff fällt ihr über die Hüften. Das linke Bein ist angewinkelt. Die Hand steckt unter dem Bildrand zwischen den Schenkeln. NICO spielt NICO, die Marcello Mastroianni umgarnt. Ja und nein. Das strähnig-blonde Haar steckt locker hinter dem Kopf. Volle Lippen, blutrot, passend zum Hemd. Weil sie einsam war, und so blond ihr Haar, und ihr Mund so rot wie Wein ... Für ein Lächeln reicht es nicht. Lee Strassbergs Schauspielseminar in New York, NICO und MM. Schon möglich. In Sweet Skin ist sie die Go-Go-Tänzerin Ariane. Sie spielt mit Serge Gainsbourg das Titellied ein, es wird nicht verwendet. Dylan singt ihr ein Lied.

Vielleicht. She’s delicate and seems like a mirror but she just makes it all too concise and too clear that Johanna isn’t here. Was auffällt, sind die flächige Größe des Gesichts, die hohen, ausgeprägten Wangenknochen, der Abstand zwischen Oberlippe und Nase, die runden Brauen, die ihr einen überraschten, fragenden Ausdruck verleihen. NICO gerät in den Strudel der Factory. Sie hat Affären. Lou Reed, Jackson Browne, sweet sixteen. Immer wieder die Kamera. Warum fotografierst du mich? Warum interessierst du dich für mich? Fällt dir nichts Besseres ein? Der runde Unterkiefer rahmt das Gesicht in perfekter Entsprechung zu den Brauen. It was a pleasure then. Dieses Lied ist ein Durchbruch. The Marble Index, Desertshore, The End, Classic NICO, revolutionär, dunkel, teutonisch, krank, schön. You forgot to answer, ein Abschied von Jim Morrison, eines ihrer schönsten Lieder. Jim ist ihre einzige Liebe gewesen.

Vielleicht. Mother of Goth wohnte bei Philippe Garrel, dreht ein paar Filme mit ihm. Lou Reed simuliert auf der Bühne die Injektion. MOG setzt sich die Spritze hinter der Bühne, tritt auf, hält sich am Mikrofon fest, Text vergessen. Aber eine Romantikerin, die Wordsworth zitiert. Alle wohnen im Chelsea Hotel, auch Lüll, ihr Manager und Gefährte. Auch Leonard Cohen. Sie war die einzige Frau, die er nicht verführen konnte. Vielleicht. Classic Cohen. Ein Schnitt. In Manchester ist reichlich Heroin im Umlauf. Sie gibt über tausend Konzerte, weil sie das Geld braucht. One more chance. Das erinnert an Low, Lodger, Heroes, die Gitarre von Carlos Alomar. NICO hat Heroes inspiriert. Behauptet sie. Ich glaubte zu träumen (zu träumen). Die Mauer im Rücken war kalt (so kalt). Schüsse reißen die Luft (reißen die Luft). Berliner Luft. Ihr Keyboarder James Young wird ein schönes, schreckliches, witziges, aberwitziges, abscheuliches, voyeuristisches Buch über diese letzten Jahre schreiben. Songs they never play on the radio. Eines dieser nie gespielten Lieder heißt Camera Obscura. Her soft eyes like a splutter like the sun, a dancer, flüstert John Cale. Der Text ist so minimalistisch, dass er auf eine Handfläche passt. Weitersehen, weiterhören ... NICO ICON, ein Film von Susanne Ofteringer. Die Autobiographie von Lüül. Ein Theatermonolog von Werner Fritsch: NICO – Sphinx aus Eis. Die ganze NICO-Industrie.1986 kriegt sie tatsächlich noch die Kurve. Ihr letztes Konzert gibt sie 1988 im Planetarium der Wilhelm-Förster-Sternwarte in Berlin. Sie sing La-la-la und erklärt: Die meisten Worte fehlen noch. Wenige Wochen später fällt sie auf Ibiza vom Fahrrad und stirbt an einer Hirnblutung. Vielleicht. Ihre Asche wird im Berliner Grunewald beigesetzt. Auf dem Grabstein steht NICO. Christa Päffgen 1938-1988. Ich falte das Foto zusammen, stecke es in die Tasche und stapfe durch den feuchten Wald zur Havelchaussee, auf der Suche nach einem Taxi.

Beatlemania!
50 Jahre Beatles! Wir feiern mit einem sensationellen Bildband von Fans für Fans, mit Insider-Stories, fantastischen Fan-Fotos, Dokumenten und Faksimiles.

1. Auflage 2010, ca. 140 Seiten, mit über 100 Fotos, Dokumenten u. Faksimiles
ISBN: 978-3-7844-3221-2
19,95 EUR D / 20,60 EUR A / 34,50 CHF (UVP)
LangenMüller

Als sie noch live auftraten, wurden sie von ihren Fans in einem Maße verehrt, wie es keiner anderen Popgruppe je zuteil wurde. Der Kult um die vier Jungs aus Liverpool hält bis heute ununterbrochen an. Die Beatles haben die Musik revolutioniert und die Menschen begeistert. Die Beatles und ihre Fans – das ist ein seit damals andauerndes Liebesverhältnis, fast schon eine Weltanschauung. In diesem aufwändig und liebevoll gestalteten Album wird diese besondere Beziehung dokumentiert – mit vielen raren, zum Teil unveröffentlichten Fotos und Texten. Ein Buch von Fans für Fans.

Mit Texten von Horst Fascher, Lisa Fitz, Chuck Hermann, Jürgen Herrmann, Chris Howland, Klaus Kreuzeder, Gabriele Krone-Schmalz, Uschi Nerke, Abi Ofarim, Brian Parrish, Helmut Schmidt, Manfred Sexauer, Tony Sheridan, Pete York uvm.
Fotos von Bubi Heilemann, Werner Kohn, Ulrich Handl, Rainer Schwanke, Frank Seltier, Günter Zint u.a.