Thomas C. Breuer: Quintessenz gegen Dampfhammer (The Youngbloods)
Wenn ich mich gleich für Steamhammer entschieden hätte, da hätte es nichts zu deuteln gegeben. Die fordern immer eine klare Stellungnahme heraus. So aber sind es die Youngbloods. Vielleicht hätte ich als erstes „Get together“ auflegen sollen, aber der Song befindet sich zufällig auf einer anderen LP, und die habe ich gerade verliehen. Der Tenor von Jesse Colin Young hat damals die Frauen reihenweise wegschmelzen lassen, hätte allerdings eine falsche Fährte gelegt. Der Song ist nicht übel, mir aber zu protestantisch. Wie „For what it’s worth“, nur ohne die Bitteraromen. Auf die Youngbloods hatte ich seit „Zabriskie Point“ ein Auge geworfen bzw. ein Ohr bzw. beide, ein Film, in den ich sofort hätte einziehen können, wenn das irgendwie gegangen wäre. Über Manuela weiss ich genau genommen wenig, früher sass sie oft bei den Redaktionssitzungen herum und sagte wenig, galt also als geheimnisvoll. Mich hat sie konsequent ignoriert. Früher, das war vor etwa einem Jahr, die Schülerzeitung gibt es noch, die Schule habe ich geschmissen. Als Schulaussteiger bin ich für den einen oder anderen natürlich interessanter, die anderen trauen sich so etwas ja nicht. Manuela tauchte eine Zeit lang bei unseren Partys in Ellers Keller auf, wenig später sogar in unserer WG in Braubach: Fünf Männer in einem etwa 25 m2 grossen Raum, schwarze Wände, die Fensterscheiben mit schwarzem DC-Fix überklebt – wir haben längst genug gesehen von der Welt, thank you very much. Kerzen und kleine Lämpchen überall, aber auch eine Neonröhre mit Schwarzlicht. Wir haben praktisch nur ein Zimmer zur Verfügung, weil im anderen die Carrerabahn aufgebaut ist. Von den Fünfen stehen drei auf meditative Musik, also Zeugs von Deuter, Zen-Geflöte und ähnliches Geschwurbel. Sie kiffen, um die Musik intensiver zu erleben. Zusammen mit Mazzi stehe ich auf Steamhammer und Konsorten und kiffe, um die Musik der anderen zu überleben. Ich habe schon lange genug von Zimmerlautstärke. Obwohl ich eine Fehlbesetzung bin, haben sich Freundschaften entwickelt.
Logbucheinträge aus jenen Tagen gibt es nur im Telegrammstil, meistens ist es in unserem Zimmer so schummrig, dass an ausgedehnte Elogen nicht zu denken ist. Zwar glimmt da und dort ein kleines Lämpchen, aber insgesamt geht dem Lichtmanagement Erhellendes völlig ab. Was hätte ich schon gross zu berichten gehabt? Der 14.12. vermeldet folgende weltbewegende Ereignisse: „Heute bis halb drei im Schlafsack. Gut gefrühstückt um vier, ganz klasse. Mit Helmut um fünf nach Nassau getrampt. Zu Doris, gelabert, zu Mulo (weckten ihn) auf Bank halbe Flasche Whiskey. Rathausschenke, sehr lustig. Pfarrer J. kam vorbei, mit Helmut zu ihm, er fuhr uns nach Braubach.“ Klingt irgendwie nach Pennerpraktikum. Trotzdem nen¬nen wir sämtliche Aktivitäten: Hektik, und Gespräche: Palaver. So geht das tagaus, tag¬ein, zumindest eine Weile, und am Wochenende pflegen zwei Mädels aus Koblenz anzutanzen, die unser Leben dermassen „klasse“ finden, dass sie uns vorbehaltlos unterstützen, in dem sie den ganzen Haushalt auf Vorderfrau bringen, Geschirr inklusive. Hippies sind Chauvis.
Am letzten Wochenende hat uns Manuela besucht und dabei erstmals das Wort an mich gerichtet, du lieber Himmel! Halbwegs jedenfalls, als Ralf und ich sie zur Tür brachten: „Ihr könnt mich ja mal besuchen!“ Spontanlähmung! Hat sie „besuchen“ gesagt? In Ems! Im Ernst? Alarm! Ems, die alten Weidegründe. Eigentlich bin ich mit der Stadt seit dem Schulabbruch durch. Die Entfernung von Braubach am Rhein nach Bad Ems an der Lahn beträgt etwa zehn Kilometer, Luftlinie. Obwohl durch einen Höhenzug des Taunus, etwa 250 Meter hoch, getrennt, befinden sich beide Orte in derselben Zeitzone. Für mich liegen Welten dazwischen. Das Wetter ist für die Jahreszeit zu mild. Die Dachlawinen klagen über miserable Auftragslagen, die Uhus brüten zu früh, die Mitglieder der Schneeräumkom-mandos haben Mühe, gelegentliche de¬pressive Schübe wegen chronischen Arbeitsmangels niederzubügeln. Der Himmel schillert metallisch klar wie in der „Ich-war-eine-Dose“-Reklame. Der geradezu frühlingshafte Wind wechselt rasch die Oktaven und allerletzte Vogelschwärme ziehen sich auseinander und zusammen wie Bandoneons. Wahrscheinlich überlegen sie in der Kommandozentrale, ob sich der Weiterflug überhaupt noch lohnt. Noch drei Tage bis Weihnachten, die längste Nacht des Jahres. Ideal für einen Nachtspaziergang. Ralf und ich beschliessen, die Abkürzung zu nehmen – zu Fuss, über den Berg, Trans-Taunus. Wir müssen uns nicht eigens anmelden, das hiesse nur: Telefonzelle suchen, Ferngespräch, und Manuela ist sicher zu Hause. Wo sollte sie auch hin, um sich an einem Dienstagabend im winterverschlafenen Ems die Zeit zu vertreiben? Diese Stadt hält ihren Winterschlaf übrigens ungeachtet der Jahreszeit. Gott sei Dank kein Schnee, denn das Gehen auf dem weissen Pulver zwingt einem sonderbaren Fortbewegungsstil auf und erfordert zudem entwürdigende Klamotten. Moderate Kälte also, die Nacht könnte sogar dunkler sein. Wir haben ein Ziel, gefütterte Parkas, Tabak, einen Flach¬mann, zwei Joints in einer alten Senoussidose und jeder seinen inneren Soundtrack im Ohr. Ausserdem tragen wir abwechselnd die Tüte mit den beiden Schallplatten, die wir Manuela unbedingt vorspielen wollen: Ralf hat Quintessence eingepackt, ich „Good And Dusty“ von den Youngbloods. Die von Quintessence heisst „In Blissful Company“, sie hat schon ein, zwei Jahre auf dem Buckel. Hätte ich vielleicht mal nachschlagen sollen, was zum Teufel „blissful“ heisst: „Völlig glücklich“. Das hätte mir zur Warnung gereichen müssen. Obwohl ich meine Platte erst vor zwei Tagen in Koblenz gekauft habe, sieht sie schon abgegriffen aus. Das liegt vielleicht am Cover, vier langhaarige Männer in einem abgewohnten Raum, einem Verschlag ähnlich, der, wie ich später erfahre, in einem sehr viel früheren Leben die Bibliothek von Point Reyes im Marin County gewesen ist. Nördlich von San Francisco.
Vorbei am Eck-Fritz, unserer letzten Verbindung zur bürgerlichen Welt, dessen gemütlicher Wirt sich nicht an unserem Äusseren stört. Ausserdem lassen wir genügend Geld da, weil wir der Gemütlichkeit doch nicht völlig entsagen können und ab und zu ordentlicher Nahrung in Gestalt eines „Dippekooche“ bedürfen. Wir feiern bald jeden Abend, unser Dialekt macht keinen Unterschied zwischen launig und launisch, da spricht sich beides „launisch.“ Unsere Freiheit ist um so schöner, je mehr Publikum wir haben. Woher ich das Geld hatte, weiss ich nicht mehr, ich verstand es aber recht geschickt, mich durchzuschnorren: Mitleidbonus wegen erwiesenermassen harter Kindheit, ein Ticket, das mich immer recht weit brachte bei der restlichen Verwandtschaft. Alkohol und Turnpieces gingen ins Geld, da war für die Fahrkarte nach Ems – mit dem Umweg über Niederlahnstein – praktisch kein Geld mehr übrig geblieben. Leider lag dort meine Schule. Meine alte Penne. In der Ferne. Irgendwann hatte ich sie aus den Augen verloren.
Das Mühlental hoch, hinter der Abzweigung zu einem Ort, der tatsächlich „Hinterwald“ heisst, was zu kommentieren unter unserer Würde liegt. Die alte Kleinbahntrasse hinauf. Hier konnte man noch in den späten 20er Jahren tatsächlich mit der Bahn bis Nastätten fahren. Bis zur Abzweigung nach Frücht, vor dem Ortsschild scharf nach rechts, weiter auf der Kreisstrasse, vorbei an Verwerfungen wie Küppel oder Eckert, und dann auf den alten „Pädscher“ durch die Walachei. Der Marsch ist eigentlich halb so wild, das ist hier nicht „So weit die Füsse tragen“. Unsere Schritte sind auf dem übernadelten Boden manchmal nicht zu hören, und in nur wenigen Ecken ist es so dunkel, dass man die Hand nicht vor Augen sehen kann. Mit der Hand vor Augen sieht man eh nix. Ein wenig einsam ist es durchaus, es nähme keinen von uns beiden Wunder, wenn plötzlich ein versprengter römischer Legionär auf den Weg hüpfen würde. Und wenn schon – wir haben alle noch den Standardsatz der 60er Jahre im Ohr: „Stell dich nicht so an!“ In der Nähe war der Limes verlaufen, in Deutschland ist es immer Limes oder Jakobsweg oder Goethe war da, und wenn man Pech hatte, alles auf einmal.
Wir sprechen über die Bücher, die wir gerade lesen, wahrscheinlich Steinbeck und Kerouac, über unsere WG, über ferne Länder. Worüber wir explizit nicht reden: Manuela. Da hat jeder von uns so seine Gedanken. Oder Hoffnungen, vielleicht. Wir schreiten zügig aus, wie mit Autopilot, ich weiss genau, wie es hier aussieht. Die Zigaretten drehen wir einhändig. Tote Äste knacken unter unseren Sohlen, kaum Geraschel im Unterholz. Nadelwald, Mischwald, ein hochkontaminierter See unterhalb der Abraumhalden der Blei- und Silberminen, Einheimischen als Silbersee geläufig. Eine Landschaft wie von Neil Young komponiert: „After the Goldrush“, eigentlich hätten wir schwarz-rot-karierte Jacken tragen müssen. Wir führen ohnehin ein Leben in Flanell. Hier oben habe ich Heimspiel, letzten Sommer habe ich eine Woche in einer Hütte oberhalb des Silbersees verbracht, auf der Flucht vor sämtlichen Erziehungsberechtigten und solchen, die sich dafür hielten. Endlich sind wir über’n Berg. Beim Bahnhof Ems West kommen wir raus, an der Reithalle vorbei, in der ich als Vierjähriger vom Pferd gefallen bin, es geht über die Lahn und schon sind wir an der legendären Fahrprüfer-Gabelung: Die Strasse links führt nach Koblenz, die Strasse rechts nach Koblenz, erstere über den Golfplatz, letztere über Lahnstein, die grosse Auswahl. Beim Trampen pflegten wir uns stets an beiden Strassen zu postieren.
Manuelas Alter führt eine Fahrschule, zu der eine Tankstelle gehört. An feuchtheissen Tagen meint man immer, eine Spur von Shell # 5 an unserer guten Manuela zu erschnuppern. Unser Gitarrist hat bei ihrem Vater den Führerschein ablegen wollen, ist aber dummerweise mit dem eigenen Wagen zur Prüfung gekommen und hat auf der Fahrt dorthin vor lauter Aufregung nicht sonderlich auf den Verkehr geachtet, und als der Prüfer dem Fahrlehrer voller Empörung erzählt, er sei, als er von Niederlahnstein kommend in die Stadt gefahren war, von einem gelben Opel, der die Arenberger hinuntergeschos¬sen kam, dermassen massiv geschnitten worden, dass er beinahe in ein parkendes Auto gekracht wäre, bemerkt unser Gitarrenheld trocken: „Äh … das war ich. ’Tschuldigung!“ Er durfte gleich rechts ranfahren. Vielleicht hätte ich ja bei einem für mich günstigeren Verlauf unseres Ausflugs einen Rabatt vom Vater gekriegt, also für den Fall, dass er mich nicht gleich postwendend aus dem Haus gejagt hätte, und womöglich ist die unerwiderte Liebe zur Tochter eines Tankstellenpächters der Grund, warum ich nie den Führerschein gemacht habe.
Manuela ist selbstredend zu Hause, freut sich, macht Tee. Earl Grey. Ich möchte ihr „Hippie from Olema“ vorspielen, ein lustiger Song, wie ich da¬mals noch finde, eine Parodie auf das reaktionäre „Okee from Muskogee“ von Merle Haggard, den ich früher häufig im AFN gehört habe, in der Countrysendung zwischen fünf und sechs in der Früh. Manuela kennt weder das eine noch das andere, und wem das Original nicht geläufig ist, sagt die Parodie natürlich nichts. Womöglich weiss sie nicht einmal, wo Muskogee liegt. Ein gewisser Lowell Levinger hat die „Hippie“-Version geschrieben, genannt Banana, dichte Matte und ein geradezu rheinischer Schnurrbart, also selbst ein Hippie. Später wird er erzählen, dass Merles Anwälte gedroht hatten, ihn zu verklagen, weswegen er eine neue Melodie um die alte herumkomponieren musste. Erst die fünfte Version hatten sie akzeptiert, deshalb „Hippie From Olema # 5“. So ein Song muss ihr doch gefallen, ich will ihre Grübchen zucken sehen.
Schreite nach der Teezeremonie wie selbstverständlich zum Plattenspieler, immerhin ein Braun, hole die LP aus der Hülle, aus der Innenhülle, lege das gute Stück auf den Teller, ziehe den Tonarm zurück, die Scheibe beginnt sich zu drehen, die Nadel setzt auf, es knistert, für mich das Normalste der Welt, monatelang habe ich im Don-Bosco-Heim Platten aufgelegt. Manuela runzelt die Stirn. Sie wippt nicht mal, obwohl die Melodie rhythmisch keine Wünsche offen lässt. Und erst der Text, sie kann Spiesser doch auch nicht ab, oder? Wieso sässen wir sonst hier? „We don’t watch commercials in Olema, we don’t buy the plastic crap they sell. We still wear our hair long like folks used to, and we bath often, therefore we don’t smell.“
Ehrlich gesagt hat uns der lange Marsch ein wenig ins Schwitzen gebracht, ich weiss also nicht, ob ich nicht doch ein wenig müffele. Sie findet den Song: „Och jo, ganz nett!“ Ganz nett! Und ich war überzeugt, sie sei ein bodenständiges Mädchen mit Hang zur Ironie. Ralf streckt ihr seine Platte hin, sie hat ausreichend Zeit, sich das Cover zu betrachten und nach Ralfs ermunternden Worten – „Kannste ruhig mal auflegen!“ – nimmt sie die Platte aus der Hülle, der Innenhülle usw., ohne Stirnrunzeln. Das Ding ist wohl gelaufen, oder? Dabei habe ihr immerhin den Rundumservice geboten. Quintessence also, Sitar, Flöte, Krishnagechante, rundum schrecklich. Wobei, Sitar geht ja noch. Aber ausgerechnet Flöte! Gerade war ich der Realschule entronnen, wo der Musiklehrer mit der Blockflöte um sich geschlagen hatte. Das war damals so Usus und immer noch besser, als wenn er uns etwas darauf vorspielte, getreu dem schönen Satz von Mozart: „Was ist langweiliger als eine Flöte? Zwei Flöten!“ Die von Quintessence klingen so, als hätten sie versucht, Räucherstäbchen in Töne zu giessen. Sie sind schon vor Jahren an einen Hindupapst namens Swami Ambikananda geraten, dessen Name schon nach Parodie klingt, und der verpasst ihnen Hindu-alter-egos, so dass Leute wie Phil Jones oder Richard Vaughan plötzlich Shiva Shankar oder Sambhu Babaji heissen. Ich bin nicht anfällig für Gurus egal welcher Art, da hat die Kirche ganze Arbeit geleistet, trotz Don Bosco und Pfarrer J., den es auch nicht ewig in den Armen der Kirche gehalten hat. Wobei man allerdings ehrlich sagen muss: So eine dickliche Götterfigur aus Asien passt von ihrer Figur her viel besser als so ein spirreliger Hippie wie Jesus. Gleich um die Ecke, im Londoner Stadtteil Ladbroke Grove, proben übrigens auch Steamhammer, so nahe liegt das eigentlich beieinander, gerade so wie bei uns in der Grosswohnstube. Unser Mitbewohner Mazzi, der einzige in unserer WG, der einer geregelten Arbeit nachgeht, hat – damals eine innovative Sensation – seine Stereoanlage mit dem Tonband an eine Zeitschaltuhr gekoppelt, so dass jeden Morgen Schlag fünf Uhr der Raum mit dem nicht unbedingt zurückhaltenden Klängen von „I Wouldn’t Have Thought“ beschallt wird. Manchmal, wenn wir die Nacht zum Tage gemacht haben, geht das ineinander über, nicht gerade nahtlos, aber immerhin. Am frühen Abend aber wird bevorzugt Orientgesäusel aufgelegt. Gut, wir hatten schon im Frühjahr in Ems Ravi Shankar gehört und dazu eine Flasche Picon geleert, zu zweit, beileibe keine schlechte Mischung, aber dieses Gechante, Gezirpe, Gegonge und Gebrumm, das konnte einem schon aufs Gemüt schlagen. Das Merkwürdige an der Geschichte: Weder passt die brachiale Musik von Steamhammer zu jemandem, der sich eher mal ein paar Gedanken zuviel macht, also mir, noch die tranceartigen Klänge zu einem Menschen wie Ralf und seinem ausgeprägten Sinn für Ironie.
Es ist nicht so, dass Manuela nicht ein kleines bisschen Entspannung gebrauchen könnte. In der Schule wirkt sie manchmal ein wenig hibbelig. Natürlich gefällt ihr die aktuelle Situation, sie schmeichelt ihr ja. Gleichzeitig macht die unser „Tea for Three“ nervös, denn einem von beiden würde sie wohl weh tun müssen. Jetzt aber erstarrt sie, schliesst die Augen, legt den Kopf schief. Schnurrt sie? Mist. Herrje, ich war mir meiner Sache so sicher gewesen, und erst in diesem Augenblick geht mir auf, dass wir hier eine Art Vorstellungsgespräch führen, dass sie uns gegeneinander ins Rennen geschickt hat. Wozu genau, weiss ich nicht, rein äusserlich sind wir in etwa gleich attraktiv: Leptosomie in Tateinheit, hochgeschossen, langhaarig, mit Andeutungen von Bartwuchs, beide von einer gewissen Wollmützigkeit, halbwegs gebildet und sensibel, nur leider nicht sensibel genug für die Situation, jedenfalls was mich anbelangt. Beide haben wir eine natürliche Scheu vor besitzergreifenden Fürwörtern entwickelt. Ich bin Spätentwickler aus Leidenschaft, da muss es die Musik richten. Jetzt, mit neunzehn, bin ich auf dem Entwicklungsstand eines Siebzehnjährigen, ständig mit einem mulmigen Gefühl auf der Brust, wie eine Gazelle in der Serengeti, aber nicht annähernd so schnell, gehetzten Blickes, alle Richtungen überblickend in Erwartung des nächsten Angriffs. Wahrscheinlich hätte ich bei den Fünfzehnjährigen gute Chancen gehabt. Über meine Gefühle bin ich mir vorher nicht im Klaren ge¬wesen. Was hatte ich mir erhofft? Einen Satz wie: „Ich möchte Sie gerne zur Beobachtung über Nacht hier behalten, mein Herr!“ Ehrlich gesagt hätte ich keine Ahnung gehabt, wie ich hätte reagieren können, weil: Jungfrau. Einige von uns hatten schon, ich nicht. Das Vokabular dazu: „bujje“ oder „Knöppche mache“ passte mir schon nicht, dieses verächtliche Gehabe mei¬ner Altersgenossen, viel Lust machte das nicht. Aber ich will nicht ablenken, denn wahrscheinlich spielen Präsentation, Engagement und Überzeugungskraft auch eine Rolle, kurz: der Charakter, und einfach auch, wie jemand riecht, aber mir geht es um das Wesentliche, um die Musik: Die Welt ist eine Scheibe. Mein beherzter Griff zum Plattenspieler ist wohl der Knackpunkt ge¬wesen, als hätte ich damit versucht, die alten Geschlechterrollen zu zementieren: Platten als Männersache. 1971 gehen die Uhren schon anders. Ist mir nicht klar gewesen, tut mir leid. Letztlich habe ich keine Ahnung, wa¬rum ihre Entscheidung nicht zu meinen Gunsten ausfallen würde. Vielleicht meine Erwartungshaltung, die ohnehin wie eine Bugwelle vor mir herschwappte: „Wird wieder nix!“ Während wir also wacker zurückstapften, wussten wir beide nicht, woran wir waren, aber ihre Reaktion hatte nichts zu deuteln übrig gelassen und eine schriftliche Begründung war eher nicht zu erwarten. Wobei ich mich an kein Indiz erinnern kann, das Ralf den Zu¬schlag erhalten wird, kein Blinzeln, kein Geflüster, keine längere Umarmung. Umarmung steckten damals noch in den Kinderschuhen. Es ist eher ein Gefühl. Allerdings kann ich mich auch an kein einziges Detail aus ihrem Zimmer erinnern.
Zwei zersauste Dezemberflaneure schreiten die Lahnpromenade entlang. Bei einigen Geschäften sind die Schaufenster mit Packpapier verkleidet. Wahrscheinlich ziehen sie die Puppen um, meint Ralf. Wir lachen. Noch ein Punkt für ihn. Zwischenstopp beim Hähnchen Clem, der aus uns nicht erfindlichen Gründen noch geöffnet hat, es ist nach elf. Ein halbes Hähnchen, um uns zu rüsten für den Rückweg. Vorher hatte ich schon einen beherzten Schluck aus der Pulle nehmen müssen, um das Bergamotte des Earl Grey aus meinem System zu spülen. Im Dunkeln macht die Stadt sogar ein bisschen was her mit ihren strahlenden Lichtern. In mir strahlt es deutlich weniger, ich habs vermasselt. Habe ich vielleicht ein Gewohnheitsrecht auf gescheiterte Beziehungen bzw. deren Anbahnungen? Ich bin auf dem besten Weg in eine Torschlusspanik – mit 19. Ralf kann ich dafür schlecht verantwortlich machen, schliesslich ist er einer meiner besten Freunde. Oder ist da doch was? Mag er Quintessence überhaupt oder sind die Halbtagsinder Teil einer ausgeklügelten Taktik? Ich werde mich hüten, ihn zu fragen. Jetzt ist Grossmut gefragt. Ob wir über die Sache geredet haben? Natürlich nicht. Es gibt wichtigere Themen. Der Bürgerkrieg in Kambodscha. Die Loslösung von Ostpakistan von Westpakistan. Vor einer Woche ist der bulgarische Aussenministerin nach einer Wanderung erforen aufgefunden worden. Die TuS hatte am Sonntag 5.1 gegen Phönix Bellheim gewonnen. Solche Sachen. Ein heldenhaft-idiotischer Satz wie „Wenn du sie haben möchtest, nimm sie!“ ist nie gefallen. Verständnis, Pathos, Männerfreundschaft, Beschränktheit. Am besten wird es sein, dieses Land zu verlassen. Ich habe keine Ahnung, wo in etwa Olema auf der Karte zu finden ist, Kalifornien, schon klar, aber Kalifornien ist gross. Egal, ich werde es finden. Notfalls gehe ich nach Muskogee, und das liegt in Oklahoma, Miss!
Wir haben es noch nicht geschafft. Durch die Unterführung am Hauptbahnhof, die alte Limesstrasse hinauf, wieder in den Busch. Meine Version vom Pfeifen im Walde kommt mir plötzlich irgendwie bekannt vor, was ist das bloss für eine Melodie? Ich denke, dass ich ein wenig rot werde, als mir klar wird, was ich da um Gottes Willen vor mich hintrüdele: „Things look great in Nottinghill Gate“. Das ist Quintessence, pfui Spinne. Manchmal habe ich den Eindruck, dass mein gesamtes Leben keine besonders gute Idee ist. Die Youngbloods sind es jedenfalls nicht, in dem Zusammenhang. Quintessence = Seele. Youngbloods = Körper. Schweiss, Staub, alkoholische Getränke, ehrliche Arbeit, Werte, mit denen ich mich identifizieren konnte bis auf viel¬leicht letzteres. Schon die Titelauswahl: Driftin’ and Driftin’ – nicht gerade ein Beweis für Standorttreue. Pontiac Blues – Autos sind Themen für Buben, selbst wenn sie keine Fahrerlaubnis haben. Nicht mal was für Mädchen, die schwach nach Shell # 5 duften. „I’m a Hog for you, Baby“ – ich bin ein Eber für dich, Baby. Noch Fragen? Nicht mal mit „Good and Dusty“ konnte ich punkten, mit Staub kommt man bei Ladies nirgendwo hin. Soll man sich beim Stellvertreter-Sängerwettstreit grundsätzlich eine Strategie zurechtlegen oder ohne Rücksicht auf Verluste ehrlich bleiben? Wobei Verluste eigentlich noch keine zu beklagen waren. Mit einem Mal bin ich geradezu erleichtert: A little bit of Liebeskummer würde mich auf Wochen hinaus komfortabel mit Selbstmitleid ausstatten, meinem Lebenselixir, das, wie ich glaubte, kontinuierlich fruchtbare Texte generierte.
Den Hohen Malberg lassen wir rechts liegen, schlagen uns am Alten Forsthaus rechts in die Büsche, am Königsstiel vorbei, um schliesslich, nach mehrmaligen Hakenschlagen, am Weinberg zu landen. Gegenüber, auf der anderen Rheinseite, blinkt die Königsbacher Brauerei. Wozu braucht eine Stadt mit dem Namen „Brau“bach eigenlich Weinstöcke? Natürlich trinken wir Wein, aber eher edlere Tropfen, z. B. „Edler von Mornag“, wobei sich kein Schwein darum schert, wo nun wieder dieses Mornag liegt. Sicher nicht in der Nähe von Muskogee. Zu unserer Linken der Schatten der Marksburg, die ich im Leben noch nie besichtigt habe. Ich bin direkt neben einem Aussichtsturm gross geworden, mit exzellentem Blick auf das Flusstal, das von hochherrschaftlichen Häusern gesäumt wird. Mein Bedarf ist also erst einmal gedeckt. Oftmals sammelte sich in diesem Tal der Nebel, und selbst der Turm konnte einem nichts als Aussichtslosigkeit vermitteln.
Über zwanzig Jahre später hätte ich Gelegenheit gehabt, die Youngbloods- Niederlage ein für alle mal zu bereinigen. Wir sitzen mit ein paar Leuten in einem WDR-Hörfunkstudio um die Mikrofone versammelt, mir gegenüber die bezaubernde Mimi Fariña, die ich gleich interviewen darf. Der Typ, der sie begleitet, kommt mir vage bekannt vor, und ich falle fast vom Stuhl, als er sich vorstellt: Banana! Zu meiner weiteren Begeis¬terung gesellt sich ein flüchtiges Bild von Manuela. Was soll ich sagen? Dass mir einmal ausgerechnet ein Song von ihm die Tour bei einem Mädchen vermasselt hat? Lächerlich. Erstens hab ich’s selber vergeigt. Zweitens ist es verjährt. Drittens: Who the fuck cares? Was hätte ich auch sagen sollen? Ich wollte ihn nicht einmal nach seinem albernen Spitznamen fragen, am Ende war es etwas Anrüchiges, die Sendung lief nachmittags, vielleicht hörten Kinder zu. Wahrscheinlich aber nicht.
Wer weiss, wie es gelaufen wäre, wenn ich Manuela „Get together“ vorgespielt hätte, mit dem Süssholzraspeltenor von Jesse Colin Young? Wahrscheinlich kaum anders, womöglich wäre ich später in einem See von Earl Grey ertrunken, einem der abartigsten Getränke der Moderne überhaupt, und die Musik dieser staubfreien Hindus vom Nottinghill Gate, die Ralf ausgesucht hatte. Wir hät¬ten – entre nous – kaum zueinander gepasst, Manuela und ich, und streng genommen hat mir Bananas Song die Augen göffnet. Auch auf „Good And Dusty“ hört man dieses Assugrinorgan, aber dazu kommt eben eine gehörige Schippe Dreck, gut und staubig, echter Staub – kein künstlicher wie bei Humble Pie; sogar ein paar original angestaubte Songs sind drauf, Coverversionen wie Stagger Lee oder „Will The Circle Be Unbroken“, also eher zu Anchor Steam Beer passend als Earl Grey.
Keine Ahnung, ob Manuela bei irgendeiner Sekte gelandet ist und Ralf je jemanden kennengelernt hat, der bei Quintessence spielte. Banana jamt sich munter weiter durch die Bay Area, wieder unter seinem echten Namen Lowell Levinger, aber er muss immer noch „Banana“ aufs Plakat schreiben, damit die Leute wissen, wer er ist. Ihm eignet nur noch wenig bananenhaftes. Früher der klassische Bürgerschreck, der aussah, als sei er gerade aus einem Cartoon der Fabulous Furry Freak Brothers von Gilbert Shelton heraus¬gestolpert, könnte er mittlerweile problemlos bei der Nitty Gritty Dirt Band anheuern.
Die ganze Geschichte ist mir übrigens 43 Jahre später eingefallen, als ich vom Emser Bahnhof zum Kurhotel gehe, und allein auf dem kurzen Abschnitt bis zur Lahn hinunter an fünf Ladengeschäften nacheinander vorbeikomme, die mit Packpapier oder Pappe zugeklebt sind. Sicher nicht wegen der Puppen, es sind gar keine Modegeschäfte. Von der fraglichen Nacht habe ich ein Bergamottetrauma zurückbehalten, sonst ist alles gut. Nach dem 11. September 2001 landete der Song „Get together“ übrigens auf der schwarzen Liste der Lieder mit fraglichen Texten. Mimi Fariña, die kleine Schwester der Baez, ist im selben Jahr im Alter von nur 56 Jahren gestorben. Und ich hoffe immer noch, dass die Zimmer in den Altersheimen schalldicht sind.
Beatlemania!

1. Auflage 2010, ca. 140 Seiten, mit über 100 Fotos, Dokumenten u. Faksimiles
ISBN: 978-3-7844-3221-2
19,95 EUR D / 20,60 EUR A / 34,50 CHF (UVP)
LangenMüller
Als sie noch live auftraten, wurden sie von ihren Fans in einem Maße verehrt, wie es keiner anderen Popgruppe je zuteil wurde. Der Kult um die vier Jungs aus Liverpool hält bis heute ununterbrochen an. Die Beatles haben die Musik revolutioniert und die Menschen begeistert. Die Beatles und ihre Fans – das ist ein seit damals andauerndes Liebesverhältnis, fast schon eine Weltanschauung. In diesem aufwändig und liebevoll gestalteten Album wird diese besondere Beziehung dokumentiert – mit vielen raren, zum Teil unveröffentlichten Fotos und Texten. Ein Buch von Fans für Fans.
Mit Texten von Horst Fascher, Lisa Fitz, Chuck Hermann, Jürgen Herrmann, Chris Howland, Klaus Kreuzeder, Gabriele Krone-Schmalz, Uschi Nerke, Abi Ofarim, Brian Parrish, Helmut Schmidt, Manfred Sexauer, Tony Sheridan, Pete York uvm.
Fotos von Bubi Heilemann, Werner Kohn, Ulrich Handl, Rainer Schwanke, Frank Seltier, Günter Zint u.a.