Matthias Wittekindt A MILLION MILES AWAY ( Rory Gallagher)

Ich umklammere das Plastiklenkrad mit beiden Händen. Was aber nichts bringt, in so einer Situation. Vor meinem Fiat 600. Breit, zäh dunkel. Die Elbe. Runter. Der Deich. Steil runter. Es ist Nacht. Dann der Schlag. Noch ein Schlag. Der Atem läuft nicht mehr. Das Herz arbeitet gegen etwas an. Das Blut staut sich unter der Haut.

A Million Miles away

„Schön hier.“
Gut, dass sie endlich mal was gesagt hat!
„Möchtest du was hören?“
„Ja.“
Die Kassette in der Ablage. Rechts unten bei ihr. Ich beuge mich über ihre Beine. Suche. Sie zieht ihre Beine ein Stück hoch. Ich denke an nichts, aber ich komme schon mal an ihre Beine ran, mit der Seite meines Gesichts. Halb Beine, halb das lackierte Leder ihrer Stiefel.

A Million Miles away

Das war ja die Zeit, von der ich gerade erzählt habe, in der sich die Mädchen in meiner Klasse komplett verändert haben, die kurzen Röcke vor allem, die weißen Lacklederstiefel, die glatten Beine aus Nylon. Man kann sich die Erregung vorstellen. Es gibt ja immer unendlich viele Realitäten, und so war das, was für mich Frühling war, für andere der deutsche Herbst. Ich selbst war damals ein krimineller Gymnasiast. Ich fuhr einen Fiat 600, obwohl ich keinen Führerschein hatte.

Wenn man es übertreibt, nervt es irgendwann. Ich komme also wieder hoch von ihren Beinen. Gesagt, dass sie das unangenehm findet, hat sie nicht.
„Pass auf!“
Ich lege die Kassette ein. Als erstes kommt ein Horrorhörspiel. Rory Gallagher kommt erst nach dem Horrorhörspiel. Ich bin der Meinung, ihr könnte das gefallen, dass wir nachts an der Elbe stehen, mit offenem Faltdach und ein Horrorhörspiel hören.
Irrtum! Mit Text im Hintergrund kann man sich nicht richtig unterhalten. Man kommt auch nicht in Stimmung. Außerdem spielt das Horrorhörspiel an einem Fluss, und eine Frau wird auf eine Weise umgebracht, dass sie sehr lange schreit. Sie guckt mich an und fragt, ob mir so etwas gefällt. Ich steige aus. Sofort. Gehe vor den Fiat. Setze mich auf die Motorhaube. Sie soll kommen, wenn sie will. Ich ärgere mich über meine Idee mit dem Hörspiel. Ich ärgere mich über sie. Ich bin beleidigt.

Am Abend vorher haben wir uns kennen gelernt. Bei einem Konzert von Rory Gallagher. Musikhalle Hamburg. Angeblich war es extrem schwer, Karten für dieses Konzert zu bekommen. Ich bekam sie von Christian:
„Brauchst du noch mehr Karten? Ich hab´ noch welche.“
„Nee.“
Ich gehe hin, mit den anderen. Die Musik ist live noch besser als auf Platte. Als es halb vorbei ist, tun mir die Ohren weh. Meine Mutter hat mir erzählt, was da passiert in den Ohren. Meine Mutter ist Wissenschaftlerin. Ich gehe also nach hinten, um später im Leben nicht taub zu werden. Und weil sich alle, denen es egal ist, ob sie taub werden, nach vorne drängen, ist es hinten ziemlich leer. Sie steht an einem Pfeiler. 17 würde ich schätzen. Es ist Liebe auf den ersten Blick, denn sie sieht sehr gut aus. Ich hatte bis dahin nur mit Mädchen geschlafen, die ich vorher kannte. Jetzt hatte ich eine Vorstellung von einem Mädchen, mit dem alles anfängt und aufhört, ohne dass man sich kennt. Ich stelle mich neben sie.
„Hallo.“
Sie guckt mich an.
„Kommst du aus Hamburg?“
„Aus Bergedorf.“
„Echt? Ich komme aus Reinbek!“ (Reinbek liegt neben Bergedorf.)
Wir haben keine gemeinsamen Freunde, also sprechen wir lange über ein Chinarestaurant und über chinesisches Porzellan. Dann will sie rauchen. Wir gehen raus. Sie raucht. Und dann kommt raus, dass sie auf die Realschule geht. Endlich hat sich das chinesische Thema erschöpft, und ich mache einen Vorschlag:
„Hast du Lust, dass wir morgen mit dem Auto raus fahren? Ich fahre manchmal an die Elbe, ich habe ein Auto und Musik, einen Fiat 600, der ist zwar klein, aber ein Oldtimer mit Faltdach bis hinten, da kann man die Sterne sehen, wenn man die Sitze flach macht, hast du Lust?“
Sie ist irritiert: „Hast du überhaupt einen Führerschein?“
„Ich hol´ dich am Chinarestaurant ab. Neun Uhr.“

Die Beifahrertür wird geöffnet. Sie besucht den Beleidigten auf der Haube.
Sie bleibt stehen.
Warum bleibt sie jetzt stehen!
Schritte. Sie setzt sich neben den Beleidigten.
Dem Beleidigten wird heiß. Ein Gefühl, als würde er aufgeblasen. Er will sie sofort haben, doch leider ist der Beleidigte gerade erstarrt und hat sich total überschätzt mit der Fremden. Die Frau auf der Kassette schreit, aber das ist schon der Abspann des Hörspiels. Gleich kommt Rory Gallagher. Es ist völlig anders mit einer Fremden. Sie fangen an zu klatschen. Rhythmisch. Rory - Rory, schreien sie. Dann, die ersten scharfen Akkorde. Mit Pausen. Der Beleidigte schwebt wie ein roter Ballon.

A Million Miles away

Sie macht es. Ihre Hand. Mein Kopf wird gedreht, zu ihrem Mund gezogen und - kurze Verhaltung - geküsst. Der Bass setzt ein. Zart, aber bestimmt. Weibliche Werbung. Vier Zeilen Gesang. Schlagzeug setzt ein. Noch mal vier Zeilen Gesang. Dann männlicher Ansatz. Auflösung der Hemmung. Gitarre. Kleine zitternde Stöße, Cluster aus Tönen. Bass, Schlagzeug, Gitarre. Töne abgeschossen in die Lücken. Kurzer Übergang mit Verhaltungen. Erster Ausbruch. Langes Solo mit langen Tönen. Erzwungene Rückhaltung. Vier Zeilen weiblich. Erwähnung der Milchstraße. Dann endgültig Gitarre. Keine Zurückhaltung. Bis zum Schluss. Immer wieder das Gleiche. Finale sehr stark. Alle gleichzeitig. Ende.

A Million Miles away

Ich hatte eine Vorstellung von Unendlichkeit, ich hatte eine Vorstellung von Autos, die mich irgendwo hin bringen, ich hatte eine Vorstellung von Musik, die mich irgendwo hin bringt, ich hatte eine Vorstellung von einem Mädchen, mit dem alles anfängt und aufhört, ohne dass man sich je richtig kennt. Das Letzte war natürlich nur der extrem lässige Einfall eines 17 jährigen ohne Führerschein. Es kam anders. Dass es so anders kam, hat etwas mit unserer Tochter und unseren Enkelkindern zu tun.

Beatlemania!
50 Jahre Beatles! Wir feiern mit einem sensationellen Bildband von Fans für Fans, mit Insider-Stories, fantastischen Fan-Fotos, Dokumenten und Faksimiles.

1. Auflage 2010, ca. 140 Seiten, mit über 100 Fotos, Dokumenten u. Faksimiles
ISBN: 978-3-7844-3221-2
19,95 EUR D / 20,60 EUR A / 34,50 CHF (UVP)
LangenMüller

Als sie noch live auftraten, wurden sie von ihren Fans in einem Maße verehrt, wie es keiner anderen Popgruppe je zuteil wurde. Der Kult um die vier Jungs aus Liverpool hält bis heute ununterbrochen an. Die Beatles haben die Musik revolutioniert und die Menschen begeistert. Die Beatles und ihre Fans – das ist ein seit damals andauerndes Liebesverhältnis, fast schon eine Weltanschauung. In diesem aufwändig und liebevoll gestalteten Album wird diese besondere Beziehung dokumentiert – mit vielen raren, zum Teil unveröffentlichten Fotos und Texten. Ein Buch von Fans für Fans.

Mit Texten von Horst Fascher, Lisa Fitz, Chuck Hermann, Jürgen Herrmann, Chris Howland, Klaus Kreuzeder, Gabriele Krone-Schmalz, Uschi Nerke, Abi Ofarim, Brian Parrish, Helmut Schmidt, Manfred Sexauer, Tony Sheridan, Pete York uvm.
Fotos von Bubi Heilemann, Werner Kohn, Ulrich Handl, Rainer Schwanke, Frank Seltier, Günter Zint u.a.