Christian Pfarr: Mikrokosmos und Makrokosmos (Ekseption/Chicago)


Meinen ersten Auftritt als Rockmusiker hatte ich an der Orgel der katholischen Kirche St. Philippus und St. Jakobus in meiner mikrokosmisch kleinen Heimatgemeinde am bayerischen Untermain. Ich verdanke ihn Rick van der Linden, dem Keyboarder der holländischen Klassik-Rock-Crossover-Band Ekseption. Und das kam so: Ich hatte mir im Jahr 1973 das ofenfrische Ekseption-Album Trinity zugelegt, dessen Eröffnungstrack eine effektvolle Bearbeitung der bekannten Toccata und Fuge in d-Moll von Johann Sebastian Bach darstellte.

Gekannt und gemocht hatte ich diese Gruppe schon vorher – erstens, weil für einen rockbegeisterten Klavier- und Orgelschüler eine Band, bei der ein Tastenmann statt eines Gitarristen im Mittelpunkt stand, als Identifikationsfläche besonders attraktiv war; zweitens, weil das musikalische Konzept von Ekseption die pomadigen Sonatinen, Präludien und Fugen des eigenen Übungsrepertoires etwas weniger modrig erscheinen ließ; drittens, weil der unglaublich langhaarige und bärtige Rick van der Linden seine Adaptionen barocker und klassischer Themen so virtuos abfackelte, dass ihm auch bildungsbürgerliche Skeptiker (sprich: Musiklehrer) trotz seines Hippie-Outfits den Respekt nicht versagen konnten.

Nun begegnete ich also durch die Vermittlung von Ekseption zum ersten Mal Bachs berühmter Toccata und war so hingerissen, dass ich mir umgehend die Bach’sche Notenausgabe besorgte. Zu meiner freudigen Überraschung merkte ich bald, dass das Stück spieltechnisch weitaus geringere Anforderungen stellte, als der Höreindruck vermuten ließ. Allerdings nutzte ich den Notentext von Anfang an nur als Gedächtnisstütze und spielte die Toccata exakt in dem Tempo und der Phrasierung wie Rick van der Linden auf der Platte. Zudem behielt ich in der linken Hand und im Pedal – durchaus nicht im Sinne der Original-Partitur – den strikten Rock-Groove von Ekseption bei. In dieser Form brachte ich das Stück im Rahmen einer samstäglichen Vorabendmesse zur Uraufführung. Vor allem meine männlichen Altersgenossen, denen ich bislang höchstens einmal den einleitenden Orgel-Riff von Deep Purples Child in Time oder eine Paraphrase über A Whiter Shade of Pale während der Kommunionausteilung hatte bieten können, lagen mir förmlich zu Füßen.

Trinity ist bis heute mein Lieblingsalbum von Ekseption geblieben, auch und gerade weil hier der Anteil an Klassik-Bearbeitungen gegenüber den Eigenkompositionen eher gering ist, was seinerzeit postwendend die Erfolgskurve dieser Band stoppte. Zwei Anspieltipps für diejenigen, denen das Opus zufällig in die Hände fallen sollte: einmal Lonely Chase, die irrwitzigste Solo-Etüde für Hammond-Orgel der gesamten Rockgeschichte; zum anderen die heftig jazzrockende Improvisation mit einem gleichermaßen minimalistischen wie hochvirtuosen zweieinhalbminütigen Bass-Solo von Cor Dekker. Sowohl Cor Dekker als auch Rick van der Linden haben mittlerweile ein Dauerengagement im Rock’n’Roll-Himmel…

Den Makrokosmos bildete in jenen Jahren der sogenannte Kahlgrund am östlichen Rand des Rhein-Main-Gebiets, ein Seitental des Spessarts im bayerisch-hessischen Grenzgebiet, durch das sich das Flüsschen Kahl träge seiner Mündung in den Main entgegenwälzt.

Musikalischer Platzhirsch war dort während der gesamten Siebzigerjahre die Band Chicahlgrund, deren Kernrepertoire, man ahnt es, aus Songs der Brassrock-Band Chicago, daneben auch der stilistisch ähnlich gelagerten Gruppe Blood, Sweat & Tears bestand. Allein diese Live-Truppe schaffte es mit ihren wuchtigen Bläsersätzen und dem charismatisch-dicken Sänger Peter Müller, dass ganze Generationen von nachwachsenden Rockfans systematisch zu Chicago-süchtigen Blasrock-Junkies herangezüchtet wurden – die Zahl von Chicago-Anhängern dürfte im Dreieck zwischen Aschaffenburg, Hanau und Gelnhausen bis heute größer sein als sonst irgendwo in der Republik. Wenn man einmal – ich gehe jetzt mal von mir aus – 15 bis 20 Chicahlgrund-Konzertbesuche pro Jahr veranschlagt und das über vier, fünf Jahre hochrechnet, mag man ermessen, mit welcher – willkommenen – Penetranz dieser Sound das Geschmackssensorium der ländlich-jugendlichen Freizeitaktivisten damals bombardiert hat.
Wer Chicahlgrund live mochte, kaufte Chicago auf Platte. Die meisten begnügten sich mit dem für Einsteiger idealen Greatest Hits-Sampler Chicago IX; wer es genauer wissen wollte, begab sich auf eine aufregende Safari in den Brassrock-Dschungel der Alben I bis VIII. Da gab es jede Menge progressiven Rock, jazziges Bigband-Geschmetter und traumhaft melodiöse Balladen. Tja, und dann erschien 1976 das ominöse Album X, das auch noch ganz gut war, aber mit If You Leave Me Now der Gruppe die Pforte zum Erfolgshimmel aufstieß und gleichzeitig den Weg in die Kommerzhölle vorzeichnete.

Was danach von Chicago kam, war mehrheitlich Mist, Müll und Mumpitz, wenn auch höchst erfolgreich. Eine Weile noch hielt ich die Ohren offen, und ganz vereinzelt kamen da noch matt glänzende Perlen zum Vorschein. Aber die große Linie – und mit ihr die unvergleichlichen Bläser-Arrangements – war dahin.
Es gab dann 1995 ein mittlerweile schon nicht mehr erwartetes Wiederaufflackern alter Glut beim Night & Day-Album mit Swing-Standards im typischen Chicago-Sound (einschließlich einer Funk-Version von Glenn Millers In the Mood), dann 2008 die ersehnte Veröffentlichung des 1993 von der Plattenfirma als zu bläserlastig abgelehnten Albums Stone of Sisyphus – vielleicht eine als versöhnliche Geste zu akzeptierende Abschlagszahlung auf eine seit Ende der Siebzigerjahre offen gebliebene Rechnung.
Nachtrag 2015:

Mit dem 2014 veröffentlichten Album Chicago XXXVI – Now ist die Band zu ihrem ursprünglichen Brassrock-Konzept zurückgekehrt. Chicago haben möglicherweise keine Relevanz und wahrscheinlich keine Hits mehr – aber sie haben ihren Sound wiedergefunden. Cheers!

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Als sie noch live auftraten, wurden sie von ihren Fans in einem Maße verehrt, wie es keiner anderen Popgruppe je zuteil wurde. Der Kult um die vier Jungs aus Liverpool hält bis heute ununterbrochen an. Die Beatles haben die Musik revolutioniert und die Menschen begeistert. Die Beatles und ihre Fans – das ist ein seit damals andauerndes Liebesverhältnis, fast schon eine Weltanschauung. In diesem aufwändig und liebevoll gestalteten Album wird diese besondere Beziehung dokumentiert – mit vielen raren, zum Teil unveröffentlichten Fotos und Texten. Ein Buch von Fans für Fans.

Mit Texten von Horst Fascher, Lisa Fitz, Chuck Hermann, Jürgen Herrmann, Chris Howland, Klaus Kreuzeder, Gabriele Krone-Schmalz, Uschi Nerke, Abi Ofarim, Brian Parrish, Helmut Schmidt, Manfred Sexauer, Tony Sheridan, Pete York uvm.
Fotos von Bubi Heilemann, Werner Kohn, Ulrich Handl, Rainer Schwanke, Frank Seltier, Günter Zint u.a.