Wen interessiert es eigentlich, ob der Bundespräsident im Amt bleiben sollte oder nicht? Immer deutlicher wird, dass der Fall Christian Wulff vor allem für die Massenmedien relevant ist. Dabei geht es um die Vorherrschaft in der Aufmerksamkeitsökonomie und um die Frage, wer in Deutschland die Rolle des Super-Leitmediums spielen darf. Berliner Gazette-Autor Alexander Krex kommentiert.
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Vielleicht ist es Zufall, dass im Springer-Hochhaus, dort, wo die BILD-Zeitung sitzt, einer der letzten Paternoster fährt. Oder es ist kein Zufall, und der Paternoster fährt auf ausdrücklichen Wunsch von Kai Diekmann, dem Chefredakteur der BILD. Vielleicht hat er eine Aufzugphobie, vielleicht braucht er das Gefühl, jederzeit abspringen zu können? Könnte doch sein, schließlich weiß der Mann, dass jeder, der mit der BILD im Aufzug nach oben fährt, irgendwann wieder mit ihr nach unten fährt.
Das ist BILD-Logik, das ist Boulevard-Automatismus. Es ist das Diekmann’sche Credo, auch wenn es nicht von ihm geprägt wurde, sondern von Matthias Döpfner, dem Vorstandsvorsitzenden der Axel Springer AG. Dass dieses Bonmot die reine Wahrheit ist, bekommt der Bundespräsident gerade zu spüren.
BILD, die sechste Gewalt
Wenn es stimmt, dass die Medien die vierte Gewalt sind und das Internet die fünfte Gewalt ist, dann ist die BILD die sechste. Schon morgen könnte Deutschland ein Land sein, dessen höchster Repräsentant von einer Boulevardzeitung gestürzt wurde. Einer Zeitung, die man am Kiosk oft an Dieter Bohlens Grinsen erkennt, noch öfter an chauvinistischen Kommentaren und immer an ein paar Brüsten (außer wir sind gerade mal wieder Papst).
Wie kommt es, dass sich Christian Wulff von diesem Blatt derart aus der Fasson bringen lässt? Fehlt ihm wirklich das Format, wie man jetzt immer wieder lesen konnte? Oder testet BILD gerade, was da noch geht: Will sie von sich behaupten können, den Bundespräsidenten niedergerungen zu haben? An der passenden Schlagzeile bastelt die Chefredaktion bestimmt schon.
Joachim Gauck nach Bellevue, Karl-Theodor zu Guttenberg ins Kanzleramt: So wünschte es sich die BILD – und so hatten bitteschön auch ihre Leser zu denken. Beides ging schief. Bundeskanzlerin Merkel setzte ihren Kandidaten Christian Wulff durch, nicht den von der BILD favorisierten Joachim Gauck. Und dann auch noch die unschöne Sache mit BILD-Liebling Guttenberg.
Trotz sülzender Hofberichterstattung („Guttenberg allein, die Guttenbergs zu zweit. Immer stimmt der Ton, passen die Gesten, sitzen Kleidung, Frisur.“) und Rückenwind von BILD-Kolumnist Franz Josef Wagner („Immer sah Guttenberg besser aus als alle anderen. Ich glaube, das war der Moment, wo die Jagd auf Guttenberg begann.“) stürzte Guttenberg, damals Verteidigungsminister, über seinen erschwindelten Doktortitel.
„Bei den meisten Deutschen…”
Sollte Wulff sein Amt niederlegen, wäre das zur Abwechslung mal wieder ein großer Sieg für die BILD. Zwischenzeitlich schien es zwar, als hätte die Zeitung dem Bundespräsidenten verziehen, zumindest war man nicht übermäßig gemein zu ihm. Aber Christian und Bettina waren eben doch nicht so boulevardtauglich wie K.T. und seine Stephanie. (Das änderte sich freilich mit der grandiosen Mailbox-Klimax.)
Aber der Bruch zwischen Wulff und BILD ist älter, so alt nämlich, wie seine Rede zum 3. Oktober 2010. Damals sagte der Bundespräsident: „Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“. Wenig überraschend, dass BILD das nicht Gutt fand. Sie kommentierte Wulffs Äusserung, entsprechend ihrer rechtskonservativen Blattlinie: „Bei den meisten Deutschen kam dieser Satz jedoch nicht gut an.“ Den Beweis für diese Aussage blieb sie dem Leser schuldig.
Kann nicht der SPIEGEL den Bundespräsidenten stürzen, kann es nicht die Süddeutsche Zeitung machen, oder die FAZ? Denn Gründe dafür gibt es genug, die hat sich die BILD nicht ausgedacht. Sie hat sie nur öffentlichkeitswirksam in Szene gesetzt. Oder, anders ausgedrückt: sie hat den Knopf im Aufzug gedrückt. Nächster Halt: Untergeschoss. Unsere Aufmerksamkeit hat dieses Medienspektakel nicht verdient.
Anm.d.Red.: Das Foto oben zeigt den Paternoster im Bundesministerium der Finanzen in Berlin und wurde April 2007 von Andreas Praefcke aufgenommen. Es ist unter der Creative Commons-Lizenz Namensnennung 3.0 Unported lizenziert.
11 Kommentare zu
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,808017,00.html
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offiziell heißt die parole: BILD wird enthüllungsmedium. was damit gemeint ist, zeigt auch der fall cwulff
Es wird sehr lautstark von Springer und Co. eingefordert. Döpfner hat im Zuge dessen immer wieder an die Politker appelliert.
Es geht bei diesem Recht um Wettbewerbsvorteile, die sich die großen Verlagshäuser sichern wollen und die Politik soll ihnen das durchwinken.
Jetzt zeigt Springer-Kampfblatt BILD, dass es nach Belieben einen Politiker (die Stimme des Staates im Falle des Bundespräsidenten) stürzen kann.
Ich weiss, es sind zwei eher unverwandte Felder.
Aber bekannt ist auch, dass Kompensation ebenso funktioniert: um die Ecke, indirekt abgeleitet, über Bande, Eier mit Äpfel aufwiegen.
Und hier ein seltener kritischer Kommentar zu dieser Medienkampagne, von einer Journalistin:
http://tv-orange.de/2012/01/keine-ethik-nirgends/
Keine Ethik. Nirgends?
Susanne Baumstark
5.1.2012
http://www.berliner-zeitung.de/medien/affaere-wulff-und-die-medien-bitte-keine-krokodilstraenen-,10809188,11417176.html