Geschichtszeichen und ökologische Krise. Thomas Seiberts „Zur Ökologie der Existenz“

Geschichte ist nach Marx‘ Kommunistischem Manifest die Geschichte der Klassenkämpfe. Für die spätmoderne Gesellschaft kann man es zuspitzen: Es ist die Geschichte der politischen Krisen und vor allem der ökologischen Katastrophe. Kapitalismus, der sich kybernetisch, global und über Datenströme entfesselte, der verwüstete Landstriche zurückläßt, Hunger und Ausbeutung produziert. Eine Natur, die aus den Fugen geriet. Die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ist komplizierter geworden, die Melodie der Gesellschaft spielt schneller, so daß jene revoltierenden Kräfte die Verhältnisse anders zum Tanz zwingen müssen. Auf diese spätmoderne Krisenerfahrung reagiert Thomas Seiberts Ökologie der Existenz.

Seibert versteht jene Ökologie als Krisenbuch, und das ist für die Gegenwart und auch vier Jahre nach dem Erscheinen des Buches aktueller denn je. Dabei möchte Seibert die verschiedenen Krisen nicht losgelöst betrachten, sondern im Zusammenhang verstehen – was einerseits einen Blick aufs Ganze der Gesellschaft ermöglicht, aufgrund dieser weiten Perspektive andererseits die Frage nach den Lösungen eines Problems aber nicht einfacher macht.

Die Krisen erkennen und damit implizit: verändernd eingreifen, und dies eben können nur Menschen. Deshalb stellt Seiberts die Frage nach dem Subjekt neu: Inwiefern wir als tätige Wesen in der Geschichte einen neuen Anfang bereiten können. Da Seibert sich an Hegel und Marx orientiert, tritt diese Kritik dialektisch auf, indem verschiedene Bereiche nicht nur aufeinander bezogen, sondern auch in ihren Widersprüchen, die zugleich Motor sein können, betrachtet werden. Jedoch reichen herkömmliche Krisentheorien, insbesondere solche orthodox-marxistischer Provenienz angesichts der sich verkomplizierenden Lage nicht mehr aus: wir haben es nicht mehr nur mit einer ausgebeuteten Arbeiterklasse zu tun – im Westen schon gar nicht, dort hat der Arbeiter materiell alles erreicht,  das Problem sind eher die Menschen ohne Arbeit oder die in prekären und unorganisierten Verhältnissen zur Arbeit gezwungen werden. Bei der Pluralität der Akteure in den sozialen Kämpfen (und auch angesichts der veränderten sozialen Lage in den meisten europäischen Gesellschaften, muß man hinzufügen) funktioniert der Griff aufs Proletariat als unbewegter Beweger nicht mehr. Dafür kann das stehen, was in linken Kreisen als Triple Oppression bzw. als Mehrfachunterdrückung bezeichnet wird.

Zudem gibt es aber ebenso einen wesentlichen und zentralen neuen Aspekt, der die verschiedenen Subjektpositionen wie Klasse, Geschlecht und sexuelle Orientierung überschreitet:

„Der ökologischen Krise und der von ihr aufgeworfenen ethisch-politischen Herausforderung kommen dabei insoweit eine paradigmatische Rolle zu, als die Ökologie sich von Anfang an systematisch an ausnahmslos alle (…) wendet und darin jedes Partikularinteresse überschreitet.“

Dieses ökologische Szenario verändert den Begriff der Klasse. Denn prinzipiell sind von dieser Krise alle betroffen. Seibert greift in diesem Kontext den Multitude-Ansatz von Michael Hardt und Antonio Negri aus den Büchern „Empire – die neue Weltordung“ und „Multitude – Krieg und Demokratie im Empire“ auf: eine Vielheit unterschiedlicher Akteure, die sich politisch organisieren, treffen und einmischen: Das reicht vom klassischen Arbeiter, über den Flüchtling bis zur LGBT-Bewegung. Einzelne aus verschiedenen Gruppen, die gemeinsam handeln – das also, was die linke Theorie besonders in Italien unter dem Begriff Postoperaismus faßte.

„Deshalb hängt der Neubeginn der Geschichte heute an der Neugründung einer Linken, die sich selbst wieder als Partei eines Anderswerdens der Welt im Ganzen verstehen könnte. Wenn das nicht mehr in der Form einer marxistisch-leninistischen Partei geschehen darf und kann, bleibt die Aufgabe selbst gerade deshalb immer auch eine Formsache, d.h. eine Sache des Wie.“

Wieweit solche Konzepte tatsächlich funktionieren und praktikabel sind, steht dabei auf einem anderen  Blatt: angefangen beim politischen Streit der unterschiedlichen Fraktionen und der Suche nach dem roten Stein der Weisen, den jeder für sich reklamiert.

Bei allen Konflikten und das bezieht auch die Frage nach der ökologischen Krise ein, bleibt die Ausbeutung des Menschen (durch den Menschen) bei Seibert eine zentrale Kategorie und ebenso das, was sich Pauperismus nennt:

„Prekarisiert zu sein heißt, von früh bis spät und überall ‚auf Abruf‘ sein zu müssen und trotzdem jederzeit ‚außer Dienst‘ gestellt und von allen Lebensmitteln abgeschnitten werden zu können. Es heißt darüber noch hinaus (und hier erst zeigen sich die Infamie und Perfidie des Prozesses) im Ganzen der Lebensnöte (…) dem Markt ausgeliefert und im  Falle der ‚Freisetzung‘ auf sein nacktes Leben, d. h. auf ein Nur-noch-am-Leben-sein reduziert zu werden: ein Schicksal, das heute schon Milliarden droht.“

Verkoppelt werden bei Seibert also jene gesellschaftlichen Fragen von Arbeit und Kapital mit den ebenfalls gesellschaftlichen Fragen der Ökologie. Etwas vergröbert kann man sagen, daß die Ausbeutung des Menschen und die Ausbeutung der Erde durch den Menschen in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen und die Struktur des einen die Struktur des anderen bedingt. Diese von Seibert konstatierten Krisen des Kapitalismus faßt er unter die Begriffe Globalisierung, Kybernetisierung und Individualisierung. Sie treiben im Prozeß auf einen Höhepunkt zu, der sich in jener ökologischen Krise manifestiert. Aber in diesem Punkt der Kulmination, so Seibert, liegt zugleich ein Akt der Freiheit und ein möglicher Wendepunkt. Wie schon im Mai 68 oder zur Französischen Revolution bringen Krisen auf Klimax Veränderung, sie zwingen die Menschen zum Handeln. Eine Situation ist derart zugespitzt, daß es so nicht bleiben kann. Seibert fokussiert die Probleme auf ihre politische und philosophische Dimension.

Dabei fährt er einen Schwung an Texten auf, mischt, mixt, kombiniert und erzeugt ein Feuerwerk aus Denker-Stimmen und Theoriebezug: Foucaults Machtkritik, Sartre, Marx, Gramsci, das Kollektiv Tiqqun, Bardiou, Žižek, Hegels Dialektik von Herr und Knecht, Irigary differenztheoretisches Weiblichkeitskonzept, Heideggers Seins- und Ereignisdenken, Deleuzes/Guattaris Deterritorialisierung. Plurales Design – was das Buch ungeheuer spannend und anregend macht. Sie alle sprechen mit- und gegeneinander, fallen sich ins Wort, ergänzen einander. Folie für den sozialen Protest ist der Mai 68 – so wie Seibert überhaupt in sein Buch eine Theorie historischer Daten einflechtet, von 1789 über 1848, 1917 bis eben zum Mai 68. Vermittelt sind diese „Geschichtszeichen“ über den Begriff des Ereignisses, der in den gegenwärtigen philosophischen Debatten der Linken einige Konjunktur hat – übrigens auch konzipiert über das späte Denken Martin Heideggers. Diese historischen Daten als geschichtliche, gesellschaftliche und politische Ereignisse werden dabei auch in bezug auf Heidegger gedacht:

„die Dialektik von Praxis und Existenz wird als die Dialektik ihrer Ereignisse zu entfalten sein.“ Und das ist bei Seibert zugleich in eine praktischen Sinne entwickelt , im Ereignisbegriff etwa bei Hardt/Negri. Dort steht er „für die politische Verdichtung verschiedener Werdensprozesse des Lebens, Sprechens, Arbeitens in historisch außerordentlichen Momenten, die deshalb auch die Konvergenzpunkte des Stellungs- wie Bewegungskriegs bilden.“

Seiberts liest diese Theorien nach dem Principle of charity. Er vermeidet es, die Schwächen des Gegners auszuweiden, sondern achtet dessen stärkste Position. Diese wohlwollende Optik erlaubt es ihm, in seinen Theoriekorpus Positionen zu integrieren, die linker Theorie auf den ersten Blick fremd sind. Etwa die Philosophie Heideggers. Was in Frankreich keine großen Nöte bereitet – man denke an Sartre, Lacan, Derrida, Foucault – wirkte für die deutsche Linke, als käme man mit dem Kirchenkreuz auf der Berliner Schloßkuppel oder entweihte Marx-Altäre. Seibert nimmt Heidegger als Gewährsmann für den Nexus von Existenz und Praxis und übersetzt ihn in eine Dialektik des Seins. Er liquidiert, verflüssigt also das sogenannte ontologische Fundament Heideggers. Seinsphilosophie wird von Seibert materialistisch bewegt. Heideggers Fundamentalontologie, das In-der-Welt-sein transformiert sich unter Seiberts Künsten der Dekomposition zu einer Ökologie der Existenz.

Wieweit im Gang der Argumente diese Kombination plausibel erscheint, erforderte eine längere Erläuterung. Methodisch wird sich Seibert an diesem Stellen vermutlich einige Kritik der Peer Groups einhandeln und auch von der Seite der Heidegger-Auslegung her wird es inhaltliche Kritik geben. Hier soll es aber nicht um die Richtigkeit der Argumente gehen, sondern um den Impuls und Impakt, den solches Denken womöglich auszulösen vermag. Seiberts Buch lese ich als gesellschaftskritische Anregung, verschiedene Aspekte – angesiedelt zwischen Praxis und Theorie – perspektivisch in eine neue Konstellation zu bringen. Interessant ist diese Verknüpfung, weil Seibert einen ungewöhnlichen Weg nimmt und seine kritische Relektüre Heideggers zudem von einer explizit linken, ökologischen Perspektive erfolgt und nicht als nationale Blut-und-Boden-Ideologie.

Zentral für Seiberts Projekt einer Ökologie der Existenz ist der im Sinne Heideggers gedeutete Begriff der Freiheit sowie Axel Honneths politisch-sittliche Anerkennungstheorie. Das dritte Kapitel seines Buches trägt den Titel „Kritik der Freiheit“. Es handelt sich dabei weder um eine subjektive noch um eine objektive Freiheit, sondern Freiheit ist, vermittelt durch den sozialen Raum, eine Bestimmung, die dem Menschen vorausgeht. Der mit anderen geteilte Raum bei Heidegger korrespondiert mit dem, was Marx das „ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ nennt. Mit Heidegger und Marx versucht Seibert eine existenzökologische Kritik in einem radikalen Sinne. Was bedeutet: Den Problemen in ihrer Komplexität bis an die Wurzel zu folgen und nicht, wie bei der Teilen der Linken beliebt, an der Oberfläche zu verharren und sich darin wie Narziss zu spiegeln. Das setzt einiges an Theorie voraus.

Seibert vermittelt in diesem Buch eine Vielzahl an Perspektiven: ästhetische wie gesellschaftliche: die Situationisten in Frankreich, die Kreativität des Pariser Mai, die Surrealisten. Ein Satz des Dichters André Breton, den Seibert zitiert, bringt das Verhältnis auf den Begriff: „Die Welt verändern, hat Marx gesagt; das Leben ändern, hat Rimbaud gesagt: Diese beiden Losungen sind für uns eine einzige.“ Auch hier also eine Verkoppelung unterschiedlicher Perspektiven.

Allerdings versucht Seibert viele Probleme zu stemmen. Die zentralen Linien zerfasern manchmal. Insofern hätte man sich für dieses ansonsten gelungene Buch zum Schluß eine Engführung der verschiedene Parcours gewünscht. Auch die Frage nach einer „verbindenden Partei“, sozusagen die nach dem sozialen Kitt, der die verschiedenen Linien innerhalb der sozialen Bewegung zusammenhalten könnte, bleibt bei Seibert offen. Man kann das als Mangel lesen oder als Chance fürs Offene begreifen. Daß nämlich im Konkreten der sozialen Kämpfe solche Prozesse und Verbindungen immer wieder neu ausgetragen werden müssen.

[Erwähnen sollte man in diesem Kontext und in der Konstellation Marx – Heidegger auch noch von Heinz Dieter Kittstein das Buch „Mit Marx für Heidegger. Mit Heidegger für Marx“, erschienen im Fink Verlag, 2004. Sehr witzig auch das Cover: Ein Bild von Heidegger  und Marx, im Stil einer Briefmarke, mit 55 Cent zu frankieren.)

Thomas Seibert: Zur Ökologie der Existenz. Freiheit, Gleichheit, Umwelt, Laika Verlag 2017, Broschur 472 Seiten, 29 €

 

Arik Brauer

Arik Brauer ist tot – das ist traurig. Mit seiner Malerei konnte ich nicht viel anfangen, wenngleich ich seinen Hinweis richtig fand, daß sich die Abstraktion leer- und totgelaufen habe, aber seine Lieder mochte ich und auch seine Person: mit Haltung für etwas einzustehen. „Für mich ist es keine Frage, dass die gegenstandslose Malerei am Ende angekommen ist“, so wird Brauer im Nachruf der FAZ zitiert.

Daß es in Wien ein Arik-Brauer-Haus gibt, wußte ich bisher nicht – das Hundertwasserhaus kenne ich, da ich im Weißgerber-Viertel zweimal gewohnt habe, und auch die von Hundertwasser gestaltete Müllverbrennungsanlage in Wien-Spittelau ist nicht nur gut bekannt, sondern auch weithin sichtbar, etwa wenn man auf der Friedensbrücke steht und in den Bezirk Alsergrund flaniert. Das Arik-Brauer-Haus steht im 6. Gemeindebezirk Mariahilf an der Gumpendorfer Straße. Und wenn ich all diese Namen höre und wenn ich an die Lieder von Arik Brauer denke, dann möchte ich unbedingt wieder ins schöne, herrliche und manchmal eben auch schrecklich-schöne Wien. Auch auf dieser Stadt liegt Vergangenheit und die war nicht immer nur gut. Man lese nur Robert Seethalers traurig-schöne Liebes- und Lebensgeschichte „Der Trafikant“.

Nun ist Arik Brauer nach einem langen und ereignisreichen Leben mit 92 Jahren gestorben – wobei „ereignisreich“ ein Euphemismus ist: Brauer gehörte als Sohn eines jüdischen Vaters zu denen, die von den Nazis verfolgt wurden. Seinen Vater ermordeten die Deutschen in einem Lager. Auch aus diesem Grunde setzte sich Brauer Zeit seines Lebens gegen Antisemitismus ein – auch gegen solchen aus der arabischen Community, da wo viele Linke, insbesondere jene, die sich intersektionalistische Linke nennt, oft wegschauen, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Einen schönen Artikel zu solchem nicht nur bei Deutschen vorkommenden Antisemitismus gibt es von Thomas M. Eppinger mit dem Titel „Gedenkenloses Gedenken„. Im Blick auf das Gedenken an den Anschlusses Österreichs an Deutschland im Jahre 1938 heißt es:

„Am Sonntag durchkreuzte der Störenfried Arik Brauer die traute Eintracht einer honorigen Runde im ORF. Heinz Fischer, der ehemalige Bundespräsident und Regierungsbeauftragte für das Gedenkjahr 2018, war zu Im Zentrum geladen, ebenso wie Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka, die Leiterin der KZ-Gedenkstätte Mauthausen Barbara Glück und der Historiker Oliver Rathkolb. Und eben Arik Brauer – als »Künstler und Zeitzeuge« und, wie man wohl annehmen darf, auch als Jude.“

Solche Stimmen, die auch unangenehme Wahrheiten aussprechen, fehlen heute. Vor allem aber seine Lieder und sein herber wie melancholischer Witz.

Candy-colored pictures mit Bittermandelgeschmack: David Lynch zum 75. Geburtstag

Es gibt Menschen, die glauben, man könne Ungewöhnliches nur erleben, wenn man sehr weit fortreiste oder in seinem von der Arbeit abgetrennten Freizeitalltag außergewöhnliche Dinge betriebe, die nur wenige Menschen tun. Das reicht von Fallschirmspringen bis Hegellesen. Ich tat in meinem Leben beides: das eine nur kurz, das andere über die Lebenszeit hin. Vor zehn Jahren, in den letzten Tagen des Dezember, in den Rauhnächten,  zum späten Abend, regnerisch war es und schon der Gang aus dem Taxi zur Tür des Restaurants beschmutze die schwarzen Lederschuhe, traf ich mich mit einer Frau, die ich im warmen Spätsommer im September in Hamburg auf einer Garten-Party kennenlernte und die mein Interesse geweckt hatte, in einem In- und Schicki-Micki-Restaurant in Hamburg  namens „Bullerei“. Wir begrüßten uns, leicht verlegen und doch auch beschwingt, bestellen Rotwein, tranken und speisten eine Kleinigkeit Beefsteak Tatar. Für die linksszenige Hamburger Sternschanze ein ungewöhlicher Ort. Wo es früher wild-bewegt zuging, nun gediegenes Ambiente für Betuchte, die Bier nicht aus der Dose süffeln. Alles anders als früher in den 1980er Jahren.

Irgendwann im Fluß dieses Gesprächs fragte mich jene Frau, was die weiteste Flugreise in meinem Leben gewesen sei. Ihre Augen schimmerten und ebenso ihre schönen blonden langen Haare. Wir saßen da, nicht, wie ich es mir gewünscht hätte, gepflegt an einem gedeckten Tisch aus grob-edlem Holz, sondern in seltsamen Sitz- und Knautschkissen, die vom Stoff zwar gediegen anmuteten, mich aber an eine Kindertagesstätte erinnerten, wo die Erzieher mit einer gewissen Zwanghaftigkeit die Kinder zu antiautoritärem Verhalten ermuntern wollten, was am Ende dazu führte, daß diese Kinder den Erzieherinnen heillos auf der Nase herumtanzten.

Beim Fragen jedoch hatte jene Frau in einer ausladenden Geste ihr Weinglas umgestoßen, was mir unangenehm war. Rotwein ergoß sich. Sie wieselte da auf den Knien am Boden herum und wischte mit einer Stoffserviette. Es eilte die Bedienung heran und half, während ich mir, unschlüssig daneben stehend, das Treiben ansah und auf ihren gut geformten Arsch blickte, der da in die Höhe ragte, und ihn mit dem Hinterteil der Bedienung verglich. Der von Lovely Linda war umwerfend. Ich hätte gerne geholfen, doch ich konnte nicht. Es ist ein schwerwiegender Nachteil, wenn jemand eine Existenz im Ästhetischen führt und zum Handeln nicht fähig ist. Ich helfe dann nicht, sondern schaue auf Körperteile. Nicht korrekt, aber, wie Deichkind singt: „Leider geil!“ Jene blonde mittelgroße Frau besaß zwar keine besonders langen Beine – große Attraktoren haben kurze Beine, so pflege ich zu sagen –, zudem erschienen sie mir dünn, so daß ich eher von Beinchen sprechen möchte, aber dafür diesen ganz wundervollen Arsch und einen von Zeit zu Zeit witzigen und spritzig-kreativen Geist. So ist das mit Menschen aus der Werbe- und Internetbranche. Und ich mag Frauenbeine, die in Stiefeln und engen Jeans stecken. Was will man mehr: gesunder Körper, gesunder Geist. „Beten sollte man darum, dass in einem gesunden Körper ein gesunder Geist sei“ schreibt der römische Satiriker Juvenal. Diese Dinge sind allerdings wandelbar und zeigen sich ausgesprochen fragil. Ich überlegte mir beim Voyeurieren eine ausgefallene Antwort auf ihre ausgefallene Frage und versank dann wieder im Betrachten zweier Ärsche.

Und als wir nach getaner Aufräumarbeit von Damenseite in den eigenwilligen, unförmigen Sitzkissen, die eben dazu führen, daß auf dem Boden abgestellte Weingläser irgendwann zwangsläufig umkippen, hockten oder eher: preßten, und nachdem sie von ihrer Reise nach Japan erzählte, stellte sie mir diese Frage noch einmal. Eine Frage, die, so vermute ich, nicht auf Interesse abzielte, sondern auf das Exorbitante als solches aus ist. Ich hätte ihr als Ziele Anchorage (wie schön auch: Michelle Shocked), Neuseeland oder Feuerland nennen oder besser herlügen müssen. Ich erzählte ihr dann jedoch – wahrheitsgemäß – von einem Flug, wo der rechte Propeller brannte und der linke kurz vor dem Ausfallen war. Die Maschine landete irgendwo auf einem Militärflughafen namens Varna, in einem Ostblockland namens Bulgarien. Ich selber habe die Angelegenheit, das Gewitter, den Blitzeinschlag, den Brand, diese Notlandung eher unbeteiligt gesehen, während andere Menschen an Bord schrien und weinten. Allen voran meine Schwester, die ständig kreischte: „Jetzt stürzen wir ab, .jetzt stürzen wir ab!“, was wiederum die übrigen Fluggäste noch unruhiger machte.

Man kann Ungewöhnliches aber auch an einem Ort erleben, und der liegt keine zwei Nanometer von einem selbst entfernt: dazu bedarf es keiner weiten Reise, sondern lediglich eines hyperaktiven, mit viel Phantasie, Leidenschaft und Zerrissenheit ausgestatteten Bewußtseins. Es geschehen solche die herkömmliche Logik und den Verstand sprengenden Dinge – wenn es gut läuft: oder soll man besser sagen, wenn es schlecht kommt? – im eigenen Kopf, sofern sich verschiedene Stränge des Denkens, Fühlens, Bemerkens kreuzen und die Linien der Wahrnehmung sowie das im Bewußtsein Abgelagerte und Sedimentierte sich verquicken, durchdringen und überlagern und zu einem neuen Bild formen. Und wenn diese Szenen, welche sich in diesem Innenraum abspielen, von einem Menschen visualisiert und zudem kompositorisch geformt ins Bild gebracht werden, wir nennen dies für gewöhnlich Malerei, Kino und Photographie, dann benötige ich keine weiten Flugreisen.

Das Außerordentliche zeigt sich im Film. Die einzige Bewegung, die ich als Nichtkreativer und passiver Betrachter solcher Fernreisen vornehmen muß, ist der Gang ins Kino oder aber, was die deutlich schlechtere Option ist, hin zum Schrank mit den DVDs. Und in jenes Kino, in das ich mich bewege, da läuft ein Film von David Lynch. Wie zum Beispiel im Jahre 1986 „Blue Velvet“ oder im Juni 1997: „Lost Highway“. Am besten schaut man einen Lynch-Film in jenem halbbetäubten und zugleich hochempfindlichen Zustand, der sich einstellt, wenn dem Zuschauer von einem Arzt ein narkotisierendes, mithin schmerzbetäubendes Mittel per Spritze injiziert wurde und wenn diese Spritze, nachdem der operative Eingriff schon vorüber ist, ein wenig zwar noch nachwirkt, aber zugleich bereits der pochende Schmerz der Wunde einsetzt. Wenn Betäubung und Schmerz sich überlagern. Zum Beispiel nach einer Wurzelresektion. Die ist nicht schön, aber man kann sich hinterher belohnen.

„Lost Highway“ zeigt eine Welt, in der eine Zeit herrscht, die zugleich nicht mit unserer Lebenszeit in Deckung gebracht werden kann: Chronos frißt seine Kinder und auch seine Betrachter; ein verschleiftes Bewußtsein, in welchem sich Anfang und Ende durchdringen, wo die Chronologie von Ereignissen und die Linearität der Zeit aufgebrochen wird. Kritiker verglichen diesen Film mit dem Möbiusband. Und es gibt im Hinblick auf die Ungewöhnlichkeiten des Lebens sicherlich nichts Amüsanteres, als von einem Fremden Videokassetten ins eigene Heim zugeschickt zu bekommen, auf denen das eigene Haus zu sehen ist, und wenn der Betrachter dieser Kassetten bemerken muß, daß die, welche filmten, zugleich in die eigene Wohnung eingedrungen sein müssen. Oder sich auf einer Party aufzuhalten, dort mit einem Mann ins Gespräch zu kommen, der einem erzählt, daß er sich gerade in deiner Wohnung aufhielte – auf deine Einladung hin versteht sich – und diese Anwesenheit auch durch einen Anruf von einem Mann beweist, der dir mitteilt, daß er sich momentan in der Wohnung des Angerufenen befinde.

Generell verschieben sich in sämtlichen Filmen Lynchs die Exteriorität und das Innen. Der Raum einer Welt stellt zugleich den Binnenraum jener kleinen, vertrackten Welt des Bewußtseins bzw. des zutage tretenden Unbewußten dar. Der amerikanische Traum ist immer und im selben Augenblick auch der amerikanische Alptraum. „A candy-colored clown they call the sandman“. Das ist nicht neu, das ganze Horror-, Western-, Action- und Abenteuerfilmgenre Hollywoods knüpft an diesen Aspekt an. (Der Sandmann der literarischen Romantik ging weniger süß vor. Doch ebenfalls tückisch.) Lynchs Kino produziert und injiziert zugleich das paradoxe Bild, welches der herkömmliche Film der Hollywoodästhetik aufschiebt und verdrängt – was Hitchcock uns als Möglichkeit andeutet, wird bei Lynch filmische Wirklichkeit. Und mit „Lost Highway“ tritt das Lynch-Kino zudem in eine völlig neue (philosophische) Phase ein.

Spielte sich in den früheren Filmen von Lynch – seien dies nun „Blue Velvet“, „Wild at Heart“ oder die wundervolle Serie „Twin Peaks“ – das Grauen und das Unheimliche innerhalb einer zwar überzeichneten, karikierten und sogar ein wenig verkitschten Welt ab, die jedoch mit der Lebenswelt relativ kompatibel erscheint und die sich noch mit den halbwegs realistischen Maßstäben jenes American Way of Life messen läßt, so sind jene in die Darstellung gebrachten Räume der späteren Lynch-Filme völlig andere. In rein realistischen Kategorien und in den Modellen einer herkömmlichen Lebenswelt fassen sich diese Räume nicht mehr, und in dieser brutalen, grotesken Innen-Außen-Welt knüpft Lynch wieder an seinen früheren Film „Eraserhead“ an. Es eröffnet sich eine Welt der Spiegelungen und des Spiels mit dem Bewußtsein, welches zu Ausfallerscheinungen und Interferenzen neigt: so in „Mulholland Drive“: hier seziert sich Hollywood in einer psychoanalytisch-semiotischen Weise selber, freilich nicht mehr in jenem noch stringenten Rhythmus wie das noch Wilders „Sunset Boulevard“ macht. (Auf eine eigentümliche Weise fällt aus dieser Weise der Komposition jedoch der fast anrührende Film aus dem Jahre 1998 „Eine wahre Geschichte – The Straight Story“ heraus, der ein ganz anderes Erzählmuster hat, wenngleich auch dort eine ungewöhnliche Reise das Thema ist.)

In „Blue Velvet“ und in „Twin Peaks“ bricht das Grauen und das Unheimliche unvermittelt ins Alltäglich ein, und das Alltäglich ist auch als ein solches Alltägliches der gewöhnlichen (amerikanischen) Lebenswelt gekennzeichnet. Wenn im Auftakt zu „Blue Velvet“ diese idyllische, amerikanische Vorstadt gezeigt wird, wo der Wagen mit den winkenden Feuerwehrmännern entlangfährt und die gepflegten, geputzten Vorgärten und die adretten Häuser wie am Spalier friedfertiger Kleinbürgerlichkeit sich aufreihen, wenn die Blumen in den Gärten sprießen und blühen, dann ist dies hübsch anzusehen, und der Betrachter ahnt zugleich, daß hier jeden Moment etwas anderes hervorbrechen wird, was als Schattenseite derselben Medaille sowie als Verdrängtes und Vergrabenes zutage tritt. Der plötzliche Tod durch einen Herzschlag, der den weißen Vorstadtmann beim Sprengen seines schönen Rasens befällt, mag noch dem Leben geschuldet sein; auch, daß der Gartenschlauch während dieses Todesaktes aus der Hand glitscht und Wasser umherspritzt. Dann aber geht die Fahrt der Kamera ins Innere, ins Gebüsch hinein und an die Erde heran und da wimmeln die Insekten, bilden eine Welt, die zwar organisiert und strukturiert, doch uns zugleich fremd ist. Aliens.

Das abgeschnittene Ohr dann, welches der unbedarft-träumerische Collegestudent Jeffrey Beaumont (gespielt von jenem großartigen Kyle MacLachlan, der in Twin Peaks den verschrobenen und zugleich super-coolen Special Agent Cooper vom FBI gibt) in einer Wiese aufliest, scheint da bereits auf Seltsameres zu deuten. Ebenso die Leiche der Laura Palmer, die der Fluß in den Tannenwäldern ans Land gespült hat und die der kauzige Pete Martell inmitten der Wald-Idylle findet – eingepackt in einen Plastiksack. Aber all dies geschieht inmitten einer scheinbar heilen Welt, irgendwo im Nordwesten der USA.

Twin Peaks ist, von außen betrachtet, eine amerikanische Kleinstadt in den Wäldern und Bergen, nahe der Grenze zu Kanada. Und doch wohnt in diesen Wäldern noch etwas anderes. Teils (und besonders ab der Folge 16) ragt das zwar an den Kitsch der Esoterik heran. Aber da Lynch mit diesen Momenten gekonnt spielt und die Story  unterhaltsam bleibt, stört das Wirre im Grunde nicht, sondern trägt zu dem Effekt bei, daß die Geschichte immer mehr in jene Innenräume gleitet. Schon die Auftaktmusik jeder einzelnen Folge hat etwas seltsam Anrührendes, weil diese Intro-Szenen auf ein Urvertrauen und ein Grundbedürfnis im Menschen anspielen, was zugleich in die Erschütterung gerät. Die gezeigte Natur ist nicht die wahre, schöne und unberührte Natur. Nichts ist so wie es scheint – was auch eines der Motive dieser Serie ist. Der Ort Twin Peaks stellt zugleich einen Mythos dar.

Nein, anders als Twin Peaks oder Blue Velvet, sind Lost Highway und Mulholland Drive aufgrund ihrer Zeitstruktur und einer Logik, die der des verwirrten psychischen Apparates oder eines Traumes gleicht, nicht unbedingt leicht nachzuerzählen, und wenn der Film zuende ist, dann wissen Betrachterin und Betrachter, sobald sie aus dem Kino schwanken, zunächst gar nicht mehr, was sie eigentlich gesehen haben und spüren doch, daß es gut war, was sie da sahen. Man kann das als Intensität fassen, die es dann gilt, mit Sprache einzuholen. Fast meinte man, sie stehen unter dem Schock. Und der Mann blickt im Jahre 1997 jene Frau an, die schaut ihn an, und beide steigen auf ihre Fahrräder, rauchen, obwohl der Mann nicht rauchen darf. Sie fahren in die Nacht und halten noch an einer Kneipe, schließen die Räder ab, trinken, sprechen, trinken. Rauchen. Und trinken und reden. Alkohol ist gut.

Ich reiße David Lynchs Ästhetik in diesem  Beitrag nur grob an, und es scheint mir irgendwann hier im Blog eine Darstellung seiner Filme schon lange fällig zu sein – spätestens wenn ich meine immer aufs neue und seit zehn Jahren aufgeschobene Serie zu den 10 oder 20 Filmen schreibe, die ich für sehenswert halte: aber das bleibt eine willkürliche Auswahl. Was bleibt übrig, als zu gratulieren und auf einen neuen Lynch-Film zu hoffen?

Avancierter Feminismus – radikale Kritik heißt triggern

Die erste Dokumentation zur radikalsten Zeitschrift der westdeutschen Frauenbewegung „Die Schwarze Botin“

Als Karl Kraus 1899 zum Sprung in eine neue Zeit die erste Ausgabe seiner „Fackel“ erscheinen ließ, um im neuen Jahrhundert auszuleuchten, stellte er im Vorwort knapp und präzise sein Unterfangen vor: „Das politische Programm dieser Zeitung scheint somit dürftig; kein tönendes ‚Was wir bringen‘, aber ein ehrliches ‚Was wir umbringen‘ hat sie sich als Leitwort gewählt.“

Mit einem ähnlichen Paukenschlag und mit Verve taktet auch die 1976 gegründete feministische Zeitschrift „Die Schwarze Botin“ im Oktober des Jahres 76 auf, und zwar mit Proklamation, Polemik und Kampfeslust – abseits der bisher betretenen Pfade der noch jungen Frauenbewegungen, die sich aus den Protesten der sechziger Jahre herausbildeten:

„Die Frauen haben sich schlecht beraten lassen, als sie anfingen zu glauben, daß alles, was Frauen denken, sprechen, schreiben und arbeiten, unter dem Aspekt der Neuen Weiblichkeit für die Emanzipation brauchbar, wenn nicht gar gut sei. Nichts ist leichter, als die Dummheit zum goldenen Mittelmaß zu erheben.“

Dies schrieb Gabriele Goettle in ihrem Auftaktessay „Schleim oder Nichtschleim, das ist die Frage“. Und weiter heißt es da programmatisch:

„Wir erwarten nicht, daß unsere Botschaften Inhalt neuen Frauenfühlens werden, wir haben im Gegensatz die Absicht, von unserer Neigung zur Konsequenz den rücksichtslosesten Gebrauch zu machen. Dabei gehen wir von der Überzeugung aus, daß für die Existenz der schwarzen Botin, sie selbst unentbehrlicher ist als die, welche sie lesen. Die schwarze Botin wird vielleicht anfänglich schwer zu verstehen sein, aber noch schwerer mißzuverstehen.“

Diese Passage ist eine klare Kampfansage und auch eine Absage an gefühlige Leserinnenschaft, die sich gern in Texten empfindungsberauscht spiegelt, wie das in jenem Feminismus der Neuen Weiblichkeit der 1970er Jahre oft üblich war. Das Weib – es blieb auch da ein Mythos, den man gerne besang, nur eben mit anderen Vorzeichen als es der männliche Blick sich dachte. Nun war sie plötzlich Urgrund, Mutter, Nicht-Mutter oder Amazone. Die von Goettle (*1946) und ihrer Geliebten Brigitte Classen (1944-2006) gegründete Zeitschrift „Die Schwarze Botin“ sollte um ihrer selbst und um ihrer Texte willen bestehen und nicht durch rigide Programmatik. Inhaltliche Qualität also statt Publikumsgeschmack und Zielgruppenorientierung. Das ist im Zeitalter des Marktes etwas Besonderes. Die Zeitschrift wollte nicht einfach fürs Wohlbefinden der Leser da sein und gefällige Wahrheiten liefern – jenen Schleim von Empfindung und weiblicher Gefühlig- bzw. Begriffslosigkeit oder wie der ehemalige Chefredakteur des Magazins „Focus“ Helmut Markwort in einer Werbung es formulierte: „immer an die Leser denken!“ Solcher Tendenz des Marketings folgten die Herausgeberinnen nicht. Die „Schwarze Botin“ denkt, das macht das Auftakt-Vorwort von Goettle unmissverständlich deutlich, auf die Sache, die da unter anderem heißt Gesellschaft, und sie will nicht gefällig sein, um Orte des Wohlfühlens und Safer Spaces zu schaffen, wo man nicht getriggert wird. Im Gegenteil: Kritik heißt triggern.

Die Differenz markieren, den Unterschied setzen, gegen den „klebrige[n] Schleim weiblicher Zusammengehörigkeit“, das ist der Auftrag dieser Zeitschrift. „Eine Zeitschrift für die Wenigsten“, so konzipierte sich die „Schwarze Botin“. Solidarität kann manchmal auch heißen, um linken Sprache aufzugreifen, nicht solidarisch zu sein. Und mit solchem Programm radikaler Kritik ging es nicht darum, in den unterschiedlichen Richtungen des 70er-Jahre-Feminismus „irgendwelche Karrieren als Galionsfiguren anzustreben“. Es kam diesem Projekt nicht auf eine Masse an Lesern an, es wollte, wie auch die ästhetischen Avantgarden und ebenso die Kritische Theorie Adornos, Horkheimers und Benjamin, auf die sich einige der Autorinnen teils bezogen, randständig sein: teils Politik, teils Theorie, teils Literatur, teils Kunst: vor allem aber eine besondere und konfrontative Art des Feminismus, dem es nicht aufs Kuscheln und auf eine falsche Solidarität ankam. Insofern war das Programm der Zeitschrift immer auch ein ästhetisches: die Grenzen sprengen, und dies mit unterschiedlichen diskursiven wie nicht-diskursiven Mitteln: so zum Beispiel Zeichnungen und Collagen. Das trug der Zeitschrift den Vorwurf ein, elitär und arrogant zu sein. Die Herausgeberinnen konnten damit gut leben.

Dabei sammelten sie für ihr avanciertes Projekt eine Vielzahl von illustren Autorinnen um sich, die später teils als Publizistinnen, Philosophinnen und Schriftstellerinnen bekannt werden sollten oder es bereits schon waren: Silvia Bovenschen, Elfriede Jelinek, Elisabeth Lenk, Rita Bischof, Glinka Steinwachs, Ursula Krechel, Christa Reinig, Gisela von Wysocki, Gisela Elsner, die Malerin Sarah Schumann und viele andere.

Das, was dieser Zeitschrift von anderen Frauenzeitschriften aus der politbewegten Zeit der späten 1970er Jahre unterschied – wie der unweit später gegründeten „Emma“ und der zu selben Zeit erscheinenden „Courage“ –, konnte man bereits am Titelblatt festmachen: es handelt sich um eine schlecht kopierte Reproduktion eines Bildes aus der Frührenaissance, das aus einem Fresko von Piero della Francesca stammt. Der Zyklus trug den Titel „Die Legende vom Wahren Kreuz“. Mittels Kunst, Collage und Montage setzten die Herausgeberinnen nicht nur ästhetisch ein Zeichen. Dazu um das Schwarz-Weiß-Bild herum ein schwarzer Trauerrand. Und auch der Titel ist Programm: Nicht die frohe Botschaft wird da gebracht. Sondern teils Düsteres, teils harte Kritik: nicht was wir bringen, vielmehr geht das Motto ähnlich wie bei Kraus: Was wir umbringen. Das Titelbild der „Schwarzen Botin“ wurde niemals verändert, sondern diente vielmehr als Erkennungszeichen und Statement, anders als dies sonstige Zeitschriften betrieben, die ihre Titelbilder thematisch ausrichteten. Auch die Hefte der Botin waren nicht nach Themen und Rubriken ausgerichtet.

In diesem Sinne läuft die von dem Historiker Vojin Saša Vukadinović herausgegebene Anthologie von Schwarze-Botin-Texten aus der Zeit von 1976 bis 1980 quer zum Konzept der Zeitschrift. Die dokumentierten Texte sind nach Themen und nicht chronologisch geordnet. Diese thematische Ordnung hat dabei den Vorteil, daß sie die Linien der Zeitschrift sichtbar werden läßt: zentral für diese Jahre waren Themen Kulturbetrieb, „Texte zu Kunst, Literatur … und Trivialem“ und vor allem das Thema  „Sexualität und Weiblichkeit“, Aspekte also, wo Frauen sich selbstbestimmt in einer eigenen Optik und im Sinne eigener sexueller Bedürfnisse wahrnehmen, die nicht von den Wünschen des Mannes gesteuert sind und die zugleich kein selbstgefälliges Refugium und Rückzugsort lieferten. Für heute und für Jüngere, für die die Selbstbestimmung von Frauen selbstverständlich ist und in weiten Teilen der Gesellschaft durchgesetzt, selbstverständlich. Keine Selbstverständlichkeit Mitte der 1970er Jahre, als das reformierte Scheidungsrecht 1976 in Kraft trat und Vergewaltigung in der Ehe kein Thema war. In bezug auf Hausarbeit und Beruf hieß es im § 1356 BGB Absatz 1 bis zur Reform: „[1] Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. [2] Sie ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist.“ Dinge, die heute kaum vorstellbar sind. In diesem Sinne sollten die in dieser Anthologie versammelten Texte auch vor dem Hintergrund jenes Zeitgeistes gelesen werden.

Ebenso findet sich in der Anthologie die für die Linke bedeutsamen Themenkomplexe wie „RAF“, „Nationalismus/Faschismus“, dazu gesellen sich Texte zum Kulturbetrieb, etwa ein Essay Jelineks zu den Liedtexten von Udo Jürgens, ebenso Lyrik und Prosa wie auch gesellschaftskritische Essays, aber auch ein Sammelbegriff wie „Tumult“ steht da, anspielend auf die Auseinandersetzung der „Schwarzen Botin“ mit der Neuen Frauenbewegung und deren Konzept von Authentizität, Innerlichkeit, Neuer Weiblichkeit und Identitätssucht. Das also, was Goettle eben mit jenem „Schleim“ meinte. Es gibt „Texte zum Feminismus“, worin sich die Autorinnen mit der Frage nach einem spezifischen weiblichen Schreiben befassen – eine Form des Schreibens, die nicht auf biologischen oder essentialistischen Unterschieden beruht und den Mythos der Erdverbundenheit und der Mutter zelebriert, so die Kritik Elfriede Jelineks. Ebenfalls findet sich darin eine Auseinandersetzung mit dem Weiblichkeitskonzept der französischen Philosophin Luce Irigaray. So wie überhaupt der sogenannte Poststrukturalismus für die Autorinnen der „Schwarzen Botin“ immer wieder Thema ist – z.B. in Eva Meyers Text „Theorie der Weiblichkeit“ aus dem Jahr 1978.

Hart insbesondere Goettles Kritik an der ein Jahr später gegründeten Emma bzw. an ihrer Gründerin Alice Schwarzer:

„Wir wollen Frau S. eine gewisse journalistische Fertigkeit und das echte Anliegen keinesfalls absprechen, allerdings hegt es klar vor Augen, daß marktfreundlicher Journalismus und die Interessen der Frauenbewegung nur derjenigen vereinbar scheinen können, die in großem Abstand zu letzteren und unmittelbarer Nähe zu ersterem sich ansiedelt“

Damit ist die Kampf- und die Trennlinie klar gezogen und der Gegner deutlich benannt. Kritik hat radikal zu sein und das kann, ähnlich wie auch Karl Kraus dies tat, bedeuten, einige unangenehme Wahrheiten zu formulieren. Der Artikel zur „Emma“ trägt die spöttische Überschrift „Im Januar sollen 200 000 Frauen penetriert werden“.

Für die meisten, die nicht in dieser Zeit lebten oder die zu jung waren, sind diese Debatten und Kämpfe lediglich Geschichte oder aber kaum noch bekannt. Die Zeitschrift ist inzwischen fast vergessen und nur noch denen ein Begriff, die diese Zeit aktiv miterlebten oder die sich aus historischen Gründen mit der Frauenbewegung jener Jahre befassten. All diese Texte und Perspektiven, vor allem ein solch ambitioniertes Projekt den Lesern zugänglich gemacht zu haben, ist das Verdienst vom Wallstein Verlag und dem Herausgeber Vojin Saša Vukadinović sowie den Autoren des Nachwortes Christiane Ketteler und Magnus Klaue.

Beim einführenden Vorwort von Vukadinović sowie dem kulturgeschichtlichen Nachwort von Ketteler und Klaue hätte man sich freilich in den Texten besser abstimmen können, um Redundanzen zu vermeiden, oder aber der Herausgeber hätte beide Texte nach unterschiedlichen Themen aufteilen sollen, etwa im Vorwort den kultur- und gesellschaftsgeschichtlichen Hintergrund, in dessen Horizont ein solches Projekt wie die Schwarze Botin entstehen konnte, und in einem Nachwort die Möglichkeiten ästhetischer Avantgarden und philosophischer und essayistischer Konzepte des Schreibens, sich als Frau offensiv sichtbar zu machen, ohne ins Schema der Neuen Weiblichkeit zu verfallen.

Einführend liefert Vukadinović im Vorwort eine Kurzvita von Goettle und Classen und erzählt die Geschichte der Zeitschrift von ihrer Gründung 1976 bis zu ihrem traurigen Ende 1980, als die Differenzen zwischen Goettle und Classen – auch auf der privaten Ebene und in Sachen Liebesverwicklungen – unüberbrückbar wurden. Goettle konzipierte 1980 mit einem harten final cut ein letztes Heft, indem sie ohne Abstimmung mit Classen den Titel in „Die Schwarze Idiotin“ abänderte. Eine Phase ging zu Ende und die Provokation war als Schlußstrich gedacht – doch Classen machte weiter. Es entstanden Rechtsstreitigkeiten um die Idee zur Zeitschrift und die Herausgeberschaft. Zwar erschienen bis 1987 noch weitere Hefte, doch der Geist dieses Projektes ging verloren, und so endete diese seltsame, harte, schräge, ambitionierte, politische, ästhetische und vor allem feministische Zeitschrift wie so viele (linke) Projekte endeten: in Zwist und Streit.

Was der Rezensent hinsichtlich des ansonsten instruktiven Vorwortes schade findet: Es fehlt ein Blick auf den Alltag jener ausgehenden sechziger und der neuen siebziger Jahre, das also, was man Sozialgeschichte der BRD nennen könnte, in die die unterschiedlichen Formen von Feminismus eingebettet waren und aus denen heraus überhaupt erst dieser Protest verständlich wird – insbesondere in bezug auf die gesellschaftliche Rolle der Frau, ihre gesellschaftliche Wirklichkeit und im Hinblick auf den allmählichen Wandel: der Kampf gegen den Abtreibungsparagraphen, das alte Scheidungsrecht, Frauen und Arbeit, Frauen und Sex. Diese Wirklichkeit bestand für meisten Frauen der BRD darin, daß sie in der Hausarbeit tätigen waren; das oben genannte „Erstes Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts“ unter der SPD/FDP-Koalition spielte für den Geist der Zeit eine entscheidende Rolle. „Emma“ und „Courage“ waren in diesem Sinne am unmittelbaren gesellschaftlichen Wandel erheblich dichter dran und beförderten ihn auf der pragmatischen Ebene.

In diesem Kontext ist vieles vom Feminismus der Schwarzen Botin eine Angelegenheit aus dem akademischen und für das akademische Milieu – was per se nicht schlimm ist, denn mittels jenes ästhetischen und kritischen Abstandes zum Zeitgeist lassen sich oft wesentlich besser grundsätzliche Strukturen erkennen, die auch durch Reformen nicht oder nur schwierig zu beseitigen sind: und um genau diese Kritik gesamtgesellschaftlicher Strukturen – auch am Emma-Feminismus – ging es den Herausgeberinnen. Dies tangiert ebenso die bereits von Adorno und Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ angeschnittenen Fragen im Blick auf den Faschismus und totalitäre Gesellschaften wie auch auf einen jeden Bereich des Lebens durchdringenden Kapitalismus und einer patriarchalen Logik der Herrschaft, die Beziehungen von Menschen in Waren verwandelt. Dieser kühle, distanzierte Blick, bei gleichzeitigem teils spöttischem Faible zum gesellschaftlichen Detail und auch auf die eigene Bewegung, kann Erkenntnis stiften, und diese Denkbewegung vermittelt die Anthologie auf eine angenehme und angemessene Art, indem die Essays und Artikel in thematischer Vielfalt auswählt wurden.

Aber auch hier wieder zeigt sich im Rückblick der Jahre, daß das, was sich in den 1970er Jahren noch als Kampfplatz unterschiedlicher Formen von Feminismus sah, durchaus in Vermittlung steht und lediglich unterschiedliche Hinsichten beleuchtet. Insofern gehören „Die Schwarze Botin“, „Emma“ und „Courage“ zusammen. Gesellschaftlicher Wandel kommt am Ende auf Taubenfüßen und nicht mit dem revolutionären Tigersprung. Das ist nicht zu unterschätzen, und insofern zeigt sich auch hier wieder, daß man sich manche Kämpfe sparen kann, wenn man gelernt hat, Hinsichten zu unterscheiden und zu begreifen, daß das, was A. macht etwas anderes ist, als das, was B. macht und sich also nicht ausschließen muß. Aber logisches Denken ist auch in der angeblich so analysierenden Linken nicht immer deren schärftste Waffe gewesen.

Ebenso hätte ich mir in einem weiteren Begleittext einen Blick auf die heutigen Frauenbewegungen gewünscht, auch wie sich im Verhältnis zu Sprachpolitik und einer leerlaufenden Identitäts- und Symbolpolitik die Felder verschoben haben und die Kritik jener Autorinnen der „Schwarzen Botin“ an symbolischer Sprachpolitik. Das wäre eine schöne Konfrontation geworden. Ebenso der Bezug auch zum Islam insbesondere im Hinblick auf Alice Schwarzers klare Positionierung, was zeigt, wie sich die Konfliktlinien gewandelt haben. Mit dem Beitrag von Maria Antonietta Macciocchi über die brutale iranische Revolution 1979 und über den Aufstieg des Islam zu einer politischen Macht auf Kosten der Frauen findet sich ein deutliches Statement mit dem Titel „Allahs Rippe“. Ein Titel, der heute Morddrohungen auslösen würde. Hier wäre eine Art von imaginärem Gespräch zwischen beiden Lagern interessant gewesen, und solche Perspektivierungen zeigen zugleich, wie sich in den Jahrzehnten Fragestellungen verschoben haben.

Aber es ist freilich leicht zu kritisieren, was in einem Buch alles fehlt und es ist ebenso ein leichtes, die eigenen Wünsche zum Maßstab zu machen. Loben wir lieber das, was da ist und daß der Wallstein Verlag und Vojin Saša Vukadinović uns diese für die meisten längst vergessenen und inzwischen schwer zugänglichen Dokumente verfügbar machen: Artikel und Essays, die ein Licht auf jene bewegten, wilden, politischen und längst vergangenen linken Jahre werfen und auch, aus der Sicht von Frauen, auf die Kritik der theoretischen Debatten, die ihnen zugrunde lagen. „Vorwärts! Nieder! Hoch! Nie wieder!“ – wie die Zeitschrift „konkret“ ihre Anthologie zum 40. Jubiläum betitelte. Tempi passati. Für die Frauen von der „Schwarzen Botin“ wären dies zudem teils Männerphantasien. (Ein herrlicher Verriß von Theweleits „Männerphantasien“ von Christa Reinig findet sich ebenfalls in diesem Band.)

Auch jene Texte der „Schwarzen Botin“ spiegeln eine „deutsche linke Geschichte“ (konkret) wider. Sie wollten mit einer Fackel ausleuchten und oft auch mit der Feder umbringen. Von links her und einerseits in der Tradition Kritischer Theorie und doch darüber hinaus: der Einfluß französischer Theorie wirkte im Blick auf den marxschen Dogmatismus von großen Teilen der deutschen Linken befreiend und es kam Luft und Lust in die Marxschen Lesekreise. Insofern ist dieses Buch auch für eine feministisch inspirierte Kritische Theorie spannend. Es ist allen zu empfehlen, die spezifische Arten von weiblichem Schreiben und die Kritik des Feminismus aus feministischer Perspektive kennenlernen wollen: einen oftmals intelligenten, häufig ästhetisch inspirierten Feminismus mithin, wie er offensiv, teils auch aggressiv, klug, polemisch und witzig sich seit den 1970er Jahren entwickelte – ohne dogmatisch zu verharren und an identitätspolitischen Konzepten zu kleben.

Die Schwarze Botin. Ästhetik, Kritik, Polemik, Satire 1976-1980
Herausgegeben von Vojin Sasa Vukadinovic
Wallstein Verlag, Göttingen 2020
ISBN 9783835337855, 512 Seiten, 36,00 EUR

Robert Gernhardts Dialektik, Adornos Kritische Theorie, Pohrts Witz und die Elche

Zum Jahresbeginn vielleicht eine kleine Kanzelrede vom Weltgebäude herab. Denn kürzlich las ich bzw. entdeckte ich im Internet ein Gedicht von Robert Gernhardt wieder, das den schönen Titel „Theke, Antitheke, Syntheke“ trägt. Es ist in dem Gedichtband „Reim und Zeit“ enthalten. Es geht, sozusagen, um den vermeintlichen dialektischen Dreischritt, der hier aber bei Gernhardt in seiner Fülle ausgefahren wurde:

Theke, Antitheke, Syntheke

Beim ersten Glas sprach Husserl:
»Nach diesem Glas ist Schlusserl.«
Ihm antwortete Hegel:
»Zwei Glas sind hier die Regel.«
»Das kann nicht sein«, rief Wittgenstein
»Bei mir geht noch ein drittes rein.«
Worauf Herr Kant befand:
»Ich seh ab vier erst Land.«
»Ach was«, sprach da Marcuse,
»Trink ich nicht fünf, trinkst du se.«
»Trinkt zu«, sprach Schopenhauer,
»Sonst wird das sechste sauer.«
»Das nehm ich«, sagte Bloch,
»Das siebte möpselt noch.«
Am Tisch erscholl Gequietsche,
still trank das achte Nietzsche.
»Das neunte erst schmeckt lecker!«
»Du hast ja recht, Heidegger«,
rief nach Glas zehn Adorno:
»Prost auch! Und nun von vorno!«

Eine schöne, illustre, philosophische Gesellschaft, die den angenehmen Dingen frönt. Das ist in der Philosophie meist so. Allerdings ist sie wie auch die Dialektik mit Arbeit verbunden. Und nun komme ich heute aus dem Lachen gar nicht mehr heraus, trotzdem es in Berlin trüb ist, denn ich lese gerade in Wolfgang Pohrts „Der Staatsfeind auf dem Lehrstuhl“. Dies ist ein Vortrag, den Pohrt 1984 auf dem Adorno-Symposion in Hamburg hielt und der sich zum Teil auf den sozusagen offiziellen Adorno-Kongreß von 1983 in Frankfurt mit all denGroßkopfeten bezieht. Pohrts Vortrag ist immanent adornitisch gedacht zwar und vielleicht nicht unbedingt gemäß philosophischer Kritik, aber dafür doch unnachahmlich lustig und teils auch treffend. Es schrieb Pohrt dieses:

„Insofern aber, als es ein vernünftiges Ding mit dem Namen Frankfurter Schule gar nicht geben kann, darf man einen philosophischen Sachbearbeiter Schnädelbach oder eine unter dem Namen Habermas publizierende vollautomatische Textverarbeitungsanlage durchaus als Frankfurter Musterschüler bezeichnen. Insofern auch ist es ganz falsch, hier dem Frankfurter Adorno-Kongreß vom letzten Jahr eine verbesserte Version entgegensetzen zu wollen, denn wenn es der Zweck solcher Veranstaltungen ist, den Ruhm des Toten, dem sie gewidmet sind, im hellsten Glanz strahlen zu lassen, dann war jener Kongreß einfach unübertrefflich in der Art, wie er tätig aufopfernde Selbstverleugnung praktizierte, wie er das Funkeln ausschließlich Adorno überließ und dessen Leuchtkraft noch erhöhte durch den Kontrast zur Blässe derer, die pedantisch über ihn nachdachten. Insofern auch ist vielleicht die oft als unglücklich beklagte Personalpolitik Adornos eher das Produkt einer maliziösen Strategie gewesen. Vielleicht im Bewußtsein dessen, daß man sein Werk kaum würde verbessern, sondern nur verwalten können, hat er auch Sachbearbeiter herangezogen und dabei möglicherweise tagträumend die Vision genossen, wie man ihn nach seinem Tod um so schmerzlicher vermissen wird, wenn dann solche Sachbearbeiter am Ruder sind. Sie dienen seinem Andenken mit ihrer Unfähigkeit mehr, als es andere mit ihren Fähigkeiten können, und deshalb sollten wir ihnen dankbar sein, statt ihnen kleinliche Gehässigkeiten nachzutragen.“

Kritische Theorie ist vielfach zu einer Angelegenheit von universitären Verwaltungsbeamten an geworden. Oder aber man erforscht und referiert jene Kritische Theorie, um sie zu verstehen und auch, um sie historisch einzuordnen. Philologie kann manchen Sonnenschein und Glück allein bringen. So wie es geschieht, wenn eine Gestalt des Lebens alt geworden ist; es beginnt dann der Flug jener wunderbaren Eule der Minvera. Immerhin ist es nicht falsch, um Herkunft und Geschichte des eigenen Tuns zu wissen, diese Geschichte zu kennen, auch wenn man sie nicht mehr zu können vermag. Und in diesem Sinne ist Kritische Theorie Geschichte – die Zeiten Adornos sind nicht die unseren.

Dennoch: anstatt Symposien und Kongresse über Kritische Theorie zu veranstalten, wäre es Zeit und angebracht, sie insofern lebendig werden zu lassen, indem man sie am Gegenstand betreibt: nicht nachmachend und die hunderste kulturkrititsche Volte und Wendung schlagend, noch einmal und noch einmal: again and again, sozusagen: der Geist der schnarchenden Kritik aus dem Zeitalter der  Reproduzierbarkeit, sondern in einer originellen Form. Witz, so heißt das Zauberwort, und Gedächtnis. Und ein  feuilletonistisch-philosophischer Esprit. Mit Adorno, gegen Adorno, über Adorno, mit Adorno. Und insofern warte ich dringend auf DAS Adorno-Buch von Rüdiger Safranski. Es wird, so vermute ich, zum Niederknien gut sein.

Aber all diese Esprit-Witz-und-Denker-Wünsche: es ist leichter gesagt als getan: vielfach findet sich nur laues Genöle, das sich für Kritik hält, oder ein nachgerade antiadornitisches Antideutschtum oder „kritische Kritik“ wie Marx witzelte, die verkennen, wie sehr Adorno immer an diesem Land hing. Oder aber einfach eine Leerlauf-Kritik, die bei weitem ihren Gegenstand unterbietet. Entweder eine Ideologiekritik, die noch ihre eigenen Grundlagen unterläuft und bereits gescheitert ist, wenn man sie in Selbstanwendung auf den Kritiker bringt, um ihm seine intellektuellen Unzulänglichkeiten vorzuhalten. Oder aber eine längst als Phrase leerlaufende Kritik an dit und an dat. Solche Kritik hat etwas Freudloses, Unfrohes, Unerotisches, Langweiliges und Lustloses. Ein Modus, den man im Gestus wiederholt und in imitatio betreibt, wird zum Zombie, zum Untoten. Dann lieber ein fröhlicher Epikureer, der gärtnert oder sich ein leckeres Suppenhuhn kocht.

Geisterhafte Wiedergänger sind so problematisch wie universitäre Verwaltungsbeamte. In Horkheimers Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ wurde jene Kritische Theorie noch kleingeschrieben: denn es war dies keine Lehre und keine traditionelle Schule, zu der man sich zählte, sondern vielmehr eine Tätigkeit des Denkens, die zum einen sich von herkömmlicher, eben traditioneller Theorie und einem herkömmlichen Methodenideal unterscheiden wollte: eine Kritik der Vernunft mit ihren eigenen Mitteln – was auch gar nicht anders geht, denn es stehen dem Denken lediglich diese Mittel zur Verfügung; und zum anderen stand sie dennoch in der Tradition, nämlich der Kants und Hegels, Marx‘ und Freuds und auch Husserls: Abhub der Erscheinungswelt und ein kritisches Denken zu betreiben, das sich dabei auch auf die Gesellschaft bezog und Oberflächenphänomene bzw. das, was zunächst ins Auge sticht und als unmittelbar erscheint, auf ihre Tiefenstrukturen zu untersuchen. Eine Philosophie, die sich von ihrer materialen Basis nicht ablöste, aber dabei dennoch nicht ins positivistische Erbsenzählen glitt. Eine Philosophie, die den Idealismus – im Sinne Adornos und Horkheimers als Ausdruck der bürgerlichen Gesellschaft – beim Wort nahm, indem sie sich auf dessen Texte bezog (wenngleich die philologische Gründlichkeit der beiden oftmals zu wünschen übrigließ) und die dennoch auf eine veränderte Gesellschaft abzielte, oder wie Horkheimer es 1937 in jenem Text in einer Fußnote formulierte:

„Die kritische Theorie erklärt: es muß nicht so sein, die Menschen können das Sein ändern, die Umstände dafür sind jetzt vorhanden.“ (Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie)

Das ist ein interessanter Gedanke. Und er wird in der Demokratie auf eine eher prozessuale Weise eingeholt.

„Das bürgerliche Denken ist so beschaffen, dass es in der Reflexion auf sein eigenes Subjekt mit logischer Notwendigkeit das Ego erkennt, das sich autonom dünkt. Es ist seinem Wesen nach abstrakt, und die als Urgrund der Welt oder gar als Welt überhaupt sich aufblähende, vom Geschehen abgeschlossene Individualität ist sein Prinzip. Der unmittelbare Gegensatz dazu ist die Gesinnung, die sich für den unproblematischen Ausdruck einer schon bestehenden Gemeinschaft hält, wie etwa die völkische Ideologie. Das rhetorische Wir wird hier im Ernst gebraucht. Das Reden glaubt, das Organ der Allgemeinheit zu sein. In der zerrissenen Gesellschaft der Gegenwart ist dieses Denken, vor allem in gesellschaftlichen Fragen, harmonistisch und illusionär. Das kritische Denken und seine Theorie ist beiden Arten entgegengesetzt. Es ist weder die Funktion eines isolierten Individuums noch die einer Allgemeinheit von Individuen.“ (Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie)

24 Jahre später: Adorno ergänzt diesen doch noch irgendwie optimistischen Blick Horkheimers mit einer Art von ästhetischer Melancholie :

„Die Irrationalität der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Spätphase ist widerspenstig dagegen, sich begreifen zu lassen; das waren noch gute Zeiten, als eine Kritik der politischen Ökonomie dieser Gesellschaft geschrieben werden konnte, die sie bei ihrer eigenen ratio nahm.“ (Adorno: Versuch, das Endspiel zu verstehen)

Von jenem Programm kritischer Theorie, das Horkheimer, Adorno und Marcuse Ende der 1930er Jahre formulierten und gleichsam programmatisch in Anschlag brachten und mit der „Zeitschrift für Sozialforschung“ praktisch auch wirkmächtig werden ließen, ist nach Adornos Tod lediglich die denkende Besinnung auf eine Sache namens Gesellschaft übrig geblieben. Und auch die Schwierig- oder besser geschrieben die Unmöglichkeit, jenes dumme Ding, das man Gesellschaft nennt, mit sogenannten revolutionären Mitteln zu ändern, müssen im Sinne Kritischer Theorie mitgedacht werden – wobei gegenwärtig eher zu fürchten ist, daß – weltweit betrachtet – diese Revolution eine von rechts sein wird. Kritische Theorie ist problematisch geworden und das formulierte auch Wolfgang Pohrt implizit mit, wenn er vortrug:

„Wie jeder Gesellschaftskritiker oder Philosoph, der seine Sache gut gemacht hat, so hat auch Adorno seinen Schülern und Amtsnachfolgern nichts als Arbeitslosigkeit hinterlassen. Was es über diese Epoche zu denken und zu sagen gibt, kann man in seinen Büchern lesen, und eine andere Epoche, in welcher Adorno veraltet oder überflüssig sein würde, ist leider nicht in Sicht.“

Dieser Satz mag polemischer Zuspitzung geschuldet sein und er mag einer gewissen Einseitigkeit im Blick entsprungen sein, denn auch an sogenannten kulturindustriellen Produkten wie dem Unterhaltungsfilm kann einem Zuschauer etwas aufgehen, und die besten „Tatorte“ in der ARD werfen, trotzdem sie eine für viele produzierte Unterhaltung sind, zugleich gesellschaftliche Fragen in die Diskussion (und das in Einzelfällen sogar besser als manches Zeigefingersozialdrama aus der Rubrik High-brow-Film mit Hang zur Berlinale), und in diesem Sinne bleibt hinreichend Arbeit übrig – auch um andere Verzweigungen nur als die negative Kritik zu entdecken. Denker wie Foucault mit seinem, wie er es in bezug auf bestimmte Phasen seines Denkens halbironisch, halbernst nannte, „fröhlichen Positivismus“ und Deleuze (aber auch Lyotard und der mittlere Derrida) zeigen hier andere Wege.

Dennoch bringt dieses Pohrt-Zitat eine Tendenz gut auf den Begriff: daß Adorno in seinen Analysen zentrale Aspekte der spätkapitalistischen Gesellschaft mit marxschen Mitteln zur Darstellung brachte: ihre Mechanismen und auch die Art, wie Bewußtsein in Beschlag genommen werden kann, bis hin zu seiner These, daß Arbeit und Freizeit ineinander übergegangen sind – auch im Sinne jener Selbstoptimierung, die nicht dem Gnothi seauton, sondern dem marktgerechten Verhaltung und der unternehmensorientierten Selbstdarstellung und damit der Performance dient.

Einen solchen Blick in die Welt optimierter Selbste und der Wahl des Liebespartners nach Portfolio-Kriterien entwirft Ute Cohen in ihrem Anfang des Jahres erschienenen Roman „Poor Dogs“, und wir finden schon lange vorher in Guy Debords „Die Gesellschaft des Spektakels“ etwas davon. Auch in bezug auf diese Selbstperformanz, und darin ist Pohrt recht zu geben, finden wir bei Adorno zahlreiche Texte: die „Minima Moralia“ sind gleichsam ein Brevier und Handorakel der Negativität und was nicht zu tun sei. Es bleibt in diesem Sinne tatsächlich viel Nacharbeit, wie es Schiller in den Xenien über „Kant und seine Ausleger“ dichtete: „Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung setzt! Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu tun.“ Aber in der Position des Kärrners zu verharren ist eben doch langweilig – außer man heißt Nena und ist noch so fresh wie in den 1980er Jahre, als die Unmittelbarkeit noch unmittelbar war. Unmittelbar naiv.

Solche Kritik des Projekts Frankfurter Schule als Projekt und planbare Veranstaltung universitärer Verwaltungsbeamter gedacht, äußerte unlängst auch Peter Trawny in seinem Buch „Was ist deutsch?“:

„Habermas‘ Projekt, die aktuelle Frankfurter Schule überhaupt, ist ein Diskurs von Professoren, der sich nur insofern ein besonderes Profil verleihen kann, als er in Exzellenz-Initiativen erfolgreich ist. Theorie um ihrer selbst willen wird ausgestattet mit großzügigen Posten. Damit aber erlangt der Diskurs noch keine gesellschaftspolitische Relevanz. Im Gegenteil. Er wird nicht weniger esoterisch als das von Habermas so häufig abgekanzelte Heideggersche Denken. Was universitätspolitisch äußerst effektiv funktioniert, ist ‚lebensweltlich‘ irrelevant geworden.“

In diesem Sinne bleibt vielleicht nur jenes Ausweichen vor falschen Alternativen und dogmatischen oder sophistischen Festlegungen oder dem Festzurren auf eine linke Identitätspolitik als ungetriggerter Hallraum der Woken: jene Echokammer, die sich kritisch dünkt und sich doch nur narzißtisch spiegelt: dies Leute haben nicht einmal mehr ihre französischen Gewährsmänner und -frauen, auf die sie sich frech berufen, auch nur halbwegs erfaßt. Da können sie sich mit Gumbrechts Postmoderne-Kritik zusammentun. Zwei Lager, ein Denken.

Adornos Stärke lag nicht da, wo er sich in die Fallstricke der Ideologiekritik verhedderte, sondern da, wo er ungedeckt und frei von solchen Konstrukten sich in die Philosophie warf: das Denken des Nichtidentischen, jene Freiheit zum Objekt und des Eingedenkens der Natur: „Im Eingedenken ans eigene Naturwesen entragt es [das verfallene Dasein] seiner Naturverfallenheit.“ (Adorno, Zur Schlußszene des Faust)

Was bleibt, als kritische Theorie, gegen all diese Tendenzen, das ist die Philosophie als Kritik und Denken, als Arbeit am Text, als gründliche intensive Lektüre und genaue Deutung von Texten. Close reading. Das also, was Philosophie seit Heraklit, Parmenides und Platon schon immer tat. Das Denken denken.

Vielleicht läßt sich als eine der Bestimmungen der unterschiedlichen Ausprägungen kritischer Theorie jener Satz von Herbert Marcuse festhalten, den er in Anschluß an Horkheimers Essay und als Antwort schrieb:

„Das Interesse der kritischen Theorie an der Befreiung der Menschheit verbindet sie mit bestimmten Wahrheiten, die sie festhalten muß. Daß der Mensch mehr sein kann als ein verwertbares Subjekt im Produktionsprozeß der Klassengesellschaft, durch diese Überzeugung ist die kritische Theorie am tiefsten der Philosophie verbunden.“ (Herbert Marcuse, Philosophie und kritische Theorie)

Vielleicht ist diese Neue Frankfurter Schule, vielleicht ist jener Humor, jener Witz als Ingenium eine Möglichkeit, im Modus der Kritik zu bleiben und dennoch nicht freudlos und moralinsauer aus der Welt zu blicken oder Kunstwerke daran zu messen, ob darin auch die richtigen moralischen und haltungsmäßigen Standpunkte vorkommen und ob darin bloß keine der Figuren „Neger!“ oder „Zigeuner“ ruft oder aber als Ideologiekritiker den Leuten ihr vermeintlich falsches Bewußtsein vorzunölen und im Unterbewußten der Massen zu poppeln: Freud für Freudlose gleichsam, wobei ich nichts gegen Freud gesagt haben will. Solchen digressiven Takt als entferntes Verstehen und Koppelung von Ungleichzeitigem und Inkompatiblem zeigten Dichter wie Laurence Sterne, Jean Paul, Heinrich Heine, Eckhard Henscheid und überhaupt die Dichter und Spötter der Neuen Frankfurter Schule – man nehme nur Standardwerke wie „Reim und Zeit“, die schon vom Titel her mit der Größe des Denkens spielen (der Anklang an Heideggers „Sein und Zeit“ ist unüberhörbar) und die dennoch das Gedicht als Effekt auch der Zeit sehen. Womit ich wiederum bei jenem Gedicht von Robert Gernhardt vom Anfang des Textes angelangt bin.

Und vielleicht auch für all die Orakel und Debakel, die haltlosen Auslegungen und für die Mutmaßungen, die am Ende doch nicht so wie gemaßt und gemutet zutreffen,  sei mit Spott, mit Witz und deshalb mit Robert Gernhardt geendet, der dieses Jahr seinen 15. Todestag hat, und zwar mit Gernhardts „Deutung eines allegorischen Gemäldes“

Fünf Männer seh ich inhaltsschwer;
wer sind die fünf?
wofür steht wer?

Des ersten Wams strahlt blutigrot;
das ist der Tod
das ist der Tod.

Der zweite hält die Geißel fest;
das ist die Pest
das ist die Pest.

Der dritte sitzt in grauem Kleid;
das ist das Leid
das ist das Leid.

Des vierten Schild trieft giftignaß;
das ist der Haß
das ist der Haß.

Der fünfte bringt stumm Wein herein;
das wird der Weinreinbringer sein.

In diesem kritischen Sinne einen guten Start ins Jahr 2021.

Silvester 2020 – wilde verwegene Jagd der Raunächte

Meinen Leserinnen und Lesern wünsche ich einen guten Rutsch ins neue Jahr und ein doch etwas besseres 2021. Ich will hier keinen Rückblick halten, Silvester ist überbewertet. Man kann an diesem Tag für sich selbst noch einmal Revue passieren lassen, was war. Zudem haben wir die herrlichen Raunächte, die zum Phantasieren und zum Deuten der Träume einladen, was allemal spannender ist als all die Rückblenden und das Aufzählen der bedeutenden Ereignisse. Und da es im hohen Norden an jenen Tagen um Weihnachten stürmte, an der Nordsee war es am 26.12. extrem und herrlich orkanartig, gehe ich davon aus, daß die Wilde Jagd einmal wieder unterwegs war: die Wotansreiter, Åsgårdsrei, zwischen der Wintersonnenwende und den orientalen und afrikanischen Dreikönigen. Vermutlich wird es wieder dumme Debatten geben, weil Kinder sich schwarz schminken; und die freudlose Zeit wird sich perpetuieren. In Helmut Lethens Autobiographie „Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug“ las ich im Blick auf Lethens Schulzeit und die Lehrer, die da nach dem Krieg in Deutschland unterrichteten, folgenden Satz:

„Es muss so etwas wie eine Selbstreinigung des Kollegiums gegeben haben. Die aber traf womöglich auch einen dunkelhaarigen Assessor, der uns unvorsichtigerweise Brechts „Der Jasager“ und „Der Neinsager“ nahelegen wollte und prompt verschwand. Der Kalte Krieg ließ die Gymnasien nicht unberührt.“

Nichts Neues unter der Sonne also, nur eben daß in den 2010er Jahren das Internet bei solchen Jagden etwa auf Joanne K. Rowling, Monika Maron bis hin zu Lisa Eckhart als unheilvoller Verstärker und als eine Art Tribunal der anonymen Masse fungiert: und schwupp ist man in der Zeitung, und schwupp ist man Nazi, homophob oder wird sonst irgendwie bezichtigt, und solche Denunzianten wissen ganz genau: Semper aliquid haeret, igendwas wird schon hängenbleiben. Ich fürchte, auch diese Tendenz des Bezichtigens und Denunzierens wird uns 2021 erhalten bleiben und noch viele andere schlechte Angewohnheiten. Es wird also alles wie immer und Leben geht weiter wie bisher. Irgendwie.

Lieber also jene mythologischen Jagden und die Phantasie-Geschichten, die wilden Geschichten: Literatur und Essay. Apropos böse Geschichten: versäumt habe ich dieses Jahr eine Würdigung von Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“, das vor einhundert Jahren erschien. Das ist schade, aber nicht zu ändern. Vielleicht ja dafür nächstes Jahr ein Blick in Houellebecqs kürzlich erschienenen Essay-Band, um das Böse zu goutieren und jener Dialektik der Aufklärung zu frönen. Und eben dem Verhältnis von Denken und Mythos sich zu widmen, auch dazu liefern die Raunächte Anlaß, und dazu habe ich heute und hier aus meiner Buchhandlung von Klaus Heinrich abgeholt: „Parmenides und Jona. Vier Studien über das Verhältnis von Philosophie und Mythologie“ aus dem ça ira Verlag, wo auch das gesammte Werke von Heinrich erscheint – übernommen vom Stroemfeld Verlag, wo Heinrichs Werk teils erschien. Passendes Buch. Ich bin gespannt. Auch eine kleine Überraschung. Klaus Heinrich starb am 23. November in Berlin. Was ich – neben dem plötzlichen Tod – an diesem aus dem „Tagesspiegel“-Nachruf zu Klaus Heinrich am erschreckendsten finde, ist in einem Nebensatz verpackt:

„Er hatte sich geradezu obsessiv gegen Corona gewappnet, nannte sich „einen Gefangenen ohne Hofgang“. Obwohl es ihn beschwerte, dass er sein geliebtes Restaurant „La Marianna“ nicht mehr besuchen und nicht mehr vom Cousin oder Neffen in die brandenburgische Umgebung gefahren werden konnte, hielt er den vom Virus auferlegten Knast entschlossen durch – weil er leben wollte. Ein Sturz brachte ihn ins Krankenhaus, gegen dessen Keimgefahren war er machtlos.“

Ich hoffe, wir reden hier in der BRD nach Corona über die Situation in deutschen Krankenhäusern, über Krankenhauskeime und über das Weggespare im Gesundheitswesen. Öffentliche Daseinsvorsorge gehört nicht auf den Marktplatz und sie ist nicht verhökerbar an den Meistbietenden, der dann mit der Gesundheit Profit erwirtschaften muß. Ein Sturz und die Einlieferung ins Krankenhaus setzten dem Leben von Klaus Heinrich ein Ende.

Wie Silvester verbringen? Es wird dieses Jahr zum Glück ruhig werden. Keine Knallereien. Das ist gut so. Leider aber blitzt und funkelt in den herrlichen roten, gelben und grünen Farben auch kein Feuerwerk am Himmel. Keine Apparition. Seine Verwandtschaft hat das Feuerwerk als einmalig und flüchtig in der Zeit Erscheinendes mit dem Kunstwerk. Adorno schreibt von Kunstwerk:

„Es ist apparition κατ‘ ἐξοχήν: empirisch Erscheinendes, befreit von der Last der Empirie als einer der Dauer, Himmelszeichen und hergestellt in eins, Menetekel, aufblitzende und vergehende Schrift, die doch nicht ihrer Bedeutung nach sich lesen läßt. Die Absonderung des ästhetischen Bereichs in der vollendeten Zweckferne eines durch und durch Ephemeren bleibt nicht dessen formale Bestimmung. Nicht durch höhere Vollkommenheit scheiden sich die Kunstwerke vom fehlbaren Seienden, sondern gleich dem Feuerwerk dadurch, daß sie aufstrahlend zur ausdrückenden Erscheinung sich aktualisieren. Sie sind nicht allein das Andere der Empirie: alles in ihnen wird ein Anderes. Darauf spricht das vorkünstlerische Bewußtsein an den Kunstwerken am stärksten an. Es willfahrt der Lockung, welche zur Kunst überhaupt erst verführt, vermittelnd zwischen ihr und der Empirie.“

Zu diesem Jahresende also eine gewisse Stille und keine nächtlichen Himmelszeichen aus Pyrotechnik. Die Geister können nicht vertrieben werden. Herrlich etwa war es, den Chinesen aus dem China-Restaurant neben dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg zuzusehen. Kein dummes Geböllere, niemand wirft auf Menschen oder will Rabatz machen, wie hier in Berlin-Schöneberg jene dummen Jugendlichen an der Pallasstraße, die noch auf Notarzt, Feuerwehr und Polizei Raketen schießen und Böller werfen. Sondern es werden Geister vertrieben. Wir brauchen zuweilen auch solche Mythen und die schönen oder die grausamen Geschichten.

Das gute freilich: kein Lärm bis tief in die Nacht. Dort, in dem sowieso schon stillen Stadtteil Berlins, wo ich lebe, ist es heute fast wie auf einem Dorf. Ich mag das. Stille und der letzte Tag des alten Jahres. Dazu ein leicht milchiges Licht, zuweilen mit Sonne gemischt. Eine schöne Stimmung zum Ausklang. Zu Silvester gibt es traditionell die Berliner, wobei man in Berlin eben Pfannkuchen dazu sagt, während im Norden die Pfannkuchen, wie der Name es bedeutet, aus der Pfanne kommen und mit Eierteig zubereitet werden. Überall in Berlin heute lange Schlangen vor den Bäckereien. Vor meinem Lieblingsbäcker Mälzer und der Konditorei Rabien ebenso. Also schlendere ich weiter und schaue, bis ich sehe, daß es beim Bäcker der „Bio Company“ relativ leer ist. Ich blicke in die Auslage. Dort gibt es auch das Glücksschwein Ebert, aber das wähle ich nicht, sondern ich erstehe einen Berliner mit Eierlikör und einen mit Himbeerfüllung. Der erste Berliner ist bereits verputzt. Er schmeckt so lala. Rabien ist deutlich besser und in dem Augenblick als ich diesen Satz schreibe, fällt mir ein, daß die Berliner von Mälzer gar nicht so gut sind, wie ich dachte. Ich hatte sie letztens probiert. Sonst ist Mälzer ein hervorragender Bäcker: guter Kuchen, gute Brötchen, aber die Pfannkuchen schmeckten alt und schal. Gute Berliner zu finden, ist schwierig, die besten hat halt die Konditorei Rabien. Ich esse die Berliner grundsätzlich nachmittags. Ich sehe den Sinn nicht, um 24 Uhr süßes Gebäck zu verzehren. Es gibt zu dieser Uhrzeit Wunderkerzen, einen italienischen Rotwein und vielleicht gegen 24 Uhr einen schönen Rieslingsekt.

Nun kann man aber jetze schonmal anfangen, ein gutes neues Jahr zu wünschen und einen netten Silvesterabend mit höchstens fünf Personen aus zwei Haushalten. Bei mir ist es in der Regel ein Silvester mit einer Person aus einem Haushalt. Denn ich hasse Silvester, und ich feiere es nicht gerne. Früher, als ich noch am Theater Kartenabreißer war, habe ich vorgezogen, am Silvester zu arbeiten. So wie ich Weihnachten liebe, mag ich Silvester und diese Fröhlichkeit nicht. Die Nachbarin saugt ihre Wohnung, wie ich gerade höre. Brav am letzten Tag noch Ordnung zu machen. Vielleicht sollte ich sie zu mir in mein Grandhotel Abgrund bitten. Es ist auf den 90 qm einiges zu säubern. Ich sitze hier ansonsten schon in den Startlöchern zur imaginierten Bunga-Bunga-Party mit Italien-Rotwein und Rimini-Schlagern. Der erste Berliner ist bereits verspeist. Wo ich ihn kaufte, schrieb ich in diesem kleinen Blog-Text. Und auch wie er schmeckte. Empfindungsprosa und Beschreibungspotenz. Die es freilich auf AISTHESIS auch nächstes Jahr wieder geben wird – sofern die Zeit es zuläßt. In diesem Sinne: Allet Jute für 2021, wie der Berliner so sagt. Guten Rutsch allen, die es verdienen. Und die, die es nicht verdienen, sollen mich am Arsch lecken.

Heiliger Abend und dritter Weihnachtsbuchtip

Während meines Studiums der Literaturwissenschaft Anfang der 1990er Jahre belegte ich einige Seminare auch zum Theater. Unter Theater, zumindest im europäischen Sinne, so dachte ich mir bis zu diesem Zeitpunkt, stellte ich mir ein Geschehen vor, wo Menschen auf einer Bühne stehen und etwas aufführten und in irgendeiner Form eine Geschichte oder Szenen darboten. In diesem Seminar nun begegnete mir eine schon etwas betagtere Studentin aus Persien. In meinen Augen eine alte Frau, vielleicht 60 Jahre, und sie erzählte uns vom Puppentheater. Ich fand das zunächst – auch im Zusammenhang der Texte von Erika Fischer-Lichte, die wir bearbeiteten –, seltsam und dachte, dies sei irgendeine spinnerte Alte, die sich auf ihre alten Tage an der Universität als Student noch einmal verwirklichen wollte. Doch wie sie von diesem persischen Puppentheater erzählte, von den Figuren, dem Spiel der Puppen, den Kostümen, der Bühne, der Inszenierung: da wurde all das plötzlich ganz lebendig und anschaulich und wo ich zunächst dachte „Was für ein Quatsch und Kinderkram!“, da bemerkte ich einen hohen Ernst und eine Schönheit der Sache und wurde neugierig – nur aus der Erzählung der Alten heraus und wie sie dieses Theater und dessen Idee schilderte. Das ist Kunst, dachte ich, und eine höhere vielleicht als all unsere selbstzufriedenen Bühnenaufführungen, wo oftmals Jungregisseure unnütz Geld verprassen und dabei doch das seit Jahren bekannte Einerlei darboten. Die 10.000ste Provokation, die lange schon nicht mehr provoziert. Oder wie es Hans Magnus Enzensberger bereits 1962 schrieb: „Eine Avantgarde, die sich staatlich fördern läßt, hat ihre Rechte verwirkt.“ Man ist angekommen, man ist arriviert. Nicht so dieses herrliche Puppentheater.

Diese Geschichte fiel mir ein, nachdem ich vor einigen Wochen Thomas Hettches Roman „Herzfaden“ gelesen hatte. Er handelt von der Geschichte der Augsburger Puppenkiste, von ihrer Gründung in den Kriegsjahren und zugleich wird aus der Gegenwart eine Geschichte parallel geführt. Wer Urmel, Lukas, Jim Knopf, Kalle Wirsch und all die anderen Puppen mag und wer überhaupt diese Augsburger Puppenkiste schätzt, wird in diesen Roman verliebt sein. Er ist stellenweise berührend schön in seiner Sprache und der Art, wie diese Geschichte erzählt wird. Hettche schafft es, eine Intensität herzustellen und wie ein guter Marionettenspieler erreicht er eben genau jenes Herz des Lesers bzw. des Zuschauers, so daß die Marionette ganz und gar lebendig erscheint. Eben jener Herzfaden, der zentral ist, weil er der Marionette Leben einhaucht. Ganz und gar große Literatur – auch deshalb weil sie nicht nur von Puppen, sondern von uns Menschen und von der Welt des Theaters handelt. Solche Poesie und Intensität paßt vorzüglich auch zum Heiligen Abend. Da wird in Augsburg Hänsel und Gretel aufgeführt, Geschichten werden für die Puppenbühne adaptiert. All das in ganz und gar finsteren Jahren: Krieg nämlich und auch die Auslöschung der Juden in Augsburg. Da ist der ehemalige Theatermann und der neue Gründer der Puppenkiste Walter Oehmichen, dem das Theaterspielen verboten ist und vor allem seine ganz und gar begeisterte, von der Idee der Puppenstube angefixte Tochter Hatü (Hannelore Oehmichen), die nicht nur die Puppen spielt, sondern sich auch zur Marionettenschnitzerin ausbilden läßt. Von klein auf an ist diese Welt der Marionetten Hatüs Welt.

Ein schöner, ein stiller und doch eindringlicher Roman. Vor allem schafft Hettche es – wie schon in „Pfaueninsel“ – eine Zeit anschaulich zu machen: hier die des Nachkriegsdeutschlands und die Zeit des deutschen Faschismus. Frei nach Faulkners berühmten Satz „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen“ ragt all das Geschehene – auch mittels unserer Fernseherinnerungen – bis in die Gegenwart und daß diese deutsche Geschichte und diese Geschichten, die zugleich unseren Vorrat an Kindheitserinnerungen ausmachen, nicht vergessen werden, dafür sorgt Hettches Puppengeschichte mit Hatü, dem Mädchen, und Hatü als alte, aber bereits tote Frau auf dem Dachboden des Puppentheaters, mit all den Marionetten, dem Hänsel und Gretel, Jim Knopf, Kalle Wirsch, Urmel, dem Storch und vor allem dem armen, traurigen und böse gewordenem Kasper. Auch die Gestaltung des Buches ist klug gemacht. Zwei Geschichten werden parallel erzählt: eine aus der Vergangenheit, die ist in blauer Schrift gedruckt, und eine aus der Gegenwart in roten Lettern. Rot steht dabei für den Vorhang des Menschentheaters; rot ist das Blut der lebensechten Schauspieler. Blau dagegen steht für die wunderbare Welt der Marionetten: der Vorhang eines Marionettentheaters darf nicht rot sein, so Hatüs Vater. Und dazu ein blauer Umschlag und darunter ein roter Leineneinband. Das tote Holz ist und soll in der Erinnerung lebendig werden.

Von solchem Theater der Puppen und ihrer Welt und ebenso von der Menschenwelt, die diesem Reiz erliegt, handelt „Herzfaden“. Es gibt Bücher über die Nazizeit, den Weltkrieg und die Nachkriegszeit, die können vielleicht erst aus gehörigem Abstand heraus geschrieben werden. Thomas Hettches Roman „Herzfaden“ ist solch ein Buch.. Assonanzen zu Kleists Schrift vom Marionettentheater und der Frage der Anmut sind dabei gewollt. Ein wunderschönes Buch, auch um sich daraus an den Weihnachtsfeiertagen vorzulesen.

Thomas Hettche, Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste, Kiepenheuer und Witsch Verlag 2020, gebunden 288 Seiten, ISBN 9783462052565, EUR 24,00 EUR

Im übrigen wünsche ich den Leserinnen und Lesern von AISTHESIS ein frohes Weihnachtsfest sowie angenehme Weihnachtsfeiertage, und zwar diesmal mit einem der schönsten und mir liebsten Advents- und Weihnachtlieder. 

Drei Weihnachtsbuchtips für die stillen Tage: Sebastian Ostritsch „Hegel. Der Weltphilosoph“ (2)

Gar nicht groß soll hier zum Ausklang des Hegeljahres dessen Philosophie noch einmal gewürdigt und auch nicht gezeigt werden, weshalb dieses Denken und die mit ihm verbundene Dialektik als Beweglichkeit und Liquidwerden einer Sache wie auch des Denkens selbst und damit als Autoreflexivität wichtig sind. Sondern es stellt sich, wie so oft bei der Lektüre von scheinbar komplexen philosophischen Texten, die alte Frage: Wie anfangen? Wie mit Hegel anfangen, wie kann man als Neuling beginnen? Dem Aspekt also, dem Hegel in seiner „Wissenschaft der Logik“ ein ganzes Kapitel widmete: „Womit muß der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?“ Die Frage nach dem Prinzip und dem Grund also, die Frage des Anfangs.

Diese Frage nach dem Prinzip und dem Anfang greift auch einen Hinweis Friedrich Wilhelm Joseph Schellings auf, den er in einem Brief vom 6. Januar 1795 an Hegel schrieb und darin die ganze philosophische Bewegung eines kommenden Zeitalters bereits angedeutet liegt: „Die Philosophie ist noch nicht am Ende. Kant hat die Resultate gegeben: die Prämissen fehlen noch. Und wer kann die Resultate verstehen ohne die Prämissen?“ Diese Prinzipien zu finden, darin bestand fortan die  Arbeit des sogenannten Deutschen Idealismus. Fichtes erste Wissenschaftslehre von 1794, die nach der kantischen einer weiteren Revolution gleichkam, kann als einer der ersten Versuche gelten. Es sollten sich viele weitere anschließen. Über Schelliings Frühschriften bis zur ersten großen Syntheseleistung Hegels in seiner sogenannten Differenzschrift: „Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie in Beziehung auf Reinhold’s Beiträge zur leichteren Übersicht des Zustands der Philosophie zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts“. Eine weitere Auftaktschrift gleichsam in einem an Denk- und Tathandlungsrevolutionen nicht gerade armen Zeitalter des ausgehenden 18. und des aufgehenden 19. Jahrhunderts, wo Hegel Zeitgenosse war. Und so konnte Friedrich Schlegel 1798 im Athenäumfragment 216 schreiben:

„Die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre, und Goethes Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters.“

Um in seiner Vorlesung zur Transzendentalphilosophie im Jahre 1800 in Jena zu sagen:

Die Fichtische Philosophie geht auf das Bewußtseyn. Die Philosophie des Spinoza geht auf das Unendliche.“
 
Dies in etwa ist eine der Konstellationen der Zeit, in der Hegel wirkte.

Wer zum ersten Mal vor Hegels Werk steht und nicht das Glück hatte, in einem guten Philosophieunterricht an der Schule in die Texte geführt zu werden, hockt meist stumm und überwältigt vorm Bücherblock. Denn es türmt sich ein Gebirge vor einem, das die Wucht nicht etwa der Alpen, sondern des Himalaya besitzt. Lesen benötigt nicht nur Kraft und die Fähigkeit zum Verständnis, sondern ebensosehr Zeit, wenn man sich denn auf die Wanderung begeben will, und es ist zugleich so, daß kein Sekundärtext die Lektüre der Primärtexte ersetzen kann, so wie der beste Bergfilm eines Arnold Fanck einem nicht die Erfahrung einer Bergwanderung nahebringt. Wer die Primärtexte nicht versteht wird auch die Sekundärtexte am Ende nicht begreifen, wie mein Lehrer Gerhard Kleining es uns Studenten damals beibrachte. Dennoch gibt es Philosophen, wo es angeraten sein kann, sich nicht sogleich und alleine in den Text zu stürzen – etwas anderes sind Lesekreise und Arbeitsgruppen, wo Menschen sich gemeinsam einen Text erschließen, am besten unter Anleitung eines kompetenten Lesemeisters. Zen oder Katholizismus lernt man auch nicht, wenn man vor sich hin auf den Boden starrt oder sich in eine Kreuzigungsszene versenkt.

Philosophische Einführungen zu Hegel gibt es unzählige. Von Dietmar Dath stellenweise lesenswert und gewitzt der 100-Seiten-Band zu Hegel (bei Reclam erschienen). Kann man nehmen, das Buch macht Lust auf Hegel, bietet aber weniger eine systematische Einführung in Hegels Philosophie und in die Probleme der Zeit, auf die, siehe das Schelling-Zitat, Hegel unmittelbar reagierte, sondern eher geht das Buch von Daths eigener Leseerfahrung aus und schlägt von dieser her den Bogen zu Hegel. Und von Patrick Eiden-Offe ist jüngst bei Matthes & Seitz erschienen „Hegels Logik lesen“. Darin beschreibt Eiden-Offe ein Experiment, nämlich eine Lektüre-Erfahrung und ein Exerzitium: als Nicht-Hegel-Kenner und als Novize im trüben Berliner Winter jeden Morgen eine Stunde in Hegels Logik zu lesen, ohne Sekundärtexte und irgendwelche Kommentare und alles zu vergessen, was man so an Doxographischem über Hegel gelesen und gehört hat. Eine rein textimmanente Lektüre also. Ob solche konstruierte Immanenz eines Wissenschaftlers, der am Ende eben doch mit Vorwissen aus dem Außen kommt, wirklich funktioniert, sei dahingestellt.

Ebenfalls in diesem Jahr erschienen ist Sebastian Ostritschs Buch „Hegel. Der Weltphilosoph“. Ich empfehle es nicht nur Anfängern eindringlich, sondern auch Fortgeschrittenen. In Ostritschs Darstellung von Hegels Philosophie wie auch seines Lebens bekommen nicht nur jene, die noch nicht viel mit Hegel in Berührung kamen, sofort bei der Lektüre des Buches Lust, Hegel selbst zu lesen, sondern auch die, die lange nicht mehr sich mit Hegel beschäftigten. Barthesʼ Wendung von der „Lust am Text“ trifft auf Ostritschs Buch unbedingt zu: selbst für Hegelkenner ist das Buch noch mit Gewinn zu lesen.

In einem gewissen Sinne geht auch Ostritsch – wie Dath und Eiden-Offe – von seiner eigenen Leseerfahrung aus: Ostritsch schreibt voll Emphase und man merkt dem Buch die Freude an, die der Autor an Hegel hat. Ostritsch würde vielleicht nicht so weit gehen wie Klaus Vieweg in seiner Hegel-Biographie, der sich gleichsam als Hegels Bruder sieht, aber auch bei Ostritsch bemerkt man, wie wichtig Hegel als Denker ist – und zwar nicht bloß historisierend, sondern genauso auf die Gegenwart bezogen. Denn Philosophie ist immer auch das Erfassen der eigenen Zeit im Denken und dabei kommt man um Hegel nicht herum – was im Umkehrschluß nicht bedeutet, Hegelianer zu werden. Wer Hegelianer ist, hat Hegel nicht verstanden, könnte man ebenso als Sentenz in den Aphorismus bringen.

Ostritsch setzt dabei in seinem Buch Wegmarken und Orientierungen, ohne eine doxographische Lesart zu etablieren, Hegel sei nun dies oder er sei nun das. Er bemüht sich nicht um eine künstliche Aktualisierung Hegels, indem er auf Aspekte gepreßt wird, aber er unterschlägt auch nicht, wie bedeutsam bis heute eine Philosophie ist, die auf das Ganze und damit auch auf das eigene Denken abzielt, das es zu denken gilt – freilich ohne, daß Hegels Philosophie dabei, wie ihr unterstellt wird, abschlußhaft sei. Gerade weil sie die Geschichte und damit das Geschichtliche am Menschen mitdenkt, entstehen immer wieder neue Weisen des Wissens, die Gegenstand der Philosophie werden können, und zwar nicht einfach nur als Bindestrichsoziologie oder als Genitivphilosophie.

Ostritsch erklärt in den jeweiligen Kontexten die hegelschen Begriffe wie Verstand, Vernunft, Wissen, Dialektik, Kunst, Glauben, Geist, Absolutes, Spekulatives. Es werden die einzelnen Hauptwerke wie „Phänomenologie des Geistes“, „Wissenschaft der Logik“, die Enzyklopädie und die Rechtsphilosophie wie auch Hegels Vorlesungen erläutert und ebenso die zeitgeschichtlichen Umstände, in denen Hegel wirkte.  Auch wenn der Umfang eines Buches kein Kriterium für selbiges abgeben sollte: aber diese niemals sich in den Jargon ergehende Einführung geschieht auf einem übersichtlichen Format, so daß, wer Lust hat, sich mit Hegel zu befassen, rasch eine Orientierung bekommt. [Für alle, die dann ins Detail, also in Hegel selbst, einsteigen wollen und parallel zur Hegellektüre sich weiter in Hegels Denken vertiefen wollen, sei von Thomas Sören Hoffmann empfohlen „Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Propädeutik“ (matrix Verlag). Eine ebenfalls vorzügliche Einführung, die sehr detailreich Hegels Philosophie nahebringt, ohne in einen kruden Hegelianismus zu gleiten oder hagiographischen Bestrebungen zu huldigen. Und wer es spannend erzählt haben möchte über Hegels Leben, der greife zu Klaus Viewegs und Jürgen Kaubes Hegelbiographien.]

Es gibt eine Vielzahl an Einführungen zu Hegel. Doch Ostritschs in diesem Frühjahr erschienenes Buch ist die bisher beste Einführung, die ich in Hegels Denken gelesen habe. Sie ist geistreich und doch an der Sache orientiert geschrieben; und es ist der ideale Einstieg in Hegel, um dann freilich sofort mit Hegel selbst zu beginnen. Oder vielleicht umgekehrt: Einfach als Hegel-Test mit der Vorrede und der Einleitung der „Phänomenologie des Geistes“ (1807 erschienen) beginnen – ich halte diese beiden Texte immer noch für den besten Einstieg – und vielleicht dazu den Aufsatz „Wer denkt abstrakt?“ lesen: ein teils literarischer und teils hoch komischer Text, der unter anderem auf dem Marktplatz von Bamberg spielt, wenn da die Hökers- und Eierfrau auftaucht:

„Alte, ihre Eier sind faul, sagt die Einkäuferin zur Hökersfrau. Was, entgegnet diese, meine Eier faul? Sie mag mir faul sein! Sie soll mir das von meinen Eiern sagen? Sie? Haben ihren Vater nicht die Läuse an der Landstraße aufgefressen, ist nicht ihre Mutter mit den Franzosen fortgelaufen und ihre Großmutter im Spital gestorben, – schaff sie sich für ihr Flitterhalstuch ein ganzes Hemd an; man weiß wohl, wo sie dies Halstuch und ihre Mützen her hat; wenn die Offiziere nicht wären, wär jetzt manche nicht so geputzt, und wenn die gnädigen Frauen mehr auf ihre Haushaltung sähen, säße manche im Stockhause, – flick sie sich nur die Löcher in den Strümpfen! – Kurz, sie läßt keinen guten Faden an ihr. Sie denkt abstrakt und subsumiert sie nach Halstuch, Mütze, Hemd usf. wie nach den Fingern und anderen Partien, auch nach [dem] Vater und der ganzen Sippschaft, ganz allein unter das Verbrechen, daß sie die Eier faul gefunden hat; alles an ihr ist durch und durch mit diesen faulen Eiern gefärbt, dahingegen jene Offiziere, von denen die Hökersfrau sprach – wenn anders, wie sehr zu zweifeln, etwas daran ist -, ganz andere Dinge an ihr zu sehen bekommen mögen.“ (Hegel, Wer denkt abstrakt)

Hegel lebte zu der Zeit, als er diesen Text 1807 schrieb, in Bamberg und arbeitete als Redakteur bei der „Bamberger Zeitung“, aus Jena kommend, der Stadt der Philosophie damals. Der Aufsatz Hegels aus Bamberg beginnt übrigens wie folgt und er beginnt mit der Sache selbst, mit dem nämlich, was wir alle unterschiedslos tun und beständig machen:

„Denken? Abstrakt? – Sauve qui peut! Rette sich, wer kann! So höre ich schon einen vom Feinde erkauften Verräter ausrufen, der diesen Aufsatz dafür ausschreit, daß hier von Metaphysik die Rede sein werde. Denn Metaphysik ist das Wort, wie abstrakt und beinahe auch Denken, ist das Wort, vor dem jeder mehr oder minder wie vor einem mit der Pest Behafteten davonläuft.“

Diese vermeintliche Abstraktheit nicht nur philosophischer Begrifflichkeit aufzubrechen, sondern auch die Hegelsche Philosophie einsichtig zu machen, dazu trägt Ostritschs wunderbare Einführung einiges bei. Abstrakt ist eben auch das, was allzu konkret an die Sachen sich klammert und nicht über den eigenen unmittelbaren Horizont hinauszublicken und die eigene Bestimmtheit noch mitzudenken vermag, wie das Beispiel der Hökersfrau zeigt. 

Sebastian Ostritsch: Hegel. Der Weltphilosoph, Propyläen Verlag 2020, 320 Seiten, ISBN 9783549100158, EUR 26,00

Drei Weihnachtsbuchtips für die stillen Tage: Ute Cohens „Poor Dogs“ (1)

Wer einen Blick in die Welt des modernen Shareholder Value-Kapitalismus der 1990er Jahre werfen will und wer dazu noch über die besinnlichen Tage sich etwas Aufregung gönnen über die Verwerfungen von Macht, Sex, Liebe und Einfluß, nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch erotischer Natur lesen will, der greife zu Ute Cohens zweitem Roman „Poor Dogs“. Der Roman taktet gleich zum Anfang mit Konkurrenz auf: zwei Weiber, ein Typ, André nämlich, Protagonist des Romans, und Eva, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird, sowie die blonde Tschechin Dana. Man begegnet sich pikanterweise in einem Hotelzimmer, darin Eva nackt in einem Bett liegt und darin jene Dana hereinstürmt. Nun sind alle drei gleichermaßen pikiert und peinlich berührt, jeder auf seine Art.

Aber wie das so ist, wenn man rational die Dinge strukturiert oder sich zumindest den Schein des Rationalen inmitten der Verzweiflung geben will: Eva reagiert mit einer sogenannten paradoxen Intervention und ruft alle Beteiligten, wie das in der Wirtschaft üblich ist, zu einem gemeinsamen Meeting, um die Angelegenheit zu klären. Und genau in diesem Milieu solcher Unternehmenskultur, die alles Menschliche und auch das Nichtmenschliche der Warenwelt als eine Sache der Verhandlung und Verwertung sieht, spielt der Roman „Poor Dogs“. Es ist die Welt der Wirtschaft und der großen Unternehmensberatung, es ist der Finanzkapitalismus jener Jahre vor dem großen Crash 2008: gleichsam wie wir wurden, was wir sind. Oder wie es in dem Roman heißt: „Ficken oder gefickt werden, das ist hier die Frage!“ Und das ist durchaus im doppelten Sinne zu verstehen. Die „Poor Dogs“ sind dabei in der Sprache dieser Art von Wirtschaft die Verlierer. Und wer will in diesem Leben schon ein poor Dog sein? „Hammer oder Amboß?“ so pflegten früher die Revolutionäre zu sagen. Und das gilt erst recht für die andere Seite. Keine Schwäche zeigen.

Vor allem André will ganz und gar kein Verlierer sein, André ist rational – auf seine Weise, so wie es Narzißten sein können, die die Dinge zu ihrem persönlichen Vorteil abmessen und deren Lebensprojekt einem einzigen großen Plan folgt: dem großen Ich. Seine Rationalität ist instrumentell. André taxiert Menschen und Dinge nach ihrem Wert, dem Wert für ihn nämlich. Der Begriff der Wertschätzung erhält hier gleichsam eine weitere Wendung:

„Eva, Ariane und Swetlana fügten sich in ein Portfolio, das sich perfekt zur Gewinnmaximierung eignete. Evas Labilität verhinderte zwar, dass er sie längerfristig als stabilen Faktor einkalkulieren konnte. Zumindest aber gelang es ihr, sich vom Poor Dog zum Question Mark aufzuschwingen. Sie musst sich jedoch noch bewähren als Ehefrau und Mtter. Ariane wiederum war die Cash Cow par exellence.“

Menschen werden zunächst eingeteilt und dann erst geliebt. Wenn überhaupt. Und passen sie nicht mehr ins Portfolio, werden sie entsorgt, wie Dana. Oder benutzt wie Ariane und Eva. Frauen als Aktienpakete und Anlagemöglichkeit, um gegebenenfalls die eigenen Skills zu steigern. Ob Frau oder Unternehmen: es müssen die Zahlen stimmen. Verdinglichtes Denken par excellence.

André stammt aus gutem jüdischem Hause, der Vater ein glühender Mitterand-Sozialist und ein Laizist, und der Sohn wechselte ins andere Lager: das des Shareholder Value- Kapitalismus, der Unternehmensberatungen, der Rating-Agenturen und er versteckt seine jüdischen Herkunft nicht – anders als sein Vater, der von seinen Eltern den Namen Jean erhielt. „Der Name des Täufers, Jean, sollte hinwegtäuschen über den jüdischen Ursprung, Anpassung, die perfekte Assimilation vorspiegeln.“ Aber was die Eltern wollen, gelingt selten. Kein Laizismus, kein Mitterand-Sozialdemokratismus.

Die Figur des André: Pure Ökonomie, ökonomisches Denken als Kalkül von Zweck und Nutzen, von Einsatz und dem erzielten Profit. Und mit der Wertsteigerung soll auch die  Lustmaximierung einhergehen. Sex belebt das Leben, Sex ist für André wie das Geld ein Lebenselixier, und in dieser Art von Verdinglichung und Verquickung, die André vornimmt, denke ich beim Lesen auch an jene Houellebecq-Figuren, die ebenso die Frauen nach der Art eines Portfolios auswählen und bemesse: was gerade in der Anlagestrategie gut zu einem paßt und was an der Frau den Nutzen für den Mann optimiert. Nur daß dies bei Cohen alles viel weniger schrill und grell ausfällt, sondern in einer subtilen und darum um so gefährlicheren Tonlage daherkommt.

Diese Kombination freilich – Ökonomie, Lust, Judentum – ist, wenn man an die gegenwärtigen Falschwortschnüffler aus der Twitter-Literaturbubble denkt, nicht ganz ohne und kann schnell heikel geraten. (Im Augenblick sind die Flimsen aus der Blase aber am Wimmern und Betteln für ihren Buchblog, um Geld einzutreiben. Ich sage da nur: gebt solchen Leuten keinen einzigen Cent!) Zu häufig wird mittlerweile Literatur daran gemessen, ob sie Vorurteile produziert oder gar „rassistische“ Strukturen den Unterton bilden – dabei übersehend, daß es in der Literatur einen Modus des uneigentlichen Sprechens gibt und daß Figurenrede oder Figurendarstellung nicht eins sind mit der Meinung des Autors.Und nun ausgerechnet das: ein Jude, der das Geld liebt und auch noch Sex und der Frauen benutzt, und das gerne. Als hätte da eine Autorin einen jener ziemlich guten und eben gerade kritischen Witze der Lisa Eckhart über Vorurteilsstruktur und Charakter in ein literarisches und komplexes Bild umgesetzt und eine verdichtete Pointe zu einer Erzählung gedehnt und dann verarbeitet. Nur eben, daß Cohens Roman vor der Skandalisierung des Kabaretts von Eckhart durch die deutsche Gesinnungwacht am Rhein erschien. Aber dennoch eine interessante Gleichzeitigkeit, die den meisten entgangen zu sein scheint. Ein wenig wunderte es mich, daß da der Skandal oder zumindest das Thematisieren dieser Frage ausblieb. Daß André Jude ist, daraus macht Cohen keinen Hehl, und sie zeigt uns einen solchen von seiner hoch unangenehmen Seite und zugleich als einen ungeheuer einnehmenden, interessanten Menschen, der eben sein Ding macht, ohne daß diese Geschichte auch nur eine Quäntchen Antisemitismus enthält oder daß da Klischees reproduziert würden. Ambiguitätstoleranz. Und dieser Umstand macht die Geschichte spannend und auch gut lesbar. Cohen agiert als Autorin mit Witz und mittels Darstellung und nicht mit dem Zeigefinger. Es gibt keinen Schonraum. Ethnien und Herkunft gelten gleichermaßen als Spielmasse:

„Eine tschechische Herkunft hatte kein Renommee. Eine deutsche wäre definitiv besser. […] Es war mehr als ein Spiel. Er musste sie haben! Sie war perfekt für ihn. Und was gab es Prestigeträchtigeres als die französisch-deutsche Freundschaft samt jüdisch-christlicher Versöhnung? Eine Bayerin! War die bayerische Flagge nicht auch hellblau und weiß? Die Bayern ein semitischer Stamm! Er nahm den Montblanc-Füller, parfümierte das handgeschöpfte Papier mit ‚Land‘ von Lacoste und begann zu schreiben.“

Eine Deutsche zu heiraten, Karriere und Aufstieg im Unternehmen. Wir geraten in Cohens Roman in die Welt von Kapital, Intrige und eine bestimmte Form von Unternehmenskultur – sofern man in diesem Sinne von einer Kultur denn sprechen mag. Eine gelungene Parodie auch auf Erinnerungskitsch oder der Instrumentalisierung des Judentums. Das ist auf eine schöne Weise böse und dieses Maliziöse kommt ganz sanft daher, daß man es fast überliest. Was auch daran liegt, daß der Leser (die Leserin auch? Eva auf alle Fälle) von der Figur des André bei allem Abscheu doch auch in den Bann gezogen wird. Lauter gute und liebe Menschen, die einander nur gute und liebe Dinge tun: das ist für die Kunst in der Regel ein langweiliger Fall. Nicht umsonst zeigt etwa David Lynch in „Blue Velvet“ jene freundliche Vorstadtidylle, um sodann, nachdem der Rasen wässernde Vater einen Herzinfarkt erlitt, mit der Kamera ins Erdreich zu gleiten, wo das Gewimmel von Insekten herrscht. In Cohens Roman sind die Abgründe subtil.

Eva und André arbeiten in einer Unternehmensberatung namens McCrowly, was sicherlich nicht zufällig an den Okkultisten Aleister Crowley denken läßt, der sich ebenfalls mit Sexualmagie befaßte und zudem ein Buch mit dem Titel „The Book of Lies“ schrieb. Okkultismus sei die Metaphysik der dummen Kerls, so schrieb Adorno in den „Minima Moralia“, und das gilt in gewissem Sinne auch für den Begriff des freien Marktes als Mantra und Illusion, den all diese Gestalten aus dieser Agentur vor sich her tragen. Nur sind dies jene dummen Kerls und Kerlinnen, die sich schlau und smart vorkommen. Alles ist käuflich, alles handelbar. Und ein Narzißt wie André zieht aus alledem seine Bedeutung und bezieht alles das, was da ist, auf sich. Der Roman schildert und beschreibt. Er bewertet nichts, es werden all die Phrasen und Hohlsätze, die in dieser Welt ihre Anwendung finden, dem Leser präsentiert. Eine Art fröhlicher Positivismus. Teils düster, aber oft auch komisch. Von dieser Welt erzählt Ute Cohen in einer unangestrengten und ziemlich anschaulichen Weise. Menschen in Funktionen, noch im Privaten.

Sie denken, sie führen mit dem Aufzug gesellschaftlich nach oben, wenn sie im Team eines solchen Unternehmens wirken: Eva dünkt sich autonom, sie hat sich von unten nach oben hochgearbeitet, anders als André stammt sie nicht aus dem sogenannten guten Haus, doch sie glaubt an sich, und es lädt die Arbeit im Unternehmen zur Projektion ein: „McCrowly war nur ein Bühnenhintergrund, auf den sie die rauschhaften Bilder ihrer Zukunft projizierte.“ Man reist um die Welt, wird in fremde Länder versetzt, wie eben bei Eva, und denkt, der Glanz des Unternehmens färbe auch auf die eigene Person hab. Bedeutung wird aus dem Habitus gezogen: man liest, man ist gebildet, man kann parlieren. Lauter man. Aber all das hat zugleich seinen Preis, und wie die Protagonistin über sich selbst weiß: „Den diskreten Charme der Bourgeoisie hatte sie sich schließlich in geduldiger Nachahmung und natürlicher Mimesis erworben. Die Doppelbödigkeit einer Chabrol-Figur verkörperte sie mühelos, mit Vergnügen sogar …“ Am Ende ahnt Eva ziemlich genau, daß dieses Leben nicht stimmt und nicht lebt. Der Schluß des Romans, das Ende dieser Geschichte ist seltsam-mysteriös-offen. Da ist André, da ist Eva, beide sind bereit zu einem neuen Projekt in Transnistrien. Man verkauft dem Osten dummes Zeug. Geht die Reise in eine herrliche Utopie oder in eine Art Gemetzel und es wird die Rache Evas an ihrem Adam furchtbar sein? Die Protagonisten sind auf ihre Weise grausam. Jeder auf seine Art. Auch die am Schluß ums Leben kommende Eva-Konkurrenz Ariane. Sinnlos wäre es, von Eva bloß von einem Opfer zu sprechen. Sie macht mit und sie weiß das.

In diesem Sinne könnte dieser zweite Roman ebenfalls „Satans Spielfeld“ heißen, wie schon Cohens Debütroman über den sexuellen Mißbrauch eines Kindes in einem bayerischen Dorf. Ebenfalls agieren hier wie auch dort Menschen, die nur für eines einen Blick haben: das eigene Ich als Kraftfeld von Begehren und Aneignung.

Zwar fand ich „Satans Spielfeld“ vom Erzählen und von der Geschichte her eindringlicher und bewegender, was sicherlich auch am Thema lag. Aber auch mit „Poor Dogs“ liefert Cohen einen genauen Blick auf Menschen, die in einer Welt leben, in der ebenfalls ein großes Stück Besessenheit nötig ist. „Poor Dogs“ ist ein psychologischer Roman über einen Narzißten, der sein Ich gespiegelt sehen will, und es ist ebenso ein Roman über eine von diesem Narzißten in den Bann gezogene Frau. Und wenn diese Ichsucht als Selbsterfüllung und Selbstoptimierung zum Wohl eines Unternehmens geschieht, so nimmt diesen Effekt gerne auch das Unternehmen mit. Zwischen Manager und Verbrecher bestehen, so eine gängige These, zuweilen nur graduelle Unterschiede – zumindest gilt dies für jenen Shareholder- und Brutalo-Kapitalismus, dem es um die Dividende für seine Kunden geht. Von diesem, aber auch von Menschen, die kläglich scheitern, gerade weil sie gar nicht mehr bemerken, daß sie scheitern, erzählt dieser Roman. Er macht vergnügliche Festtage, denn er ist über weite Strecken auch komisch.

Ute Cohen: Poor Dogs. Roman. Septime Verlag 2020, 240 Seiten. EUR 22,90, ISBN 978-3902711878

Und als Ergänzung ließe sich vielleicht noch bei Matthes & Seitz erschienen von Georg Bataille lesen „Der Fluch der Ökonomie“,ebenfalls dieses Jahr erschienen.