Thomas Hesse: „Bertelsmann muss digitaler werden“

Im November wurde er berufen. Im Februar kehrte er zu Bertelsmann zurück. Und inzwischen ist er seit 100 Tagen Mitglied des Bertelsmann-Vorstands: Thomas Hesse. Im Interview zieht der Vorstand für Unternehmensentwicklung und Neugeschäfte, der bereits zwischen 1996 und 2008 verschiedene Führungspositionen bei Bertelsmann innehatte und dann bei Sony Music geblieben war, eine erste Zwischenbilanz. Er spricht über den Wechsel von New York nach Gütersloh, über seine Erfahrungen und ersten Weichenstellungen sowie über seine Arbeitsschwerpunkte und Pläne bei Bertelsmann.
Seit 100 Tagen sind Sie zurück bei Bertelsmann – sind Sie schon wieder in ihrem unternehmerischen „Zuhause“ angekommen?
Thomas Hesse: Die Jahre in den USA und bei Sony Music habe ich sehr genossen, und ich werde sie in bester Erinnerung behalten. Aber meine unternehmerische Heimat ist in der Tat Bertelsmann. Ich habe zwölf Jahre in ganz unterschiedlichen Funktionen und Bereichen für diesen Konzern gearbeitet, im operativen Geschäft und im Bereich Strategie/M&A, im Fernsehen, in der Konzernzentrale und im Bereich Musik. Die Bertelsmann-Unternehmenskultur ist mir extrem vertraut. Kurz gesagt: Ich fühle mich wieder zuhause und manchmal ist es so, als wäre ich gar nicht weg gewesen.
Und der Schritt von New York nach Gütersloh beziehungsweise Berlin – wie leicht ist er Ihnen oder auch Ihrer Familie gefallen?
Thomas Hesse: Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass ich New York nicht vermisse. Zumal meine Familie noch dort lebt, weil meine beiden Söhne erst mit Ende des Schuljahres im Sommer in eine Schule nach Deutschland wechseln werden. Aber ich freue mich auf meine neuen Lebensmittelpunkte in Berlin und Gütersloh. Wir hatten übrigens während der vielen Jahre in den USA immer noch eine Wohnung – oder den berühmten Koffer – in Berlin, um den Kontakt nach Deutschland nicht abreißen zu lassen, das stellt sich jetzt als Vorteil heraus.
Wie stellt Bertelsmann sich Ihnen heute im Vergleich zu früher dar? Hat Sie irgendetwas überrascht?
Thomas Hesse: Wenn es ein Thema gibt, das mich überrascht hat, so ist es, wie stark in den USA das Internet im Mainstream, also im Mittelpunkt, der Gesellschaft steht, und wie relativ wenig im Vergleich das aus rein deutscher Perspektive nach wie vor der Fall ist. Ansonsten ist der Bertelsmann-typische Unternehmergeist weiterhin überall präsent, so wie die Professionalität. Wesentliche Gründe, warum ich gern zurückgekommen bin.
Welche Erfahrungen oder Perspektiven aus der Zeit bei Sony Music helfen Ihnen derzeit ganz besonders beim Blick auf Bertelsmann?
Thomas Hesse: Eine zusätzliche Perspektive von außen und die Erfahrungen, die man in einem anderen Umfeld gesammelt hat, runden ein Bild immer ab, so auch mein Bild von Bertelsmann. Sony steht wie Bertelsmann vor der Herausforderung der Digitalisierung der Medien. Hier habe ich bei Sony Music als Verantwortlicher für die weltweite Entwicklung des Digitalgeschäfts wichtige Erfahrungen sammeln können. Die Verankerung in der digitalen Medienwelt in den USA wird mir in meiner neuen Aufgabe genauso von Nutzen sein wie die Perspektive eines japanischen Konzerns, der neben dem Mediengeschäft primär im Hardware-Geschäft tätig ist. Denn das Mediengeschäft ist mehr denn je technologiegetrieben und steht von daher in einer direkten Wechselbeziehung mit der Entwicklung von Hardware- und Software-Plattformen.
Sie sind nicht nur neu im Vorstand, Sie bekleiden zugleich ein ganz neues Ressort, das es im Bertelsmann-Vorstand in dieser Form zuvor nicht gab. Welche konkreten Aufgaben haben Sie als Vorstand für Unternehmensentwicklung und Neugeschäfte?
Thomas Hesse: Das Ressort Unternehmensentwicklung an sich ist nicht neu, aber es wird durch die Verankerung im Vorstand natürlich aufgewertet. Konkret stellen sich mir im Wesentlichen drei Aufgaben oder Arbeitsschwerpunkte: Erstens die Entwicklung und Umsetzung einer integrierten Strategie für den Gesamtkonzern in enger Zusammenarbeit mit dem Vorstandsvorsitzenden. Zweitens die Unterstützung und Begleitung der – in erster Linie digitalen – Transformationsprozesse in unseren Unternehmen. Und drittens der Aufbau neuer Geschäfte in den von Bertelsmann definierten oder noch zu definierenden Wachstumsplattformen und -regionen.
Thomas Rabe hat davon gesprochen, dass Bertelsmann zehn bis zwölf solcher Wachstumsplattformen identifiziert habe. Können Sie schon Einzelheiten darüber bekannt geben?
Thomas Hesse: Ins Detail gehen möchte ich hier noch nicht. Aber wir haben eine Reihe von Initiativen angestoßen, die letztlich in die Gesamtstrategie des Konzerns münden werden. Zum Beispiel schauen wir uns gerade zusammen mit der RTL Group sehr intensiv das Fernseh- und Videogeschäft der nächsten Generation an, das veränderte Sehgewohnheiten und dementsprechend auch neue Geschäftsmodelle berücksichtigt. Wir sprechen mit allen Content Divisionen über das Thema von inhaltlich definierten, sogenannten „vertikalen“ Content- und Serviceplattformen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt im Bereich Business Information, wo sich eine ganze Reihe von eigenen Initiativen ergeben können. Und natürlich haben wir mit BMG und University Ventures zwei greifbare Engagements in den wichtigen Wachstumsplattformen Musikrechte und Education. Beide machen uns und mir persönlich viel Freude. Es wird nun darum gehen, sie organisch und durch sinnvolle Investitionen konsequent weiter zu entwickeln.
Würden Sie bitte, vielleicht am Beispiel von BMG, erklären, welche Kriterien eine Wachstumsplattform erfüllen muss, um bei Bertelsmann als solche erschlossen zu werden?
Thomas Hesse: Die BMG ist ein hervorragender und zudem bereits erfolgreicher Modellfall für eine Wachstumsplattform, wie wir sie definieren und suchen. Das Musikrechtegeschäft bietet, und das ist das erste Kriterium, langfristiges Wachstumspotenzial. Denn anders als die Tonträgerbranche profitiert es von der Tatsache, dass heute mehr Musik genutzt, gehört und gespielt wird als je zuvor. Das Geschäft ist relativ robust gegenüber konjunkturellen Schwankungen und Zyklen, und es lässt sich außerdem global aufbauen beziehungsweise ausweiten. Das sind drei der sechs zentralen Kriterien …
… und die drei übrigen?
Thomas Hesse: … heißen Digitalfähigkeit, Skalierbarkeit und Möglichkeit der Wertschöpfung für Bertelsmann, zum Beispiel durch Konsolidierung. Ein Mediengeschäft, das Zukunft haben will, muss unserer Meinung nach – wie das Musikrechtegeschäft – auf die digitale Welt eingestellt und übertragbar sein. Ist es zudem skalierbar, wächst das Ergebnis überproportional zum Umsatz, das ist ein altes Erfolgsrezept bei Bertelsmann. Und schließlich wollen wir uns in Märkten bewegen, in denen die Chance für Ergebnissteigerung, zum Beispiel durch Konsolidierung, besteht. BMG hat das unter anderem mit der Integration von Bug Music oder Chrysalis sehr erfolgreich bewiesen und wird diesen Kurs bei anderen Übernahmen fortsetzen.
Ihre, auch persönliche, Begeisterung für die Musik ist bekannt. Umso schwerer muss es gewesen sein, mitzuerleben, wie die Musikindustrie unter den Folgen der Digitalisierung gelitten hat. Welche wesentlichen Gründe gab es dafür?
Thomas Hesse: Ob als etwas „eingerosteter“ Pianist oder als Manager – ich fühle mich der Musik leidenschaftlich verbunden und freue mich ganz besonders, auch die Verantwortung für BMG und deren tolles Team zu übernehmen. Meine Leidenschaft gilt aber auch anderen Medien, und hier möchte ich dazu beitragen, dass sich die leidvollen Erfahrungen der Musikindustrie nicht in der gleichen Form wiederholen. Dass die Musikindustrie weltweit binnen zehn Jahren fast die Hälfte ihres Umsatzes wohl für immer verloren hat, ist im Wesentlichen auf zwei Gründe zurückzuführen: einerseits auf die Piraterie, also das illegale Raubkopieren und Verbreiten von Musik; andererseits auf den starken Rückgang der Albumkäufe zugunsten einzelner Songs.
Was können andere Medien, was kann Bertelsmann daraus lernen?
Thomas Hesse: Die wichtigste Lektion, die wir aus dem Fall der Musikindustrie mitnehmen, ist sicherlich die, dass sich ein Geschäftsmodell den Bedürfnissen und Wünschen der Konsumenten anpassen muss und nicht umgekehrt, auch wenn das manchmal schmerzhaft ist. Wir haben gelernt, dass die Digitalisierung der Medien und die Veränderung der Konsumgewohnheiten der Menschen auf jeden Fall kommen, und dass man als Medienunternehmen beherzt damit umgehen muss, um die Zukunft neu zu gestalten. Dabei gilt übrigens: Zu früh mit einem Angebot zu kommen, ist genauso schlecht oder noch schlechter als zu spät. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass am Ende das Produkt, das die Konsumentenwünsche erfüllt, immer gewinnt, und dass gute digitale Produkte vor allem das Ergebnis einer klaren Produktdefinition und der richtigen technologischen Umsetzung sind. Wir wissen, dass Medienangebote im Internet Fans einzeln ansprechen können und nicht länger nur anonym, und dass sich daraus vielfältige Möglichkeiten aus der Direktkundenbeziehung ergeben. Und wir haben erkannt, dass wir die großen bestehenden Online-Plattformen und Netzwerke wie Youtube oder Facebook für die eigenen Zwecke nutzen müssen, gleichzeitig aber auch wichtige Grenzen ziehen wollen, wo wir unser Geschäft verteidigen und selber betreiben müssen. Bei Sony haben wir das zum Beispiel mit Vevo sehr erfolgreich getan – einem eigenen Musikkanal auf Youtube, nicht gegen Youtube – der aber seine eigene Werbevermarktung betreibt und unter seiner eigenen Marke auftritt.
Mit Youtube und Facebook haben Sie bereits zwei der neuen Player auf dem weltweiten Medienmarkt genannt. Muss Bertelsmann sich an ihnen messen und messen lassen?
Thomas Hesse: Wir werden mit diesen wichtigen Spielern sowohl kooperieren als auch im Wettbewerb stehen. Die Medienwelt wird immer globaler, Google, Apple, Amazon und Facebook jedenfalls agieren vollständig global. Darauf müssen wir uns einstellen. Mal werden sie unsere Partner sein, mal unsere Konkurrenten, mal müssen wir darauf achten, dass die richtigen Spielregeln beachtet werden, insbesondere im Urheberrecht.
Thomas Rabe fordert nicht zuletzt vor diesem Hintergrund für Bertelsmann deutlich mehr Zusammenarbeit über die Grenzen der Bereiche und Länder hinweg, um im Wettlauf mit diesen großen, zentral geführten Konzernen bestehen zu können.
Thomas Hesse: Worin ich ihn vorbehaltlos unterstütze. Denn es gibt dazu keine Alternative. Um im digitalen Bereich zu einem besseren Informationsfluss und zu mehr Kooperation zu kommen, habe ich vor wenigen Wochen zum ersten Mal überhaupt die 50 wichtigsten Digital-Verantwortlichen aus allen Bereichen unseres Konzerns nach Berlin zum Digital Transformation Dialog eingeladen. Wir haben uns gegenseitig ein Update über den Status Quo der Digitalisierung in den einzelnen Geschäften gegeben, Möglichkeiten der Zusammenarbeit identifiziert und uns auf eine Fortsetzung dieser Form des Austausches verständigt. Aber damit nicht genug: Unser Ziel ist eine ganz konkrete, greifbar bessere Kooperation im Digitalbereich bei der Entwicklung von Produkten, Services und Plattformen.
Warum ist das so wichtig – gerade im digitalen Transformationsprozess?
Thomas Hesse: Wir haben in allen Geschäften sehr gute Spezialisten, echte Champions, die schon heute ihre Inhalte und Marken bestmöglich in die digitale Welt transferieren. Das reicht aber für die Zukunft nicht aus. Wenn Bertelsmann insgesamt deutlich digitaler werden will – und das muss es –, dann braucht dieser Transformationsprozess einen stärkeren Rahmen, mehr Kooperation und Steuerung, mehr Kompetenz sowie schließlich mehr personelle und auch finanzielle Ressourcen. Und genau das auf den Weg zu bringen, ist Teil meines Jobs.
Welche Strukturen bauen Sie auf, um diesen Job zu stemmen?
Thomas Hesse: Natürlich setze ich in Zukunft auf das Know-how der genannten Champions in unseren Unternehmen. Ich möchte eng und auf neuen Wegen mit ihnen und den Divisionen insgesamt zusammenarbeiten. Darüber hinaus werden wir in Gütersloh, Berlin und den USA Strukturen und Ressourcen schaffen, die unsere Unternehmen und Unternehmer in diesem Prozess wirksam unterstützen sollen. Ich bin sehr froh darüber, dass ich in allen meinen neuen Verantwortungsbereichen und in den Divisionen so engagierte und kompetente Teams vorgefunden habe, die mir die Rückkehr zu Bertelsmann wirklich leicht gemacht haben. Und ich freue mich sehr darauf, mit diesen Kolleginnen und Kollegen weiter zusammenzuarbeiten.
Zu den neuen Strukturen gehören auch die neuen Corporate Center in Neu Delhi und bald São Paolo. Welche Rolle spielen sie in Ihrer Strategie und Ihrer Arbeit?
Thomas Hesse: Nach der Eröffnung des Corporate Center in Indien im Februar ist diejenige in Brasilien schon Ende Juni der nächste wichtige Baustein unserer Expansion in die großen Wachstumsmärkte Asiens und Lateinamerikas. Wir sind nun in den drei für Bertelsmann wichtigsten Zukunftsmärkten China, Indien und Brasilien vertreten, um dort gemeinsam mit unseren Unternehmen neues Wachstum für Bertelsmann zu generieren. Das ist angesichts der reifen Märkte, in denen wir heute noch den Löwenanteil unseres Umsatzes und Ergebnisses erzielen, unabdingbar. Das Beispiel China, wo Bertelsmann ja schon 2006 ein Corporate Center eröffnet hat, zeigt, wie erfolgreich diese Art des Eintritts in neue Märkte sein kann. So dienen die Corporate Center einerseits als Anlaufstelle für unsere Unternehmen wie für deren Partner und loten andererseits selbst neue Geschäftsmöglichkeiten in den jeweiligen Ländern aus.
In China geschieht das in erster Linie über den Fonds Bertelsmann Asia Investments (BAI). Auch für diesen Fonds und das amerikanisch-europäische Pendant Bertelsmann Digital Media Investments (BDMI) tragen sie seit 100 Tagen die Verantwortung. Ist eine solche Fondsstruktur in Ihren Augen erfolgversprechend?
Thomas Hesse: Für mich sind diese Fonds der beste und intelligenteste Weg in einen neuen Markt, insbesondere im Bereich der stark wachsenden digitalen Medien. Mit Hilfe der Fonds gewinnen wir bei überschaubarem finanziellem Risiko Erfahrungen, Partner und im besten Fall talentierte Unternehmer. Mit ihnen können wir uns dann der weiteren Erschließung eines Marktes in dann ganz anderen Dimensionen widmen. Ich komme gerade aus Peking zurück, glauben Sie mir, aufgrund der Qualität und der Reputation unseres Teams bekommen wir dort inzwischen sehr interessante neue Geschäftsopportunitäten zu sehen.
100 Tage sind um – was haben sie in den nächsten 100 Tagen vor?
Thomas Hesse: Im Mittelpunkt steht momentan die Entwicklung der Konzern-Strategie zusammen mit Thomas Rabe, die wir dann tatsächlich in etwas mehr als 100 Tagen, beim Management Meeting im September, vorstellen werden. Und spätestens wenn es anschließend um deren Umsetzung geht, denken wir sicherlich nicht mehr in 100-Tage-Rhythmen, sondern in Zeiträumen von mehreren Jahren auf dem Weg hin zu einem neuen, digitaleren Bertelsmann.