Tiroler Marterln
von konecnyMir scheint das heutige Europa in vielen Dingen in Ordnung zu sein. Als Tscheche lebe ich in München. Bin mit einer Polin verheiratet. Unsere in München geborenen Jungs empfinden sich als Deutsche. Klar vor allem, wenn Fußball ansteht – Deutschland gegen Tschechien! Ach, wo sind die hübschen Zeiten der Fußballeuropameisterschaft geblieben, als ich in meiner eigenen Familie als echter Tscheche noch so richtig angeben konnte? Jetzt verlieren die Tschechen. Und das in Prag! „Jungs!“, muss ich zu meinen Söhnen sagen, „Ich bin kein Tscheche, ich bin Europäer!“ Warum auch nicht? Sogar die Russen sind schon dabei! Wenn ich meine Abiturkenntnisse des Russischen auffrischen will, fahre ich nur die drei Stunden von München nach Karlsbad und lerne dort russisch direkt von den Einheimischen. Wirklich erstaunlich, wie sich der weltberühmte Kurort durch die europäische Geschichte kurbelt: Deutsch, tschechisch, russisch …

Gleich nach der Karlsbader russischen Sauna jagte ich ins dortige Antiquariat. Um nach skurriler Nachtlektüre zu stöbern. Zwar werden seit der samtenen Revolution im Jahre 1989 alte deutschsprachige Bücher aus Tschechien regelrecht weg gesogen, doch hin und wieder entdecke ich in einem tschechischen Antiquariat immer noch etwas Hübsches auf Deutsch. Und manchmal etwas sehr Hübsches sogar, zum Beispiel etwas zur deutsch-tschechischen Verständigung. Tiroler Marterln hieß diesmal meine Ausbeute – eine Broschur von F. Pleticha in Meran aus dem Jahr 1909 mit Inschriften von Gedenksteinen und Grabschriften. Mensch! Dachte ich mir. Da hast du deine Gute-Nacht-Lektüre. Grabschriften! Du bist doch letztes Jahr fünfzig geworden! Hier kannst du dir vor dem Einschlafen etwas Inspiration holen. Und solltest du gegen alle Erwartung den Nobelpreis für Literatur doch nicht bekommen, kannst du dir zumindest einen nobelpreisverdächtigen Grabspruch zusammendichten, oder?
Das Buch hat mich nicht enttäuscht. Irre, wie viel prägnante Literatur, ja Philosophie, man in so eine Grabschrift legen kann, zum Beispiel an einen Grab in Klagenfurt:
Hin ist hin!
Anna Maria Siedlerin,
geborene Brüx.
Doch gleich darüber stand als Warnung an die Leichtsinnigen unter uns zum Sterben Verurteilten ein Grabspruch vom Friedhof in Villach:
Hier ruht Johannes Hesserer
Ein schlechter Tenorist
Und lacht weil er ein besserer
Dort in dem Himmel ist.
Aha! Auf solch perfide Art schmähen also die Hinterbliebenen deine Leistungen, wenn du ihnen die Grabspruchinitiative überlässt.
Selbstverständlich hat mich kurz vor dem Einschlafen als den Böhmen in Deutschland, der ich nun mal bin, auch wieder mal die europäische Geschichte eingeholt. Diesmal mit der Inschrift auf einem Gedenkstein aus den hohen Tauern:
Im kalten Jahre 1853 sind hier zwei Menschen und 2 Böhmen ertrunken.
Schön, oder? Aber – trennen uns nicht schon Welten von diesen alten lustigen Zeiten? Wenn ich jetzt meine Jungs anschaue, wie sie so über den Sieg der deutschen Fußballmannschaft in Prag jubeln, kann ich wirklich mein mildestes Lächeln aufsetzen. Unser ältester Sohn malt die tschechische Flagge und klebt mir die Zeichnung an die Zimmertür. „Nicht traurig sein, Papa!“, sagt er, aber ich bin doch nicht traurig, ich lächle. Damit wir auch weiter entspannt bleiben auf dem Weg zu einem Ort in unseren Köpfen, an dem wir uns alle gut verstehen. Und das macht doch Hoffnung, oder? So auf den Umwegen ins Grab.
27. March 2007Stichwörter:
Konecny, tschechien14 Kommentare
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Jaromir Konecny blogt bei ZVAB - Lotrees Literaturblog - Leben & Schreiben & Lesen - Aktuelles aus der Welt der Bücher schrieb am March 30, 2007:
[…] “seine enge Sicht der Dinge” dem geneigten Leser in Form launiger Hypertexte darbieten. Lesen Sie hier Jaromir Konecnys ersten Beitrag “Tiroler Marteln”. (Quelle: ZVAB Newsletter) […]
Jaromir Konecny blogt bei ZVAB - Lotrees Literaturblog - Leben & Schreiben & Lesen - Aktuelles aus der Welt der Bücher schrieb am March 30, 2007:
[…] “seine enge Sicht der Dinge” dem geneigten Leser in Form launiger Hypertexte darbieten. Lesen Sie hier Jaromir Konecnys ersten Beitrag “Tiroler Marteln”. (Quelle: ZVAB Newsletter) […]
Rainer SPOHR schrieb am March 31, 2007:
Moment bitte, was haben denn Grabsteininschriften mit Marterln zu tun? Ich denke, Marterln sind hölzerne Stangen, Pfeiler, auch aus Stein, von Verunglückten, als Andachtsverrichtung, als Sühnemale gebaut und stehen NICHT auf Friedhöfen/Gottesäckern, sondern als Andenken eben dort, wo das Unglück passierte, oder “man” ein Gelöbnis tat oder sühnen wollte/mußte. Das dtv-Lexikon definiert M. als BILDSTOCK, BETSÄULE. Leider gibt es alle drei Begriffe nicht in Meyer`s Hand Lexikon 1883.
Um bei “seiner engen Sicht der Dinge” zu bleiben, schließe ich mit dem Hinweis, daß MARTERLN nicht nur Grabinschriften beinhalten!
Frohliches Suchen zur Osterzeit!
Rainer.
Michael Bittner schrieb am April 2, 2007:
Lieber Jaromir, schön, dass Du jetzt auch unter die Blogger gegangen bist! Ich freu mich auf weitere Geschichten von Dir und sende Dir im Namen des ganzen wilden Ostens beste Grüße.
Jaromir Konecny schrieb am April 2, 2007:
Lieber Michi, vielen Dank! Schön, dass “der ganze wilde Osten” so an alten Büchern interessiert ist. Bis bald! Liebe Grüße, Jaromir
Jaromir Konecny schrieb am April 2, 2007:
Lieber Rainer Spohr, vielen Dank für die Definition des Begriffes “Marterln”. Das von mir zitierte Buch trägt aber nun mal den Titel “Tiroler Marterln”, obwohl es eine Menge anderer Sprüche enthält. Damit nicht weiter Unklarheit herrscht, hier der vollständige Titel und Untertitel der Sammlung: “TIROLER MARTERLN. Votivtafeln, Feldkreuze, Aufschriften und Inschriften, Haussprüche usw. in Tirol, Vorarlberg und dem übrigen Österreich gesammelt.” Tja, und jetzt muss ich mich wohl tatsächlich geistig auf die Osterzeit einstellen. Ach, wo sind nun die hübschen Ostermontage geblieben, an denen ich mit einem guten Stück Wacholderstrauch durch mein mährisches Dorf jagte und damit die nackten Beine der Dorffrauen peitschen durfte! Anschließend wurde ich für die Tracht Prügel sogar mit einem hartgekochten Ei belohnt. (Später kam dann auch Sliwowitz dazu). Frohe Ostern, Jaromir
Zuschmann Helmut schrieb am April 7, 2007:
Habe mit meinem Freund das Buch “Kleindenkmäler im Weidlingtal” (157 Seiten, 72 Abbildungen meist in Farbe) verfasst. Dieses Werk kann telefonisch (02243/35671)bestellt werden und wird zugesandt. (19,50€ plus Porto)
Sabine L. schrieb am April 8, 2007:
Einfach herrlich!! Schon der erste Satz ist ein Brecher. Ich freu mich aufs nächste mal!
Ach! was sag ich…: Auf die nächsten vielen Male!!
Jaromir schrieb am April 10, 2007:
Bei solch schönen Worten bleibt mir jetzt am Abend wohl nichts anderes übrig, als ein Pilsner Urquell zu köpfen und mir eine schöne Geschichte auszuträumen. Danke, Sabine! Liebe Grüße, Jaromir
Hans-Peter Sattler schrieb am April 12, 2007:
Wunderbar, was sich aus dem “Altpapier” herausklauben läßt. Ob Jaromir Konecny wohl die Grabgesänge des schwäbischen Pfarrers Jung kennt, welche sein Amtsbruder Hansjakob 1913 ausgegraben und veröffentlicht hat? Etwa, “Bei dem Grabe der Ursula von Unteropfingen, die elfmal punktiert wurde” mit der zu Gitarrenbegleitung gesungenen Belehrung: “Denn besser ist’s zu finden/den Tod durch Wassersucht/als durch die Flut der Sünden,/die ewig uns verflucht.” Bei Jung machten Beerdigungen richtig Spaß.
Jaromir Konecny schrieb am April 12, 2007:
Sehr schön, Hans-Peter Sattler! Diese Grabgesänge muss ich mir unbedingt besorgen. Ich spiele ja auch Gitarre. Kann sein, dass ich über den Pfarrer Jung schon irgendwo etwas gelesen habe?.. Grübel, grübel… Sicher ein Anwärter auf eine Buchbiographie, der Pfarrer Jung. Auf jeden Fall vielen Dank für den Tip! Und jetzt muss ich schnell nach Prag, um dort ein paar Großpopowitzer Böcke “zu Grabe zu tragen” – ach, diese Neoböhmismen – und dabei etwas zu philosophieren. Liebe Grüße, Jaromir Konecny
wolfgang Lexow schrieb am June 21, 2007:
Dank an den kulturellen Zaungast, der sich hoffentlich dauerhaft einrichten konnte. Auch ist es immer wieder schön, wenn irgendwo alt Sachen ausgegraben werden, die Erinnerungen über alle Grenzen und ZEITEN hinweg streifen lassen. Liebe Grüsse an Jaromi, dem ich mich sehr verbunden fühle.–und viel Glück bei alten alten Antiquaren. wolfgang lexow
Jaromir Konecny schrieb am June 22, 2007:
Lieber Wolfgang Lexow,
ich habe zu danken! Und ich fühle tatsächlich ähnlich: Als ich klein war, hat mich meine Mutter immer in die Bibliothek unseres mährischen Städtchens mitgenommen. Einige Räume mit Holzboden, der knarrte und quietschte, alte Holzregale… Meine Mutter ließ sich von der Bibliothekarin neue Krimis zeigen, und ich wühlte mich durch die Regale und staunte, was es auf der Welt alles gibt. Mutter hat mir später erzählt, dass ich dort mit vier allein zu lesen gelernt hätte. (Sicher hat sie sich’s ausgedacht – meine Mutter wollte mich immer so klug haben.) Und dann die Bibliothekarin! Frauen und Bücher! Als Erinnerung! Ist das nicht schön?
Liebe Grüße
Jaromir
Bücherlei Weblog » Blog Archive » #327 schrieb am April 13, 2010:
[…] Etwas Vernunft im Wahnsinn Italienisch für Machos Elvis lebt Ich möchte mit dir Sex haben Die süße Tüte des Vergessens Tschechensport Ich sammle Joghurtdeckel Urbane Legenden Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben Der Mensch und die Wunder der Technik Die schönen Seiten der Globalisierung Omas Han am Tag der Arbeit Männer auf der Kirmes Eine Frau mit Buch Mein Irrglaube an den Janoschik Der freie Wille der Kneipenphilosophen Wer ist hier der Schriftsteller, verdammt? (YT) Karin, das Beutetier und das Wesen des Kapitalismus Bücher für die Blöden Der Schatz im Altvatergebirge Auf Schnäppchenjagd Tiroler Marterln. […]