Bücher für die „Blöden“
von konecny
Alles Schlechte hat seine gute Seite. Der Sozialismus zum Beispiel hat uns hemmungslos „sozial“ gemacht. Im Sozialismus musstest du eine Menge Leute kennen: Den Metzger – sonst gab’s am Abend nur grüne Wurst. Der Gemüsehändler war dein Freund, weil sogar Zwiebeln hin und wieder zu „Engprofil“-Waren zählten. Ein Kumpel in der Autowerkstatt machte sich gut, jemand bei der Polizei, diverse Handwerker musstest du kennen, den Buchhändler… ja, Wahnsinn! Was für eine super Bekanntschaft damals im Sozialismus ein Buchhändler war! Als Anfang der Achtziger zum Beispiel auf Tschechisch On the Road von Kerouac erschien! Während sich die anderen Kunden in der Schlange vor der Buchhandlung gegenseitig die Schienbeine blutig traten, hat dein Kerouac auf dich schon unter der Theke gewartet. Ohne Vetternwirtschaft lief im „real existierenden“ Sozialismus nun mal gar nichts. Nur die Schopenhauer-Jünger beschritten den Weg der Askese, lasen nicht, ernährten sich so, wie’s der Fünf-Jahres-Plan gerade erlaubte und soffen allein vor sich hin. Bier gab’s im Sozialismus genug, leider im Sommer zu warm und recht trüb – die Bierpipeline war noch vor dem Krieg gebaut worden und somit veraltet und dreckig. Trotzdem wurde der Hahn nicht zugedreht. Bier musste sein. Damit uns Übrigen das Lesen allein nicht zu öde wurde und wir selbst nicht auf blöde Gedanken kamen. An Revolutionen und so.

Im Sozialismus las bis auf die Asketen jeder, das war die zweite gute Seite des Sozialismus: Der Maurer las, der Traktorist, der Taxifahrer, die Kassiererin im Lebensmittelladen… aber nicht nur die ganz normalen Leute! Die größten Deppen lasen! Sogar ich las – als Kanalarbeiter unter den Tieföfen! Und nicht irgendeinen Schund! Der kapitalistische Schund war verboten, und den sozialistischen Schund traute man sich in den Achtzigern nicht mehr zu schreiben. Auch die Hofschriftsteller hatten ja bereits ihre Gorbatschow-Ahnungen und wollten sich nicht mehr die Finger verbrennen. Wir lasen Tolstoi und Dostojewski. Wie die Wahnsinnigen lasen wir! Es gab ja nichts anderes als Bücher. Keine Fitnesszentren gab’s, kein Yoga, keine Pendel und keine Wünschelruten, keine Pyramiden gegen die Gehirnschwingungen der bösen Nachbarin, keine Homöopathie für die Zuckerpillennascher, keine nach Schnaps duftenden Bachblütentherapeuten, keine tagelangen Suchen nach den drei biologischsten Äpfel in München, keine Computer, kein Video, keine Peepshow… Männerselbsterfahrungsgruppen hockten statt in den Kirchengemeinderäumen in den Kneipen und tarnten sich als Kampfbiertrinker… Tja! Was sollte man im Sozialismus sonst machen, als Bier trinken, palavern, lesen und hin und wieder, wenn man von dieser intellektuellen Beschäftigung zu müde war, etwas vögeln? Das scheint im Westen anders zu sein: Palavern tun wir gar nicht – das sinnlose Quatschen sei zu unproduktiv, hat mir mal ein Bekannter gesagt. Das Biertrinken und das Vögeln betreiben wir nur sehr gesittet – wir sind ja Menschen mit Kultur – unsere Kultur kann man übrigens an den niedrigen Geburtenraten ersehen. Jawohl! Als wir während der Fußball-WM unsere Kultur kurz nicht ganz so ernst nahmen, schnellten die Geburtenraten schon 9 Monate später nach oben. (Ist leider schon vorbei.) Und Bücher lesen nur die oberen Zehntausend – die im Feuilleton und die restlichen Akademiker. Wir anderen, wir „Blöden“ lesen nicht. Lesen ist Freiheit! Und von der haben wir genug, oder? Warum dann lesen?

Anfang der Achtziger habe ich in Pressburg Freunde beim Zirkus Moskau besucht. Dort arbeitete ein Zeltbauer, Lajosch, der nur Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil las. Ach was, las… Lajosch hockte einige Stunden am Tag über Musils unvollendetem Roman, schrieb Sätze heraus und lernte sie auswendig. Als sei Der Mann ohne Eigenschaften ein biblischer Roman – Lajoschs eigene Bibel. In den Zirkuswaggons der anderen Zeltbauer hingen leicht bekleidete Damen an den Wänden – die ganz nackten waren im Sozialismus auch „Engprofil-Ware“ –, bei Lajosch im Waggon dagegen hingen Zitate von Musil. Er lernte sie auswendig, und… er lebte sie. Wenn mich selbst und die anderen Zirkusarbeiter schon Unmengen Bier in die undenkbarsten geistigen Tiefen stürzten, nippte Lajosch immer noch an seinem Wasserglas, guckte unserem Selbstvernichtungswahn zu und schmiss uns Musil-Sätze an Kopf wie: „Der zurechnungsfähige Mensch kann immer auch anders, der unzurechnungsfähige nie!“
Als Schriftsteller sammelst du einfach Geschichten, du hämmerst sie mit anderen Geschichten zusammen und lässt die so neu gebaute Geschichte irgendwann wieder auf die Welt los. Die Geschichte über den Zirkuszeltbauer Lajosch, der nach Der Mann ohne Eigenschaften lebte, habe ich um die 25 Jahre mit mir herum getragen. Wo sollte ich sie unterbringen? Irgendwie passte sie zu keiner anderen Geschichte. Erst vorletztes Jahr… Ich hockte an meinem Roman Hip und Hop und Trauermarsch, in dem ein fünfzehnjähriger Ich-Erzähler aus einer Zirkusfamilie auf das Artistenleben seiner Eltern und Geschwister verzichten muss. Wegen eines kleinen Koordinationsproblems. Und da hatte ich’s! Zirkus! Mensch! Jetzt würde der Zirkuszeltbauer Lajosch endlich seine Geschichte bekommen!
Natürlich hatte ich die hiesige intellektuelle Klassenteilung nicht bedacht. Diese Teilung fängt schon in der Schule an! In Bayern werden zum Beispiel zehnjährige Kinder in „Hauptschüler“ und „Gymnasiasten“ aufgeteilt. Unglaublich, was? Wenn die Abgeordneten dann von gleichen Chancen zu labern anfangen, möchte ich schon wissen, ob es überhaupt einen einzigen Abgeordneten gibt, der damals nach seiner vierten Klasse in die Hauptschule eingewiesen wurde – klar landeten alle im Gymnasium, sonst wären sie jetzt keine Abgeordneten. Unlängst hat mir ein vierzehnjähriger Hauptschüler bei einem Workshop gesagt: „Wir Hauptschüler werden sowieso für die Blöden gehalten.“ Traurig, oder? Was halten dann später die „Blöden“ von der Gesellschaft, in der sie leben, von den Politikern, von den „Doktoren“? Zumal die „Blöden“ im Westen eigentlich gar nicht lesen sollten. Das wirkt hier wirklich etwas unpassend! Und so hat mir gleich ein westdeutscher Literaturkritiker mein altes Idol Lajosch um die Ohren gehauen. Ich würde in dem Roman „stark pädagogisieren“, meinte er. Mit dem Musil lesenden Zeltbauer Lajosch hätte ich in Hip und Hop und Trauermarsch gar „den Vogel abgeschossen“! Ein Zeltbauer, der Der Mann ohne Eigenschaften liest? So was Unglaubwürdiges? „Intellektuelle Indoktrination!“ schrieb der Kritiker – ach, Göttchen…

Naja… auch ich kann wegen der ganzen von mir geschriebenen Bücher und wegen meines Doktortitels jetzt nicht mehr so richtig damit angeben, dass ich mal unter den „Blöden“ war. Trotzdem find ich’s immer noch schön, wenn’s auf der Welt einen Zeltbauer gibt, der nach Der Mann ohne Eigenschaften lebt. Logisch muss ich jetzt einen lebenden Beweis für meine Lajosch-Geschichte finden. Einen Beweis dafür, dass auch Menschen ohne Abitur ihren Spaß an guten Büchern haben können. Ich suche wirklich fleißig. Sollte ich da draußen einen Asphaltierer mit Henry Miller in der Hand erwischen oder eine Serviererin, die sich über Stories von Charles Bukowski einen ablacht, werde ich sie sicher in einem Buch verewigen. Solche Typen beeindrucken mich einfach. Viel mehr als Akademiker, die lesen, weil es nun mal ihr Job ist. Meldet Euch bei mir, Leute!
3. July 2007Stichwörter:
Bücher, bukowski, henry miller, kerouac, Konecny, lesen, mann ohne eigenschaften, musil23 Kommentare
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Klaus Jaeger schrieb am July 6, 2007:
Passt gut zur Situation der westlichen “Intellektuellen” und derer, die sich dafür halten, weil sie mal Marx’s “Kapital” gelesen haben und jetzt, im Sommer 2007, immer noch glauben, das Proletariat würde eine Revolution veranstalten; sie wähnen sich gebildet und wollen die Leute, die den “real existierenden Sozialismus” erlebt haben, belehren – lächerlich. Jaromir’s Kolumne trifft in’s Schwarze.
Jaromir Konecny schrieb am July 7, 2007:
Vielen Dank, Klaus! Ich muss aber auch zugeben, dass ich viele westliche Intellektuelle kenne, die mit einem ganz normal reden – von Mensch zu Mensch. Das hohe Feuilleton hier kommt mir jedoch machmal schon arg abgehoben und auf Distanz getrimmt vor. Und viele verwechseln immer noch Aufklärung mit Bevormundung. Das alles ist wohlt etwas arrogant. Wenn’s einem nicht passt, was andere in der Kultur, in der Wissenschaft und in der Gesellschaft machen, guckt man lieber gar nicht hin oder spöttelt so von oben herab darüber.
Liebe Grüße
Jaromir
Markus Haas schrieb am July 10, 2007:
Warum sollte das “gut zur Situation der westlichen ‘Intellektuellen’ und derer, die … immer noch glauben, das Proletariat würde eine Revolution veranstalten”, passen?? Sind denn in Bayern die “sozialistischen” Intellektuellen (die es übrigens nicht mehr gibt) am Ruder und weisen die Kinder in Hauptschule und Gymnasium ein? Hier fehlt’s offenbar an elementarer Lesekompetenz.
Jaromir Konecny schrieb am July 10, 2007:
Hallo Markus, hier geht’s eigentlich nicht um links oder rechts, es geht darum, dass einem westlichen Intellektuellen ein lesender Arbeiter irgendwie “unnatürlich” vorkommt. Klar ist es nur eine statistische Aussage. Ich kenne viele Intellektuelle hier, die nicht so denken. Zweitens geht es hier nicht um “Bayern oder der Rest der Welt”. Ich glaube, in Gesamtdeutschland werden Kinder nach der vierten Klasse in Hauptschüler und Gymnasiasten aufgeteilt, und somit wird in Gesamtdeutschland eine “intellektuelle Klassenteilung” produziert. Ich denke, Klaus meinte damit: Wenn hier schon mal jemand etwas von Marx gelesen hat, wähnt er sich gebildeter als irgendein dahergelaufener “Ossi”. Diese Arroganz bei manchen westdeutschen Intellektuellen kann ich tatsächlich ausmachen. (Dazu kannst Du z. B. Rohstoff von Jörg Fauser lesen, wo ein junger westdeutscher Fernsehmoderator einen alten griechischen Emigranten abfertigt – eine hübsche Szene.) Und so wollte ich in meinem Artikel über die grosse intellektuelle Kluft in dieser Gesellschaft sprechen, die von den “Gebildeten” gern aufrecht erhalten wird. Als ich 1990 aus München nach Prag zu einem Kongress kam, konntest Du an den ostdeutschen (oder tschechischen) Teilnehmern nie erraten, wer von ihnen in der Gruppe der Professor, wer ein Assistent und wer ein Student sei, höchstens nach dem Alter. In den westdeutschen Grüppchen dagegen konntest Du den Professoren sofort identifizieren. Nur nach seinen Gebärden und nach dem “höflichen” Zuhören der ihn umgebenden Assis. Während meiner Karriere an der TU-München habe ich Professoren gekannt, unter deren Würde es lag, mit einem Doktoranden überhaupt zu diskutieren. Dass es hier an “elementarer Lesekompetenz” fehlt, wie Du schreibst, ist uns wohl allen klar. Warum wollen wir aber die Lesekompetenz nicht sehen, wenn sie mal bei einem Maurer tatsächlich auftaucht, ist eine andere Frage.
Liebe Grüße
Jaromir
Marcus Haucke schrieb am July 11, 2007:
Lieber Dr. Jaromir,
“intellektuelle Klassenteilung” oder „intellektuelle Klassengemeinschaft“ wäre ja, wenn Du recht haben solltest, nur eine Frage der Schulreform. Einführung der Gesamtschule und intellektuelle Glückseligkeit? Denkste Puppe, schon die östliche Insel der Seligen, die Du uns unterschieben willst, hat ja so nicht bestanden. Dein Mann-ohne-Eigenschaften-Mann war, wenn überhaupt, ja Ausdruck des repressiven Schulalltags im Osten. Es ist eine dialektische Bewegung, dieselbe Bewegung die zerreißt, bewahrt uns auch vor dem Zerreißen (G. Kantorowicz). Dieselbe Klasse, die unterdrückte und die herrschende, stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar (Marx, Heilige Familie). Du gebrauchst meine liebste Alltags-Platitüde leider nur unvollständig: „An allem Guten ist was schlechtes, an allem Schlechten ist was gutes“ Ich will eine etwas kühne Schlußfolgerung daraus und eine These wagen: „Das Versagen der gesamtdeutschen Schüler in der PISA-Studie ist vielleicht nur Ausdruck eines Erfolges (Vermögens). Die westdeutsche und auch die ostdeutsche Gesellschaft wollte und will gar nicht mehr – will die Erträglichkeit des Seins – wie leicht ist das Leben und wie dünn das Gedachte (George)“. Literatur und Dichtung sind für mich eine Frage der Widerständigkeit. Mit Verlaub, Dein Text riecht auch etwas nach Anbiederung und Literatur-Betriebsamkeit. Dein Mann-ohne-Eigenschaften-Mann nehme ich Dir so auch nicht ab, nicht weil ich meine, daß es diese Musilleser unter den einfachen Menschen nicht geben könnte – nur diese lesen, wenn überhaupt Musil. Mir scheint, daß sich Dein Balzverhalten um Publikum und Kritiker in dieser Erfindung offenbart. Die Hornverblödung ist aktuell in West- und Süd- und Nord- und Ostdeutschland so ziemlich auf einem Niveau, nur ein Hornblöder kann ernsthaft behaupten wollen, daß die Bewegung aus der heraus Musil, Kafka, Robert Walser, Borchardt u.a. geschrieben haben, eine andere war, als aus einer Bewegung von „geheimen Gegenlauf“ (Th. Mann). Alle Einhelligkeit heischenden Texte empfehlen sich für Frau Heidenreich oder Nobelpreise – leider auch dem Feuilleton – haben jedoch nichts mit Dichtung zu tun. Dein Text, mein lieber Dr. Jaromir, hat sich vor dem Osten verneigt, hat da auch nur Einhelligkeit gesucht und somit nur etwas von der nervenden Ost-Schriftsteller-Betriebsamkeit gezeigt. Diese Betriebsamkeit hat wie alles Schlechte auch etwas Gutes: Ein wirklich großer Dichter, Wolfgang Hilbig, ist so vom Westen gewürdigt worden. Das Schlechte ist, daß Erzähler, die dem Hilbig ebenbürtig waren, Benno Meyer-Wehlack etwa, im Westen fast ganz vergessen sind. Daß jeder Scheiß von (hie oder da) Christa W. oder Ingo Sch. und (da oder hie) Martin W.& Günter G. oder Daniel K. übermäßige Beachtung findet, ist n.m.E. keine Bildungsfrage, sondern hat damit zu tun, daß diesem Affirmativen, Obrigkeits-Gebildetem kaum mehr ätzend plebejisch entgegengetreten wird, die kontroverse Kritik ist leider – im Osten fast mehr, vielleicht ein Wendeerbe – so ganz aufgeweicht worden. Germanisten sind für dies höchste Kritiker-Amt leider die gänzlich ungeeignetsten, diese sind wie unsere PISA-Lehrer; indem sie den fruchtbaren Wildwuchs ausrupfen, bleibt nur das ordentliche dünne Gegenteil.
Mit unverbildeten und freundlichen Grüßen
von einem Antiquarius, der ein westostwestliches Liedchen singen kann
S.K. Lation schrieb am July 11, 2007:
Hallo Antiquarius Haucke,
leider nehme ich dir deine vermeintliche „Unverbildetheit“ auch nicht ab, denn wer es nötig hat, seine eigenen Thesen ein aufs andere Mal mit Zitaten von inzwischen verblichenen Vertretern eines Diskurses der schönen Künste aus dem letzten Jahrhundert zu untermauern, outet sich meines Erachtens als Vertreter eines inzwischen ebenso ausgestorbenen Bildungsbürgertums Thomas Mannscher Provenienz. Gefangen im Hin- und Hergerissensein zwischen Apollinischem und Dyonisischem und dabei einer Dichotomie verhaftet, die sich in ihrer binären Opposition in der heutigen Welt als ein obsoletes Konstrukt erweist. Unbehaglich macht sie augenscheinlich schon, diese Konstruiertheit, denn anders kann ich mir nicht erklären, warum man fast reaktionär ablehnend auf alles Zeitgenössische eindrischt ohne dabei vor alles über einen Kamm scherenden Platitüden à la BILD zurückzuschrecken („PISA-Lehrer“, Germanistenphobie, Feuilletonbeschimpfung etc. – wenn das mal kein „Balzverhalten“ ist – standing ovations der Trinker in Ost und West an jedem Stammtisch sind dir beim Vortrag dieser Thesen sicher). Wenn jemand von sich behauptet, im Besitz einer unumstößlichen Wahrheit zu sein, schrillen bei mir unweigerlich die Alarmglocken. Ich rate zu etwas mehr Gelassenheit. Lehn dich doch mal entspannt zurück und lass dich – Vorsicht, du wirst den daraus resultierenden physischen und psychischen Zustand erst nicht als sehr angenehm, weil neu und unbekannt empfinden, aber man gewöhnt sich dran und kann die Dosis sogar behutsam steigern, glaub mir – unterhalten. Vielleicht mal von was Zeitgenössischem z.B. dem neuen Album von Tocotronic und seinem Titeltrack „Kapitulation“:
Und wenn Du kurz davor bist,
kurz vor dem Fall,
und wenn Du denkst,
“Fuck it all!”
Und wenn Du nicht weißt,
wie soll es weitergehen:
Kapitulation ohohoh
Kapitulation ohohoh
Kapitulation ohohoh
Kapitulation ohohoh
ohohoh
ohohoh
Und wenn Du denkst,
“Alles ist zum Speien!”
Und so wie Du jetzt bist
willst Du überhaupt nicht sein.
Wenn Du Dir sicher bist,
niemand kann Dich je verstehen:
Kapitulation ohohoh
Kapitulation ohohoh
Kapitulation ohohoh
Kapitulation ohohoh
ohohoh
ohohoh
Und wenn Du traurig bist
und einsam und allein,
wenn die Welt im Schlaf versunken ist,
Du wirst es nie bereuen.
Wenn Du denkst, “Fuck it all,
wie soll es weitergehen?”:
Kapitulation ohohoh
Kapitulation ohohoh
Kapitulation ohohoh
Kapitulation ohohoh
ohohoh
ohohoh
Die Vögel im Baum,
sie kapitulieren.
Die Füchse im Bau,
sie kapitulieren.
Die Wölfe im Gehege,
sie kapitulieren.
Die Stars in der Manege,
sie Kapitulieren.
Alle, die die Liebe suchen,
sie müssen kapitulieren.
Alle, die die Liebe finden,
sie müssen kapitulieren.
Alle, die disziplinieren,
sie müssen kapitulieren
Alle, die uns kontrollieren,
sie müssen kapitulieren.
Alle, die uns deprimieren,
sie müssen kapitulieren.
Lasst uns an alle appellieren!
wir müssen kapitulieren.
Kapitulation ohohoh
Kapitulation ohohoh
Kapitulation ohohoh
Kapitulation ohohoh
ohohoh
ohohoh
Schöne Grüße
Dirk
Jaromir Konecny schrieb am July 12, 2007:
Tja, Marcus, vielleicht solltest Du meinen Text doch noch mal lesen. Ich weiß auf jeden Fall nichts davon, dass ich Dir dort “eine östliche Insel der Seligen unterschieben” wollte, wie Du schreibst. Ich bin ja selbst 1982 dem Sozialismus davon gelaufen. Und was soll die Anrede “Dr. Jaromir”? Den Witz kapiere ich einfach nicht! Oder hab ich irgendwo als “Dr. Jaromir” unterschrieben? Und bei wem soll ich mich hier in Bayern (wo ich seit 25 Jahren lebe) mit meiner vermeintlichen Ostalgie angebiedert haben? Bei den Ossis in der CSU? Kannst Du mir das erklären?
Trotzdem liebe Grüße
Jaromir
Literaturwelt. Das Blog. » Blog Archive » Jaromir Konecny schrieb am July 12, 2007:
[…] nur die ganz normalen Leute! Die größten Deppen lasen! Sogar ich las…” (aus: Bücher für die Blöden) – Unbedingt auch Tiroler Marterln, Der Schatz im Altvatergebirge und Auf Schnäppchenjagd […]
Michael Errot schrieb am July 12, 2007:
Sehr verehrter Herr Haucke,
in Ihrem Fall gilt wie so oft für Foren,
blogs und alles weitere:
Verwechseln Sie bitte nicht das Recht auf
Meinungsfreiheit mit einer Pflicht zur
Meinung.
Jaromir Konecny schrieb am July 12, 2007:
Lieber Dirk, lieber Michael,
vielen Dank für die Unterstützung.
Liebe Grüße
Jaromir
Marcus Haucke schrieb am July 12, 2007:
Lieber Eskalations-Dirk,
Kapitulation kann Unterwerfung sein oder Unterhandlung über die Fortführung des Dienstes. Meine Lieblingskapitulation ist die von Falstaff in Heinrich IV von Shakespeare. Bürgerlicher Bildungsscheiß?! Er kapituliert vor den falschen Ehrbegriffen, läßt sich einfach fallen im Gefecht gegen Heißsporn, jedoch nur um sich diesen dann als tote Trophäe auf den Rücken zu schnallen. Standing ovations für diesen größten Trinker der Weltliteratur (in West und Ost). Daraus mögest Du sehen, daß ich in der Tat eine hohe Meinung von den Trinkern habe. In Sachen Kunst und Literatur besitzen sie höchste Kompetenz – auch ein Grund, daß ich Jaromirs Mann-ohne-Eigenschaften-Mann für reine Fiktion halte, schlecht ausgedacht zudem, denn der trinkt Wasser.
Es ist möglich, daß ich Deine Empfehlung zur Gelassenheit und Entspannung in den falschen Hals bekommen habe, vielleicht habe ich auch gar nichts verstanden, ganz sicher bin ich, daß Deine Jungmenschen viel Bürgerlicher sind als Trinker in Ost und West, jedenfalls die, die ich kenne. Antiquare kennen viele Trinker, es sind auch Germanisten darunter. Ich versichere Dir, daß ich – schon aus dem eben genannten Grunde – keinerlei Germanistenphobie habe und auch nix von Feuilletonbeschimpfung verlauten ließ. Nur ein ganz klein wenig Unwillen habe ich geäußert, darüber das derlei Produkte kaum mehr einer Kritik unterzogen werden. Mir schwant, daß Deine Neigung zur Unterwerfung auch nur so ein Falstaff-Trick ist, um sich vor der Kritik totzustellen und still Eskalation zu betreiben. Vielleicht kennst Du Heinrich Heines Empfehlung zur Entspannung:
Die Neger berichten: der König der Tiere,
Der Löwe, wenn er erkrankt ist, kuriere,
Sich dadurch, daß er einen Affen zerreißt
Und ihn mit Haut und Haar verspeist.
Ich bin kein Löwe — ich bin kein König
Der Tiere, doch wollt ich erproben ein wenig
Das Negerrezept — ich schrieb dies Poem,
Und ich befinde mich besser seitdem.
Salute! Achte mir die heiligen Trinker
Marcus
Sehr geehrter Herr Errot,
Sie vermuten falsch, ich bin viel gelassener und fühle gar keine Pflicht zur Äußerung meiner Meinung. (Bin allerdings nicht ganz frei von einem Zwang zur Antwort?! Das ist wahrscheinlich auch Unsinn? Was sagen Sie?). Ich liebe die Kunst und die Literatur und habe mir ein paar Texte von Jaromir angetan und fand, damit hat dies nun wirklich gar nichts zu tun, mit Kunst und Literatur. Die Freiheit zu dieser Meinung sollte ich haben, oder? Auch überschätze ich nicht dieses Forum. Mir war schon bewußt, daß Jaromir hier nur flottes Eingemachtes anbietet. Der Freund der Unterwerfung, Dirk, wird dies vielleicht wieder für eine Dichotomie halten, flottes Eingemachtes „die sich in ihrer binären Opposition etc. pp.“ – starker Tobak Dirk, ich verstehe, was Du sagen willst – und auch damit hätte Dirk recht. Also entweder ist die Ware frisch und dann ist sie zum sofortigen vergessen, pardon verzehr, oder sie ist es wert aufgehoben zu werden. Na, das ist es wohl auch nicht. Bei Dünnbier wollte uns Jaromir davon plaudern, daß er mal jemanden kannte, der Musils Mann ohne Eigenschaften gelesen hat, von dem er berichten konnte, daß dieser wohl kein Schriftsteller wurde. Und das fand ich eben schade, daß nicht der Andere Schriftsteller geworden ist, sondern wahrscheinlich… Trinker?. Und das mir Jaromirs „erträgliche Leichtigkeit des Seins“ furchtbar fad ist, das wollte ich auch nebenher zum Ausdruck bringen, und das er ein Repräsentant dessen sein könnte, viel mir auch dabei auf. Und dann gab es da etwas, das ja vielleicht richtig entdeckt war, vielleicht nicht so flott erzählt, daß ich ganz ernsthaft meine, das Schulreformen nicht notwendig sind, kostet nur Geld, wir längst diese Bildung haben von der Jaromir ein Repräsentant sein könnte, wenigstens im Literaturbereich.
Nehmen Sie es, lieber Herr Errot, als einen Zwischenruf. Ich weiß längst, daß die Jaromirs durch Kritik nicht besser werden.
Mir freundlichen Grüßen
Marcus Haucke
Lieber Jaromir,
Du hast sicher sagen wollen, es war nicht alles schlecht und, da Du dies in einer unernsten Weise gesagt hast, dies „es war nicht alles schlecht“, hast Du recht und so ziehe ich meine „Insel der Seligen“ mit großem Bedauern zurück und behaupte das Gegenteil von dem, was ich soeben bestritten habe. Ich weiß nämlich dann nicht, worum es Dir ging? Kenne Dich auch gar nicht, Deine „Interna“ (Angelegenheiten mit Dr. etc.) habe ich Deinen Texten entnommen. Eine harmlos übertriebene Anrede, um Dich ein wenig aus dem dünnbierseligen Plaudertritt zu bringen. Die Irritation ist eine Kraft (B.MW.) Deine flotte Schreibe ist mir zu geschwind, ich las Dich ziehen. Entschuldige, wenn ich Dich angehalten habe. Für mich warst Du nicht in Bayern, sondern im Internet hast Du über Ostleser schwadroniert, zudem im zvab. Das hab ich auch nicht verstanden und nehme ich mit demselben Bedauern zurück.
Gute Fahrt und hab Dich wohl
Marcus
Michael Errot schrieb am July 13, 2007:
Sehr geehrter Herr Haucke,
lassen Sie mich doch darauf mit einem Zitat
antworten:
“Never argue with a fool, people might not
know the difference.”
aus Murphy´s Law
Ob ich damit Ihrer gedenke, oder Sie meiner
gedenken sollen, das überlasse ich wiederum
freundlich Ihnen.
Ich wünsche Ihnen noch
einen schöne Tag und verbleibe
mit freundlichen Grüßen
M. Errot
Jaromir Konecny schrieb am July 13, 2007:
Lebe wohl, Marcus!
Dein angeküdigter Abschied wird uns wohl allen gut tun. Nur eine allerletzte Anmerkung: Dass es keine Literatur sei, was ich schreibe, sagen mir Leute wie Du seit mittlerweile 30 Jahren – sowohl im Sozialismus als auch im Kapitalismus. Ist also keine Neuigkeit für mich und eigentlich auch wurscht!
Einen schönen Sommer wünscht
Jaromir
Marcus Haucke schrieb am July 13, 2007:
„A fool such as I “, ein Narr! das geht in Ordnung, sehr geehrter Herr Errot!
aufrichtigen Dank für diese Unterscheidung. Hoffentlich tue ich Ihnen nicht weh, wenn ich die Narrenrolle für mich beanspruche und Sie auf die weniger lustige Seite stelle, der „von uns allen“ (der von Jaromir, winke, winke Jaromir!). Natürlich können Sie die Seite selbst wählen, ich bin der Letzte, der jemanden ausschließt oder zurückweist!
„Reply not to me with a fool-born jest“ so weist der Würdenträger den drolligen Gefährten von einst zurück. „Warum eigentlich nicht?“ ist die Antwort auf die Frage in dem jüdischen Witz: „Warum müßt ihr immer, eine Frage mit einer Gegenfrage beantworten?“
Bleiben Sie mir, was ich Ihnen bin!
Einen schönen Tag und freundliche Grüße (auch an Jaromir Dank für den Sommergruß, den ich freundlichst retourniere)
Marcus Haucke
Paul Grotowski schrieb am July 15, 2007:
“Im Sozialismus las bis auf die Asketen jeder, das war die zweite gute Seite des Sozialismus: Der Maurer las, der Traktorist, der Taxifahrer, die Kassiererin im Lebensmittelladen… aber nicht nur die ganz normalen Leute!”
Das stimmt. Oft mit Wehmut schaue ich zurück auf die Zeiten, in denen es ein Land gab, in dem man sich mat fast jedem und jeder über Literatur unterhalten konnte. Das waren schöne Zeiten.
Jaromir Konecny schrieb am July 17, 2007:
Hallo Paul,
an diese “schönen” Zeiten erinnere ich mich auch. Trotzdem habe ich Henry Miller, Celine, Hamsun, Bukowski und viele andere wichtige Autoren erst im Westen kennenlernen dürfen – in der sozialistischen Tschechoslowakei gab es Bücher dieser Schriftsteller einfach nicht. Sogar manche Texte von Bohumil Hrabal und anderen Tschechen habe ich erst hier unzensiert gelesen. Man konnte sich damals tatsächlich mit fast jedem über Literatur unterhalten – nur sagen konnte man nicht alles. Vielleicht waren’s trotzdem schöne Zeiten – zum Glück sind sie vorbei!
Liebe Grüße
Jaromir
Sebastian Schuck schrieb am November 14, 2007:
Ich mal wieder:
Irgendwas mache falsch! Wie kann ‘Mann’ nur soviel Zeit zum bloglesen und schreiben haben – sich vor unschuldig-staunendem Publikum auf höchstniedrigem Niveau streiten, verklausulieren, Eitelkeiten betonen, Verletzungen pflegen. Müsst ihr denn garkein Gööld verdienen?
Vielleicht hilft mir ja ein Anfängerkurs für Antiquare beim ZVAB.
Oder ein Boxring für euch, in dem die Kopfenergie wieder in den Bauch rutschen kann; oder ein grosses Bett ‘für noch tiefer’…
Jaromir, das mit dem Doc ist doch eigentlich lustig, und du solltest es als Kompliment von Professor Haucke verstehen. Nehmt euch doch nicht so ärnst!
Was hier wirklich fehlt, sind Frauen, glaube ich. Ihr Literatur-Machos merkt anscheinend garnicht, wieviel heisse Luft ihr unter Missbrauch von Zitaten und Gegenzitaten aus allen Kulturen fabriziert. Jedes dieser Originale entstammt einem kreativen, in der Regel für seine Zeit und sein Metier fortschrittlichen Geist aus Fleisch und Blut. Bei euch bleibt leider nur der Geist…
Bitte nicht (wieder) zensieren; ich meine es nicht böse! Nur direkt!!
Sebastian Schuck.
CO-LIBRI – Schöne, seltene und ‘wichtige’ Bücher.
Emese schrieb am November 29, 2007:
um Ehrlich zu sein, hatte ich keine Lust, alle Kommentare runterzulesen. Ich kann nur herausstellen, dass in mir die Kühnheit, mit der hier zu Beginn des Blogs festgestellt wird, es gäbe außerhalb akademischer Gefilde keine Intellektuellen, Staunen hervorruft. Ich lebe seit 23 Jahren im Rheinland, habe sozialistische Kinderkrippe und Kindergarten Süd-Ost-Ungarns gerochen. Ich vermag jedoch immer noch nicht zu sagen, wo genau die Intellektuellen sich z. B. in Köln konzentrieren. Am ehesten wohl in der Karl-Rahner-Akademie, wo ich mal als Calvinist unter Jesuiten zu Gast war. Die Vorträge dort kann ich nur weiterempfehlen. An der Universität hingegen machen sich sogar in den sog. Orchideenfächern langsam aber sicher die Proll-Studenten breit. Unter solchen verstehe ich Leute, die im Monat etwa 500Euro für Bekleidung ausgeben und in der Bibliothek so laut an der Umkleide reden, dass Alle es hören müssen, primär über ihre Gelage am Wochenende und über die Mädels, die sie vernascht haben, sowie zu 80% Gelästere, wer wie aussieht. Manchmal denke ich, ich bin in so einer TV-Show-Arena, wo spartanische Lästersitten herrschen (wer scheisse aussieht, wird die Klippen hinabgeworfen). Aber es ist die juristische Bibliothek Bonn, wo ich fachfremd gastiere. Empfehlen kann ich hingegen die Mathematiker. Kein Nimbus, aber sehr gute Köpfe (statistisch), die neben maximal 4 Stunden leistbarer hoch konzentrierter Abstraktion viel Zeit zum Lesen, Jonglieren und Musik machen haben.
An der Juristen/VWLer-Uni und v. a. in Köln hingegen kommt auf die Frage, ob x mit in die y-Theatervorstellung kommt ein- “Theater?!-Datt is´mer zo vill Kultuur!! á la facon coloniensis.
Jaromir Konecny schrieb am November 30, 2007:
Hallo Emese,
in der soz. Tschechoslowakei haben wohl mehr Intellektuelle als Heizer oder Kulissenbauer im Theater gerabeitet (ein typischer Intellektuellenberuf nach dem sowjetischen Einmarsch) als Dozenten an den Unis. Während meines Militärdienstes in Kosice (Kaschau in der Ostslowakei) hat uns unser “Politruk” (Absolvent der Hochschule für Marxismus-Leninismus) erzählt, dass Nil in Indien fließe, und russische Revolutionäre 1905 ihre Revolution eigentlich mit Absicht nur geprobt hätten – um sie erst 1917 ordentlich durchzuziehen. Die siegreichen Kommunisten sollten nun mal nicht durch Niederlagen beschmutzt werden. Wie dem auch sei. Ich habe immer Intellektuelle bewundert, die’s trotz Widrigkeiten und trotz Lebens im Dreck geschafft haben, Intellektuelle zu bleiben. Oder noch Besseres: Neugierig, offen und Menschen!
Liebe Grüße
Jaromir
PS: Jonglieren tue ich auch, na, klar!
caro schrieb am December 13, 2007:
Vielleicht weicht was ich jetzt schreibe etwas von der Intention Deines Textes ab und ich habe nicht die gesamte Diskussion verfolgt, jedoch möchte ich loswerden, dass mich deine Zeilen über die Gier nach Büchern während des Sozialismus wirklich zum Grübeln bringt.
Ich hätte gerne meine Freiheit erkämpft, sodass ich sie jetzt in vollen Zügen genießen könnte. Gewusst, warum ich sie will, und wer sie mir warum nehmen möchte.
Ich bin 26 Jahre alt, gut behütet und frei erzogen aufgewachsen, Gymnasium, Studium, bla, habe die regelrechte Lust an Büchern, nach intellektueller Befriedigung (wenn es die den geben sollte) erst spät nach 20 für mich entdeckt. Von sozialistischen Zwängen und subversiven Strömungen verstehe ich nichts, Aber ich beneide Menschen, die um ihre Freiheit kämpfen. Ich sehe nur die Freiheiten die wir haben und die nur wenige in Anspruch nehmen wollen. Ich finde es schade, dass es keine wirkliche Gegenbewegung für irgendwas gibt, irgendetwas Sinnstiftendes, womit man sich identifizieren kann, Literatur, die Aufbegehren schafft. Ich wäre sehr froh, Teil einer Jugendbewegung (gewesen) zu sein. Damit meine ich nicht, ein bisschen Bush-Polemik hier und G8-Proteste da.
Vielleicht hätten dann auch die, wie Du sie nennst “Blöden” ein Interesse am Lesen. Wenn die laut Zeugnis “Schlauen” nicht von ihrem Recht im ursprünglichen Sinne Gebrauch machen, wieso sollen es die, die es von ebendiesen nur als Hirnwichse vorgesetzt bekommen?
Einen weitere Gesellschaftskrankheit scheint zu sein, dass wir zu wenig über die Vorkämpfer unserer Freiheit zu wissen scheinen. Vor kurzem finde ich auf Maischbergers Couch eine kleinhorizontig daherplappernde Lady Bitch Wieauchimmer, die noch nie etwas von Oswald Kolle gehört hat (der nebenbei viel zu verwässert redete) und sich als Vorkämpferin einer neuen Frauenbewegung sieht, weil sie in ihren Raps jeden zweiten Satz die Worte “ficken” und “blasen” packt.
Und dann lese ich Henry Miller und möchte der Lady Bitch gerne das Buch in die Hand drücken.
Können wir heute noch gegen etwas sein und gleichzeitig wissen, wofür? Verzeiht meine Naivität.. vielleicht bin ich auch zu jung um hier mitreden zu können.
Ich bin hier übrigens durch googlen nach dem “Wendekreis des Krebses” gelandet. Tolle Seite. Und vielen Dank für die Denkanstöße.
Jaromir Konecny schrieb am December 15, 2007:
Hallo Caro,
ich habe Deinen Kommentar gestern mittags gelesen, musste dann weg, aber mache mir seitdem Gedanken drüber – Du hast bei mir also eine Menge angestossen.
Ich glaube langsam nicht, dass es in dieser verrückten Medienwelt noch etwas geben könnte, das viele Menschen gleichzeitig und geschlossen antreiben würde, diese Welt zu verbessern, voranzubringen, zu ändern. In dem gnadenlos chaotischen Ideenkampf, den uns die Medien tagtäglich vorführen, wird jede Idee davongetrieben, bevor sie sich’s auf ihrem erkämpften Thron nur etwas gemütlich machen könnte. Vielleicht ist es auch in Ordnung so: Zu viele “gute” Ideen haben uns irgendwann später schon eine Menge Ärger gebracht. Mir persönlich gefällt “das Ende der Ideologien” (im Westen) ganz gut. Freilich müssen wir um unsere Freiheit weiter kämpfen – dieser Kampf ist vielleicht nicht so spektakulär, wie der gegen eine handfeste politische Diktatur, und viel “lokaler”, doch genauso wichtig.
Zum Beispiel: Gegen Dummheit und Heuchelei. Und damit bin ich gleich bei Henry Miller angelangt und bei Deiner “Lady Bitch”. Wie Du andeutest, wollte Henry Miller damals sicher nicht mit seinem “Wendekreis des Krebses” provozieren. Er wollte einfach literarisch das Leben anpacken – so wie es nun mal war. Trotzdem wurde sein Buch von Heuchlern verboten. Von Männern, die das Abschlachten der Menschen für moralischer hielten als Millers schonungslose Darstellung dessen, was zwischen Mann und Frau, zwischen Mann und Mann damals wirklich abging: Auf der Strasse, in der Arbeit (eher im “Wendekreis des Steinbocks” thematisiert), in der Kneipe, im Bett. Miller wusste halt, die Gesellschaft beginne dort, wo sich zwei Leute treffen: Du und ich. Der Rest war für Miller einfach Sprache – Sprache und Literatur. “Obszön ist für mich die Atombombe!” hat Henry Miller mal gesagt.
Obwohl du heutzutage in den Medien die verrücktesten Perversionen dargestellt und thematisiert bekommst, wird die normale Sexualität, die wir Menschen täglich erleben, immer noch tabuisiert. Jeden Tag schlachten sich in der Glotze Tausende von Schauspielern ab, Menschen werden gefoltert, aufgeschlitzt, zerstückelt – das ganze gilt als “anständig”. Nicht so “dreckig” auf jeden Fall wie eine explizite Sexdarstellung. Warum eigentlich? Warum sehen wir Sexualität immer noch als etwas Schmutziges an? Schmuddliges? Wir Theoretiker der “unbefleckten Empfägnis”! Wie armselig sind wir, wenn wir durch solche “Ideen” die “normale Empfägnis” abzuwerten versuchen?.. Ist so was nicht wahrhaft “schmutzig”? Das Schönste, was uns Gott gegeben hat, in den Dreck zu ziehen? Na, ja, ich gebe zu – ich glaube nicht an IHN. Und ich find’s einfach ekelhaft vulgär (viel vulgärer als “ficken” zu sagen), wenn ein erwachsener Mann, der sich selbst längst verloren hat, über die “feuchten Phantasien” eines 15jährigen Jungen herzieht. Ich selbst hatte mit 15 keine anderen. Hab’s nicht vergessen. Diese Phantasien haben mir damals ja ganz zu schaffen gemacht. Kann man sich aber bei diesem medialen Zustand wundern, dass hin und wieder eine “Lady Bitch” auftaucht, die diese unsere Verklemmtheit und Heuchelei zur Selbstdarstellung nutzt? Literatur, die nur wegen “ficken” und “blasen” geschrieben ist als Selbstzweck, würde uns in einer “normalen” Welt vollkommen wurscht sein. “Na, und?”, würden wir sagen. “Hab ich auch schon gemacht!” Leider leben wir in einer nicht “normalen” Welt (aus diesem Grund in einer ziemlich lustigen zum Glück). So gibt’s wohl “Ladies Bitches” und Ejakulationsbarden auch, na, klar, die’s immer noch in die Glotze schaffen. Aber jetzt mache ich Schluss – bevor ich heut noch ganz tiefsinnig werde.
Liebe Caro, danke für Deinen anregenden Kommentar und den Zuspruch!
Liebe Grüße
Jaromir
Panorama « The Outside of the Asylum schrieb am July 22, 2008:
[…] Wer nicht im Sozialismus gelebt hat, kann sich manches einfach nicht vorstellen. Literaturbegeisterte Proleten zum Beispiel. Einen wunderbaren und unbedingt lesenswerten Rückblick auf die rote Zeit gibt es hier: Bücher für die „Blöden“. […]
Bücherlei Weblog » Blog Archive » #327 schrieb am April 13, 2010:
[…] nicht nur die ganz normalen Leute! Die größten Deppen lasen! Sogar ich las…” (aus: Bücher für die Blöden) – Weitere gesammelte […]