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Angela Nanetti: Mein Großvater war ein Kirschbaum

von bardola

In Italien gibt es seit Italo Calvinos Baron auf den Bäumen eine Tradition, existentielle Fragen in luftigen Höhen abzuhandeln.

Ich sah, dass Mama sich Sorgen machte.
„Tonino, bitte …“
„Ich steige nicht ab, weil sie den Baum absägen wollen“, wiederholte ich. Und je öfter ich es wiederholte, desto mehr spürte ich, dass es richtig war.
Also stiegen die Feuerwehrleute in ihr Auto und fuhren die Leiter aus. Einer kletterte daran hoch. Ich wartete, bis er sich meinem Ast genähert hatte. Als er sich streckte, rutschte ich auf einen anderen Ast. Ich hörte Großvaters Stimme: „Du musst denken, du wärst ein Vogel oder eine Katze, du musst daran denken, dass der Kirschbaum dein Freund ist.“
Und so kletterte ich rauf und runter und die Feuerwehrleute drehten ihre Leiter in alle Richtungen, aber sie erwischten mich nicht. Schließlich war ich ganz oben in der Baumkrone.

Angela Nanettis siebenjähriger Ich-Erzähler Tonino kämpft für einen Kirschbaum, der den Namen Felice – der Glückliche – trägt. Die Stimme des Großvaters hört er nur in Gedanken, denn zu diesem Zeitpunkt ist Ottaviano schon tot. Aber mit denselben Worten hatte ihm der Alte ein Jahr davor das Klettern beigebracht. „Innerhalb einer Woche wurde ich zu Tarzan“, berichtet Tonino stolz. Laut Ottaviano soll auch Toninos Mutter, Ottavianos Tochter, „ein Kletterteufel“ gewesen sein. „Aber damals war der Baum viel kleiner!“, schreit Mama entsetzt, als sie von Toninos Rekorden hört.

Ottaviano war sein ganzes Leben lang immer wieder auf Bäumen. Ursprünglich wollte er Zirkusartist werden, doch dann ließ er sich zum Gärtner ausbilden. Ottavianos Enkel ahmt ihn jetzt nach. Bei den zahlreichen Baum-Szenen denken italienische Leser sofort an den Baron auf den Bäumen, ein generationenübergreifend prägender Roman, den es auch in einer vom Autor bearbeiteten Fassung für Kinder gibt.

Bis zu der letzten, ziemlich dramatischen Jagd in Felices Geäst, im Verlauf derer Tonino die Gemeindevertreter erfolgreich daran hindert, einen Teil des großväterlichen Gartens zu enteignen, um eine Straße zu verbreitern, hat der Stadtjunge – und mit ihm der Leser – sehr viel über das Leben auf dem Land, über die Geheimnisse der Natur, über Liebe und Trennung, über Kindheit und Alter und vor allem über das Leben und das Sterben gelernt.

Der stille, ernste und zarte Zauber, der von dieser für den deutschen Jugendliteraturpreis nominierten Geschichte ausgeht, ist schwer zu beschreiben. Die Sprache ist sehr einfach (das Hörbuch von Mein Großvater war ein Kirschbaum wird schon ab 6 Jahren empfohlen!) und spannende Höhepunkte gibt es nur wenige. Liegt es vielleicht am italienischen „dolce vita“, an den vielen Weisheiten Ottavianos oder an der Schaumcreme Zabaione? Jeden Morgen gibt’s bei Großvater Ottaviano Zabaione zum Frühstück: Ei, Zucker, Sahne. Die Zabaione muss so frisch sein, „dass sie noch nach Huhn riecht“, sagt Großvater. Deshalb holt er jeden Abend frische Eier bei einem Nachbarbauern, der seinerseits seine Hühner „wie Prinzessinnen behandelt“. Und natürlich gehört ein Schuss Rotwein in die Zabaione.

Liegt es am bäuerlichen Leben? An der klugen Gans Alfonsina? Nachdem die Nonna gestorben ist, verbringt Großvater viele Stunden unter dem Kirschbaum in Großmutters Sessel, Alfonsina auf seinem Schoß. Mit geschlossen Augen lauscht Ottaviano in den Baum hinauf. Und er lehrt auch Tonino, besondere Dinge wahrzunehmen: die Geräusche der Vögel, der Bienen oder des Windes. So versteht Tonino, dass Bäume atmen können. Und er lernt, dass Menschen erst sterben, wenn man sie vergessen hat. Die schwergewichtige Großmutter Teodolinda wird niemand jemals vergessen. Ob ihre Seele in Alfonsina übergegangen ist?

Der Zauber dieser Geschichte hat wohl auch mit dem feinen Humor zu tun: Ottaviano als Weihnachtsmann verkleidet in Toninos Schulklasse. Kinder, die zum ersten Mal eine Gans berühren. Toninos Kameraden, die langsam verstehen, warum der Junge so seltsame Sätze schreibt wie „die Zweige von Felice sind rosa gefärbt“ und ihn nicht mehr auslachen.

Knapp und treffend beschrieben sind die Verbindungen und Spannungen zwischen den drei Generationen, die Trennung von Toninos Eltern, seine Sehnsucht nach dem Leben auf dem Land, die heimlichen Bündnisse mit Ottaviano, die Trotzreaktionen und Einsichten in tiefere Wahrheiten. Als der Großvater unter dem Kirschbaum eine Nacht lang ein Feuer in Gang hält, damit die Knospen nicht erfrieren, schläft der Alte ein und holt sich eine Lungenentzündung. Er kommt in eine Klinik, in „das Haus der Farblosen“, das er nie mehr verlassen wird. „Alte Bäume, die man verpflanzt, sterben“, hatte Ottaviano schon früher gesagt. Tonino besucht ihn nur einmal. Ottaviano ist so abgemagert und blass, dass Tonino ihn dort nicht mehr besuchen will. Nach vier Monaten stirbt er.

Mama war ganz verzweifelt und mir wurde klar, dass Großvater wirklich tot war. Aber ich fühlte keinen Schmerz.
Sie weinte und ich stellte mir Großvater vor, wie er in diesem schneeweißen Zimmer am Fenster saß und immer dünner und leichter wurde und schließlich davonflog. Wie eine Feder von Alfonsina, die der Wind im Hof herumwirbelte. Großvater war eine Feder geworden und ich war froh, dass er wegflog. Ich fragte Mama, ob eine Feder bis zu Großmutter Teodolinda fliegen konnte, und sie sah mich erstaunt an und antwortete, dass sie auf solche dummen Fragen nicht eingehe. Also erklärte ich ihr, was ich mir ausgedacht hatte. Da weinte sie wieder, doch dann trocknete sie sich das Gesicht mit den Händen ab und umarmte mich.
„Du hast Recht, Großvater muss einfach davongeflogen sein. Dieser Ort war nichts für ihn, er war ein Gefängnis!“

Am Ende träumt Tonino, dass er Purzelbäume auf Ästen schlägt. Und dass der Baum sich schüttelt, weil er lacht. Denn wenn Bäume atmen können, warum sollten sie dann nicht auch lachen können?

Angela Nanetti im ZVAB

Marco und Valeria (1990)
Eine tierisch nette Famile (1994)
Chaos im Feriencamp (2007)

Diese Kolumne erscheint außerdem im Eselsohr – der Zeitschrift für Kinder- und Jugendmedien.

28. July 2008

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1 Kommentar

  1. Renate Lieder schrieb am August 5, 2008:

    Ich habe diese einfühlsame und berührende Geschichte als Hörbuch schon zwei Mal gehört und wünschte, es würde mehr von diesen Großvätern und Enkeln geben, in dieser unserer Zeit.
    Ein Buch was nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene mutmachend ist und über Sinn und Sinnlosigkeit nachdenken lässt.


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