„Wenn früher zwei Menschen aufeinander geschossen haben, dann waren es ein Cowboy und ein Indianer…“
von bardolaEin Interview mit Morton Rhue zum Thema Gewalt an den Schulen
Das folgende Interview mit Morton Rhue fand am 15. März 2002, also über einen Monat vor dem Massaker von Erfurt statt. Der amerikanische Autor, der zwanzig Jahre nach seinem Bestseller Die Welle wieder ein brisantes Thema aufgegriffen hatte, hatte kurz vor unserem Gespräch eine Lesereise durch Deutschland beendet. Der Tenor an den deutschen Schulen lautete angesichts der von Rhue in Ich knall euch ab! beschriebenen Bluttat: „Zum Glück kann so etwas bei uns nicht geschehen, allein schon, weil es in den deutschen Haushalten nicht so viele Waffen gibt…“ Wenige Wochen nach den Ereignissen von Erfurt, nachdem die Realität das Vorstellungsvermögen aller überstiegen hat, wurde diese Haltung widerlegt.
Nicola Bardola: Welche Unterschiede konnten sie zwischen den Lesungen in deutschen und in amerikanischen Schulen feststellen?
Morton Rhue: Genau genommen lese ich selten vor amerikanischen Schülern. Ich werde zwar oft eingeladen, muss dann aber multimediale „Shows“ und „Workshops“ anbieten: Ein Vortrag mit Bildern und Sounds muss es schon sein, denn amerikanische Schüler wollen unterhalten werden, sonst werden sie unruhig und konzentrieren sich nicht mehr. Die deutschen Schüler hingegen blieben ruhig und aufmerksam sitzen. Wir lasen nur und doch hörten sie mir genau zu.
Welches sind die wichtigsten Ursachen für die steigende Gewalt von Jugendlichen?
Das ist ein komplexes Problem. Ich bin übrigens gar nicht sicher, ob die Gewalt objektiv tatsächlich zugenommen hat. Jedenfalls haben sich Dinge verändert, die dazu führen, dass es zumindest so aussieht, als sei die Gewalt gewachsen. Heute stehen den Jugendlichen, vor allem in den USA, viel mehr moderne und gefährliche Waffen zur Verfügung. Es ist kein Problem mehr für Kinder, sich Handfeuer- und halbautomatische Waffen zu beschaffen.
Im Nachwort weist Klaus Hurrelmann darauf hin, dass die Gewalt tatsächlich, auch statistisch erfassbar, gestiegen ist, zumindest in Deutschland.
Das glaube ich ihm sofort. Ich sehe drei Hauptursachen für den Anstieg. Erstens die Medien: Fernseh- und Kinofilme thematisieren verstärkt Gewalt unter Jugendlichen. Und die Art der Gewaltdarstellung hat sich verändert. Wenn früher zwei Menschen aufeinander geschossen haben, dann waren es ein Cowboy und ein Indianer oder ein Räuber und ein Polizist. Seit den 1970er- und 1980er-Jahren sind es aber gewöhnliche Menschen wie du und ich, die in Filmen zu Schusswaffen greifen. Damit werden gefährliche Beispiele geboten und die Identifikationsbasis wird größer. Zweitens: die problemlose Verfügbarkeit von Waffen. Drittens: die zunehmend schwierigen, ja zerfallenden Familienstrukturen. Eltern haben immer weniger Zeit für ihre Kinder und allein erziehende Eltern – deren Zahl zunimmt – erst recht. Die Mutter und Hausfrau von früher, die sich auch um die Erziehung der Kinder gekümmert hat, gibt es kaum noch. Die Arbeitsbelastung der Eltern steigt ständig. Doch die Schulen sind mit Erziehungsaufgaben überfordert. Und viertens, aber dies ist nichts Neues, obwohl es vielleicht auch zugenommen hat: all das, was unter dem Stichwort Mobbing zusammengefasst werden kann. Die psychische und verbale Gewalt unter Kindern und Jugendlichen.
Was kann jeder Einzelne gegen diese Entwicklung tun?
Gegen Punkt eins, die brutaleren Gewaltszenen in Filmen, lässt sich kaum etwas unternehmen, zumal hier das Recht der Meinungsfreiheit tangiert würde. Natürlich kann man mit den Kindern sprechen. Man kann versuchen, sie vor solchen Filmen zu schützen, vor allem wenn sie zu jung dafür sind. Aber sofort stellt sich wieder die Zeitfrage, zumal Eltern nach der Arbeit zu müde sind, um sich damit zu beschäftigen. Was die Verfügbarkeit von Waffen angeht, kann man hingegen an die Ursachen gehen, sprich die Hersteller, Vertreiber und Gesetzgeber zu einer Änderung ihrer Einstellung auffordern. Punkt drei ist ein hochkomplexes Problem, das vor allem soziologische, politische und wirtschaftliche Probleme betrifft. Kurzfristig eine Verbesserung herbeizuführen ist sehr schwierig. Aber ein Teil der knappen Zeit, die Erziehungspersonen ihren Kindern widmen, sollte sich mit Mobbing beschäftigen. Die Übergänge sind ja fließend: von Necken und Hänseln über Tyrannisieren bis hin zum brutalen Quälen. Hier kann man nicht früh genug anfangen, wobei nicht die Opfer, sondern die Täter aufgeklärt werden müssen. Man muss ihnen von klein auf beibringen, dass sie das nicht tun dürfen, auch wenn sie es gerne möchten.
Wie ist das Verhältnis zwischen Fiktion und Realität in <ich knall euch ab!
Im Vorwort schreibe ich: „Die Geschichte in diesem Buch ist ausgedacht. Nichts – und alles – daran ist wirklich passiert.“ Das heißt, dass ich die Geschichte erfunden habe, dass sie aber auf vielen verschiedenen Ereignissen basiert. In Pennsylvania gab es einen Fall, bei dem ein Junge ziemlich genau das durchgeführt hat, was in meinem Buch Gary und Brendan tun. Die Tragödie in Colorado, die heute nur noch „Columbine“ genannt wird, erwähne ich mehrfach. Hinzu kommt eine Vielzahl von Gewaltakten an Schulen, die ich beim Schreiben berücksichtigt habe.
In manchen Passagen empfindet der Leser mehr Sympathie für die Täter als für die Opfer.
Vor der Veröffentlichung dieses Buches sprachen die Medien von den jugendlichen Tätern meistens schlichtweg als Verrückte, die mit normalen Jugendlichen nicht zu vergleichen sind. Irgendwie stimmt das ja auch, aber ich will zeigen, dass sogar ein sogenannter normaler Jugendlicher zu einer solchen Tat fähig ist, wenn die Umstände entsprechend problematisch sind. Ich wollte mit diesem Buch das Leben der Täter erforschen, um sie besser zu verstehen und so einen Beitrag zur Minderung der Gewalt unter Jugendlichen leisten. Und selbstverständlich rechtfertige in mit keinem Satz die Täter. Ich will zeigen, dass die Täter Jugendliche sein können, die aus sehr schwierigen Verhältnissen kommen, gemobbt werden und so zum Äußersten fähig sind.
Die Welle ist nicht nur als Buch sehr erfolgreich, sondern auch als Film. Soll Ich knall euch ab! verfilmt werden?
Das glaube ich kaum. Die Produzenten befürchten, dass ein solcher Film zur Nachahmung animieren könnte.
Könnte das auch für das Buch gelten?
Natürlich habe ich mir darüber den Kopf zerbrochen. Das ist auch der Grund, warum am Ende die Täter sterben – einer fällt ins Koma. Zuvor haben sie die Kontrolle über ihre Geiseln verloren. Sie konnten ihren Plan nicht durchführen. Die Geschichte endet für die Täter tragisch.
Gegen Ende sagt Brendans und Garys Freundin Allison: „Die Einzigen, die an diesem Abend wirklich versucht haben, einen anderen zu töten, waren diese Jungen. Die wollten Brendan wirklich mit bloßen Händen umbringen.“ Wie sehr hat Sie die Schuldfrage beschäftigt?
Ich mag diese Fragestellung nicht. Ich ziehe es vor, sich der Lösung der Probleme zu widmen und nicht Schuldzuweisungen auszusprechen. Wir müssen versuchen, die Ursachen zu bekämpfen, so wie ich es vorhin erwähnt habe. Das Problem ist unter anderem deshalb heute so gravierend, weil sich die Jungen nicht mehr wie früher prügeln, sondern erschießen. Und die Waffen werden immer wirksamer, also schrecklicher.
Dustin, der Junge, der am Ende Brendan überrumpelt und dabei vielleicht ein Blutbad verhindert, hatte nie zuvor eine Schusswaffe in der Hand. Und auch bei dieser Aktion braucht er keine. Welches Verhältnis haben Sie zu Schusswaffen? Sind Sie selbst politisch aktiv?
Ein Teil des Erlöses aller verkauften Bücher kommt der aktivsten Organisation in den USA zugute, die sich für eine verstärkte Kontrolle des Vertriebes von Schusswaffen einsetzt. Ich halte auch Vorträge und werde mich weiterhin für die Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt einsetzen.
Nicola Bardolas Besprechung von Morton Rhues Ich knall euch ab! finden Sie hier.
17. March 2009Stichwörter:
Amoklauf, Eltern, Familien, Filme, Gewalt, Gewaltdarstellung, Ich knall euch ab!, Interview, Lehrer, Lies doch mal!, Mobbing, Nicola Bardola, Rhue, Schule, Strukturen, Welle1 Kommentar
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Ich knall euch ab! | Büchertipps schrieb am March 17, 2009:
[…] sein, ist eben nicht immer leicht und kann mitunter zu angestauten Aggressionen führen. Diese Aggression sucht sich dann eines schönen Tages ein Ventil und kann in besonders drastischen Fällen […]