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Alexas Lelle

von bardola

Lelle mit ihrem extrem strapaziösen Teenager-Alltag ist frech, witzig und böse und trägt auch gerne mal dick auf. Andererseits ist sie verletzlich, traurig und allein und findet es schlimm, 15 Jahre alt zu sein. Kuschelig ist das alles nicht: Wenn es Lelle zu viel wird, schlägt sie den Kopf gegen die Wand, raucht Kette, steckt sich nach einer furchtbaren Möhrenmalzeit im Klo den Finger in den Hals, fürchtet den anschließenden Anhauchtest der Mutter und würde oft am liebsten in Ohnmacht fallen, was ihr gelegentlich auch gelingt. Käme nur der TV-Star und streichelte ihr sanft den Rücken…

Gut, dass sich Lelle schließlich in den Nachbarsjungen Arthur verliebt, der keine Eltern hat, aber die geeignete Erscheinung ist, um Licht in Lelles Leben zu bringen. Das ist keine leichte Aufgabe, denn die hypochondrische, heimlich Sherry trinkende Mutter lässt ihre beiden Töchter Cotsch und Lelle nicht in Ruhe und nicht erwachsen werden und droht im Notfall auch mit Selbstmord. Das Interesse des spießigen, von Regeln besessene Vaters gilt vor allem der Schonung der Kolonialmöbel – aus dem gleichen Geiz heraus, der ihn in Jugendtagen dazu brachte, Kondome zur Wiederverwendung auszuwaschen. Als einziger Mann zwischen drei Frauen hat er das überdrehte Familienleben längst satt. Der Brief, den Cotsch ihm nach einem riesigen Krach geschrieben hat, liegt immer noch ungeöffnet in seiner Bibliothek und seinen Ehering verwahrt er im Zahnputzglas. „Nun lass doch mal die Kinder in Ruhe“, sagt er zu seiner Frau und verzieht sich in den Keller. Doch das ist keine Lösung.

Die frustrierte Mutter simuliert Herzinfarkte und Lelles jähzornige 17-jährige Schwester Cotsch versetzt die anderen Familienmitglieder in Angst und Schrecken. Cotsch ist die Beste, Begehrteste und Hübscheste in der Schule, dreht aber durch, wenn auch nur eine Kleinigkeit einmal nicht ihren Erwartungen entspricht. Sie nennt ihren Vater immer wieder ein Arschloch und muss zur Gesprächstherapie, nachdem sie ihre Geige an den Türrahmen geknallt hat. Lelle versucht, zwischen Vater, Mutter und Schwester zu vermitteln. Sie fühlt sich zwar unverstanden, mag aber ihre Familie. Und in schönen Augenblicken erkennt Lelle, dass nicht nur die Kinder, sondern auch die Erwachsenen hilflos sind: „Die benehmen sich genau wie Cotsch und ich. Der eine haut ab, ohne zu sagen, wohin, und die andere frisst ihre Oberlippe vor lauter Anspannung auf.“

Wie soll sich das Nesthäkchen in diesem Chaos verhalten? Die Figur der Lelle besticht schon auf den ersten Seiten von Ich habe einfach Glück (2002) durch ihren praktischen Verstand. Ihre Mama töpfert Vasen, verkauft sie auf dem Weihnachtsbasar der Grundschule gegenüber. Aus dem Ton, der dabei übrig bleibt, formt sich Lelle in weiser Voraussicht einen Penis, denn eine Entjungferung könnte Schmerzen bereiten. Lelle scheint es nur vernünftig, das vorher allein zu erledigen, damit sie sich später besser auf den Jungen konzentrieren kann, den sie ja, wenn es so weit ist, auch noch lieben soll. Der selbstgetöpferte Dildo wird sorgsam im Wäscheschrank versteckt.

Die Faszination, die von diesem Buch ausgeht, hat wenig mit dem Plot zu tun: Lelle sehnt sich nach erstem Sex, die nymphomanisch veranlagte Cotsch nach noch mehr Sex. Dann haut die große Schwester ab und Lelle sucht sie, mit Arthur, der zuvor schon die Mutter gerettet hatte. Cotsch hat sich inzwischen ein Bein gebrochen und zuletzt gehen auch Lelles Zärtlichkeitsträume – wenn auch nur halbwegs – in Erfüllung, denn Traumprinz Arthur, den Lelles Vater einen Dieb und Stricher geheißen hatte, stellt sich bei näherer Betrachtung als gehätschelter Miniaturspießer heraus. Es sind die meisterhaften Milieustudien Alexa Hennig von Langes, die begeistern: Von einer „rabenschwarzen Familiengeschichte“ oder vom „Supergau der Gefühle“, von einem „Katastrophenszenario“ wird angesichts dieses Romans in der Presse gesprochen. „Meine Familie ist verrückt“, denkt Lelle. Doch für Alexa Hennig von Lange ist es der „alltägliche Wahnsinn“. Sie hat ihre Aufmerksamkeit auf das Zusammenspiel von Menschen gerichtet, die behaupten, füreinander nur das Beste zu wollen. Dabei geht es darum, sich nicht abhängig zu machen, Mut zu haben, bei sich zu bleiben. Wie schwierig Erwachsenwerden wirklich ist, zeigt Hennig von Lange auf außergewöhnlich intensive Weise. Vermutlich, weil sie sich selbst noch gut an diese Zeit erinnert: „Die Zeit zwischen 15 und 21 Jahren war für mich eine emotional sehr bewegte Phase“, sagt die Autorin.

Ich war nie gut in der Schule. Ich habe immer nur da gesessen und gesagt: ‚Was soll das jetzt?’ Meine Eltern wussten, ich kann etwas und darauf haben sie sich verlassen. Mit 13 Jahren schrieb ich Kurzgeschichten. Die handelten davon, dass Kinder extrem unter Druck gesetzt werden, sich in sich zurückziehen, um sich zu schützen… Meine Mutter war rege an meinem Selbstfindungsprozess beteiligt.

Alexas Lelle muss ihr Selbst in Abgrenzung von ihren Eltern oder zumindest ohne deren Unterstützung finden:
Meine Eltern sehen unmöglich aus. Ich schäme mich für sie.

Mama nickt so doll mit dem Kopf, dass klar ist, dass sie Angst hat, ihr Schwarm, der Künstler, könnte merken, dass sie ihm überhaupt nicht zuhört. Mama hört nie zu. Mama ist mit ihren Gedanken immer ganz woanders. Ständig hat sie Schiss, dass ich abhaue, mir die Pulsadern aufschneide, oder sie von dem ganzen Stress, den Cotsch und ich verursachen, einen Herzinfarkt bekommt.
Jetzt kommt Mama zu mir rüber und pflanzt sich neben mich auf den kleinen Grundschulstuhl.
‚Hast du dir schon die Bilder angesehen?’
‚Nö!’
‚Guck dir doch mal die Bilder an!’
‚Gleich!’
Ich will mir jetzt nicht die Bilder angucken. Mama will immer, dass ich mir Bilder ansehe, und Papa, dass ich mir seine Bücher ansehe. Das nervt. Wenn ich jetzt aufstehe und mich vor die Bilder stelle, klebt Papa garantiert eine Sekunde später neben mir und spielt unseren Nachbarn erste Sahne Papa-Tochter-Idylle vor. Das kenne ich schon. Er legt seinen Arm um mich und fängt an, mir umständlich die Exponate zu erklären. Darauf kann ich verzichten. Ich bleibe lieber sitzen und lasse mich von Mama in den Arm nehmen. Das ist mir auch unangenehm, aber nicht so unangenehm, wie wenn Papa seinen Arm um mich legt.

Von Lange versteht es, die Abgründe eines Familienlebens auszuloten, die massiven Probleme, den Abschied vom Elternhaus und das Erwachsenwerden zu schildern. Die Eltern, Lehrer und Nachbarn schneiden dabei schlecht ab. Höhepunkte bilden Szenen, in denen die Leser erkennen, dass die Kinder ihre Eltern besser durchschauen als es umgekehrt der Fall ist. Komik und Hysterie eskalieren hin zum Drama mit versöhnlichem Ende und zeigen den Spürsinn der Autorin fürs Erzählen mit bewusst eingesetzten Spannungsbögen. Sie versteht es, grandios zu übertreiben und dabei eine dysfunktionale Kleinfamilie ins Visier zu nehmen. Dabei geht die Autorin auch hart zu Sache. „Immer wieder werde ich gefragt: ‚Wie fühlt man sich so als Spice Girl der Literaturszene?’ (…) Das ist für mich traurig, denn ob ein Text literarisch ist, spielt keine Rolle. Ich kann schreiben, was ich will, es wird so abgetan.“

Aber nein: Für dieses Buch erhielt Alexa Hennig von Lange den Deutschen Jugendliteraturpreis und sie hat seither viele weitere empfehlenswerte Lelle-Texte veröffentlicht.

21. April 2009

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1 Kommentar

  1. Rheinberg-Buch schrieb am April 28, 2009:

    Interessanter Beitrag!


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