Als ob man mit einer Wassermelone auf Ameisen zielte
von litprom
Etel Adnan
Vor 20 Jahren endete mit dem Abkommen von Taif der libanesische Bürgerkrieg. Die 1925 geborene libanesische Allroundkünstlerin Etel Adnan veröffentlichte mit Sitt Marie Rose einen der wichtigsten Romane über diese Epoche der libanesischen Geschichte. Seither hat Etel Adnan sich als bildende Künstlerin, Dichterin und Essayistin immer wieder mit der Frage beschäftigt, wie Kriegs- und Gewalterfahrungen die Individuen und die Beziehungen von Menschen prägen – zuletzt in dem Erzählband Im Herzen der Finsternis. Im Rahmen ihrer künstlerischen Arbeiten zu Krieg und Nachkriegszeiten setzte Etel Adnan sich auch intensiv mit dem deutschen Dramatiker Heiner Müller auseinander. Martina Sabra hat Etel Adnan nach ihrer Identität, ihrer Beziehung zur arabischen Welt und nach dem Umgang der Libanesen mit ihrer Vergangenheit gefragt.
Martina Sabra: Etel Adnan, Sie sind 1925 im Libanon geboren und mit drei Sprachen (Arabisch, Französisch, Griechisch) aufgewachsen. Heute leben Sie hauptsächlich in San Francisco und in Paris. Was bedeutet für Sie Identität?
Etel Adnan: Wir sind alle eine Synthese, ein Gewebe aus vielen Fäden, das unsere Persönlichkeit ausmacht. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass in jedem von uns mehrere Personen stecken.
In Ihrem jüngsten Erzählband Im Herzen der Finsternis ist das simultane Leben in mehreren Kulturen ein wichtiges Thema. Sie verbringen viel Zeit in Kalifornien, das Sie in dem Buch als Ihre Heimat bezeichnen. Aber Sie fühlen Sich offenbar auch im arabischen Nahen Osten tief verwurzelt. Gleichzeitig werden arabische Intellektuelle in Ihrem Buch als sehr zerrissen dargestellt, was deren Verhältnis zu den USA und zum Westen angeht. Wie erleben Sie Ihre Beziehung zur arabischen Kultur, zu den arabischen Gesellschaften?
Für mich ist Identität nicht naturgegeben. Identität kann auch auf einer bewussten Entscheidung beruhen. Natürlich bin ich auch Araberin, neben vielen anderen Dingen. Ich fühle mich der arabischen Welt tief verbunden, gerade wegen all der Konflikte und der Schwierigkeiten, die die arabische Welt durchlebt hat und immer noch durchlebt. Selbst wenn man sie vergessen wollte: Es geht einfach nicht. Denn man wird jeden Tag an diesen Teil der Welt erinnert. In diesem Sinne fühle ich mich loyal und irgendwie auch verantwortlich.
Sie haben in einem Sammelband insgesamt drei kurze Essays über den deutschen Dramatiker Heiner Müller veröffentlicht. Wie kam es zu Ihrer besonderen Beziehung zu Heiner Müller?
1984 schuf Robert Wilson eine Oper in vier verschiedenen Sprachen, mit dem Titel Civil WarS (dt. Bürgerkriege). Heiner Müller schrieb die deutschen und ich die französischen Texte. Während der Proben in Südfrankreich kam Heiner Müller gelegentlich vorbei. Für die Dauer einer Woche sahen wir uns täglich, verbrachten viel Zeit miteinander, redeten, diskutierten. Was uns verband, war die besondere Erfahrung mit Nachkriegszeiten. Mein Vater war ja ein Offizier des osmanischen Reiches gewesen, und ich selbst war ein Kind der Nachkriegszeit. Eine Nachkriegszeit, die eigentlich nicht aufhörte: Es war nicht mehr Krieg, aber noch nicht Frieden. Heiner Müller war jemand, der sich ungeheuer intensiv mit dieser Art Zwischenzeiten auseinandersetzte, und das interessierte mich. Nach seinem Tod (1995) habe ich gemeinsam mit der Internationalen Heiner-Müller-Gesellschaft einige Essays über ihn veröffentlicht.

Ihr erster Roman in deutscher Übersetzung, Sitt Marie Rose, erschien 1988 bei Suhrkamp und wurde 2004 neu aufgelegt. Die Hauptperson, Sitt Marie Rose, ist eine Christin, die Palästinensern hilft. Ort des Geschehens ist das Palästinenserlager Tell El Zaatar, in dem 1976 bei einem Massaker schätzungsweise 2000 Menschen getötet wurden und das im Lauf des Krieges dem Erdboden gleich gemacht wurde. Sie waren damals in Beirut. Wie haben Sie die Geschehnisse erlebt?
Tel El Zaatar war das Tor zu Beirut. Vom Balkon aus, am Horizont war es wie ein benachbartes Viertel, nebenan, man kannte es. Dies ist der härtest-mögliche Krieg. Eine kleine Stadt, ein kleines Lager, 15 Jahre Krieg auf diesem Flecken Erde, ich weiß nicht, woher die Menschen die Energie nahmen, das 15 Jahre mitzumachen. Es war ein Stadtviertel, ganz einfach, am Eingang zur Stadt, nicht irgendwo weit weg. Es wurde komplett abrasiert, es gibt heute nichts, was daran erinnert.
Aber ich erinnere mich noch sehr genau. Stellen sie sich vor, Sie sitzen in Ihrem Haus. Sie hören die Bomben, sie gehen hinaus auf den Balkon, sehen den Rauch am Horizont. Die Bomben sind so mächtig, die Menschen so ohnmächtig ausgeliefert. Es ist, als zielte man mit einer Wassermelone auf Ameisen. Mir war bewusst, dass jede dieser Bomben Menschen zerschmetterte. Ich fand es unerträglich. Natürlich wurde ganz Beirut ständig bombardiert, nicht nur Tel El Zaatar. Aber in Tel El Zaatar gab es keinen Feind mehr zu bekämpfen. Die bewaffneten Kräfte hatten das Lager längst verlassen.
Und es lebten nicht nur Palästinenser in dem Lager …
Auch viele arme Libanesen waren unter den Opfern der Bombardements. Die Bomben hatten die Wasserversorgung unterbrochen. Die Belagerung dauerte 59 Tage. Deshalb besteht mein Gedichtzyklus Arabische Apokalypse aus 59 Gedichten. Später, als alles vorbei war, erzählte man sich, dass es wegen der Bombardements für das ganze Viertel nur noch eine Wasserleitung gab. Wenn etwa 20 Frauen sich aufmachten, um Wasser zu holen, wussten sie, dass nur eine zurückkommen würde, oder vielleicht zwei. Aber sie taten es dennoch, denn hätten sie es nicht getan, wären drinnen noch mehr Menschen gestorben. Deshalb gab es so wenige Überlebende. Und dann, als die Verwundeten auf Lastwagen gepackt wurden, um sie in Krankenhäuser zu bringen, da kamen die Falangisten und töteten sie auf den Lastwagen. Es war ein perfektes Massaker, ich kann es nicht vergessen.
Wie beurteilen Sie den Umgang der Libanesen mit dem Bürgerkrieg?
Es gibt kein Umdenken bei den Leuten, die heute 60 Jahre und älter sind, denn sie haben teilgenommen und sie wollen nicht wahr haben, dass sie etwas falsch gemacht haben. Sie wissen, dass sie verloren haben, aber sie wollen nicht das Gefühl haben, dass sie Unrecht hatten. Aber die jungen Leute, die vielleicht um die 35 sind, Leute, die fünf oder zehn Jahre alt waren, als der Krieg begann – diese Leute wollen wissen, was passiert ist. Die neue Generation ist unschuldiger und man hat sie von ihrer Geschichte abgeschnitten. Manche Straßen sind verschwunden, Häuser, Cafés, die einfach nicht mehr da sind. Die jungen Leute stellen Fragen. Sie tun das von selbst, man muss sie gar nicht dazu ermuntern.
Im Sommer 2006 bombardierte Israel vier Wochen lang den Libanon. Heute ist der Nahostkonflikt immer noch ungelöst. Was muss in Ihren Augen passieren, damit die Gewalt im Nahen Osten aufhört?
Es geht nicht darum, für eine Seite Partei zu ergreifen. Es geht nicht darum zu sagen, die Juden haben gelitten, die Palästinenser haben gelitten, sondern es geht darum, im Interesse der ganzen Welt die Gewalt zu stoppen. Die UN-Resolutionen müssen endlich umgesetzt werden, so wie überall auch im Nahen Osten. Das heißt nicht, dass wir einander lieben müssen, oder dass wir den einen oder anderen mehr lieben. Israel ist kein Ghetto, es ist ein Land mit einer Atombombe, mit einer Armee, und es sollte wie alle anderen Länder beurteilt werden, nicht schlechter, nicht besser. Und die Palästinenser müssen verstehen, dass die Situation sich geändert hat, dass die Israelis bleiben werden. Die Welt muss sich darum kümmern, weil wir alle dafür bezahlen. Wir können nicht nach einem Vermittler von außen rufen, der unsere Probleme löst. Wenn wir uns nicht kümmern, wird die Apokalypse weitergehen.
Martina Sabra ist Journalistin und freie Gutachterin für arabische Literatur. Sie lebt und arbeitet in Köln.
Das Interview entstammt der Sommerausgabe 2009 der LiteraturNachrichten, die litprom in der ersten Juniwoche unter www.litprom.de veröffentlichen wird.
28. May 2009