Urbane Legenden
von konecnyDie alten Erzähler begannen ihre Märchen mit dem Satz „Es war einmal…“. Die heutigen Ammenmärchen beginnen mit: „Ein Freund hat mir erzählt, dass ein Freund von ihm…“ oder „Dem Freund eines Freundes von mir ist folgendes passiert…“. High-Tech-gerecht wird in diesen modernen friend-of-a-friend-tales das Lebkuchenhaus durch die Mikrowelle ersetzt, die Handlung vom Land in die Stadt verlegt, und schon ist eine neue urbane Legende geboren. Zum Beispiel die nordamerikanische Sage über eine alte Frau, die ihre vom Regen nasse Katze immer in der Bratröhre ihres Elektroherds bei milder Hitze trocknete. Der Herd hatte irgendwann ausgedient und die Frau bekam eine Mikrowelle. Als sie die Katze zum Trocknen in die Mikrowelle steckte, explodierte die Katze. Die Frau verklagte den Mikrowellenherdhersteller auf Schadensersatz. Seitdem werden Mikrowellen in den USA mit dem Warnhinweis versehen, dass sie zum Trocknen von Haustieren nicht geeignet seien.
Die ganz alten Barden waren von Burg zu Burg geritten, um die Burgfräuleins über ihre haarsträubenden Geschichten staunen zu lassen. Die heutigen Barden reiten nur den Stuhl an ihrem Kneipenstammtisch, doch ihre Fabulierlust trabt weiter hoch zu Ross. Das Restaurant „Zur Erdachse“ im mährischem Schamberg ist eine Fabrik der irrsinnigsten urbanen Sagen schlechthin. Nach etlichen Runden Garnitur – das heißt Bier und Schnaps zusammen serviert – erzählte uns dort mein Freund Pepino wieder mal, wie er den Hamster seiner Freundin aus dem 9. Stock eines Plattenbaus mit einem Fallschirm hatte runterspringen lassen.
„Ein schönes Beispiel für die kreativen Kräfte im Manne“, kommentierte unser Chef-Philosoph Alfons Pepinos Hamsterdressur mit der getragenen Stimme eines Propheten. „Damit sich die Zivilisation weiter entwickeln konnte, musste der Mann schon immer große Sachen wagen!“
„Den Weltkrieg, die Atombombe und die Klimakatastrophe meinst du, oder?“, fragte Milena.
„Das sind die notwendigen Übel auf dem Weg in die Zukunft!“, rief Alfons. „Jeder Fortschritt bringt Opfer mit sich! Was wären wir jetzt aber ohne Kolumbus? Ohne Galilei? Ohne die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten am Anfang des 20. Jahrhunderts? Wo wären wir ohne den ersten Mondbesteiger Neil Armstrong? Auch Armstrong selbst wusste über die Wichtigkeit der Tat eines einzelnen unerschrockenen Mannes Bescheid. Sagte er doch gleich nach seiner Mondlandung: ‚Ein kleiner Schritt für mich, ein großer Schritt für die Menschheit!’“
„Armstrong sagte noch einen zweiten Satz, ehe er zurück in die Rakete kletterte“, sagte Pepino. „‚Viel Spass, Mr. Gorsky!’, sagte er. Keiner wusste, was der Astronaut damit gemeint haben könnte. Erst im Alter gab Neil Armstrong einem Reporter eine Antwort darauf: ‚Einmal, als ich noch ein kleiner Junge war’, erzählte Armstrong, ‚spielte ich mit meinem Bruder Baseball im Garten. Ein Ball landete genau unter dem Schlafzimmerfenster unserer Nachbarn Mr. und Mrs. Gorsky. Als ich mich bückte, um den Ball aufzuheben, hörte ich, wie Mrs. Gorsky ihren Gatten anschrie: Oralsex? Du willst Oralsex? Da kannst du warten bis der kleine Armstrong auf den Mond fliegt!’“
„Ach, ihr Männer!“, sagte Milena.
„Ja, siehst du das denn nicht?“, sagte Alfons. „Die Großtat eines Mannes kann sogar die Gewohnheiten eines alten Ehepaars ändern.“

„Mir hat ein Freund erzählt“, sagte Pepino, „wie ihm mal ein Kumpel seine neue Wohnung im 10. Stock eines Plattenbauhauses zeigen wollte. Voll besoffen kamen sie dort kurz vor zwei Uhr in der Nacht an. Der Kumpel führte meinen Freund durch die Wohnung, bis sie schließlich im Wohnzimmer anlangten, wo von der Decke ein riesiger Gong hing. ‚Wozu hast du den Gong?’, fragte mein Freund seinen Kumpel. ‚Das ist kein Gong’, sagte der, ‚das ist eine sprechende Uhr!’ ‚Echt?’, fragte mein Freund. ‚Und wie funktioniert die?’ ‚Schau!’, sagte der Kumpel, holte einen großen Holzhammer aus der Ecke und schlug mit aller Kraft den Gong. Bumm! Und gleich kreischte jemand aus der Nachbarwohnung: ‚Ja, haste dir ins Hirn geschissen? Es ist zwei Uhr in der Nacht!’“
„Und das ist also die Großtat eines Mannes!“, sagte Milena. „Voll besoffen so viel Radau zu machen, dass man die Nachbarn weckt!“
„Warte noch kurz!“, sagte Pepino, „die Geschichte geht weiter! Die zwei machten eine Flasche Sliwowitz auf…“
„Das ist nur vernünftig so spät in der Nacht!“, sagte Alfons. „Das Bier ist ein zu bodenständiges Getränk! Wenn das Bier dein Gemüt zu Boden drückt, musst du mit Sliwowitz deine Gedanken beflügeln!“ Er kreischte Richtung Theke! „Lada, bring uns sechs kleine Klare!“
„Kleine?“, wunderte sich Pepa und rief: „Bring uns sechs Große! Wir dürfen keine Zeit verlieren!“
„Ach, ihr Männer!“, sagte Milena.

“Die zwei stärkten sich also mit Sliwowitz“, sagte Pepino. „Mein Freund musste aufs Klo. Dort stand hinter der Schüssel ein Paar Skier. Er schleppte die Bretter ins Wohnzimmer. ‚Mann!’, sagte er zu seinem Kumpel. ‚Ich hätte verdammt viel Lust, Ski zu fahren. Aber im Sommer geht’s nicht!’ ‚Du kannst doch auf unserer Treppe Ski fahren!’, sagte sein Kumpel. ‚Vom 10. Stock runter ist es eine hübsche Piste. Ich mach’s hin und wieder, wenn mir nach Skifahren ist. Da nimm den Helm mit!’ Mein Freund lieh sich noch Skischuhe aus, lief auf die Treppe, schlüpfte in die Skibindungen und husch – schon jagte er nach unten. Eine richtige Slalomabfahrt! In jeder Ecke musste er sich mit den Handflächen von der Wand abstoßen, um die Kurve richtig zu schneiden. Doch plötzlich tauchte auf der Treppe im 3. Stock ein Opa auf. Mein Freund konnte in dem engen Flur nicht bremsen und fuhr ihn zusammen. Erst unten im Erdgeschoß blieb mein Freund an der Wand hängen, weil er die Türöffnung verpasst hatte. Als er einigermaßen zu sich kam, lief er hinauf, aber vom Opa keine Spur. Mein Freund schaffte es noch irgendwie in den 10. Stock, zurück zu seinem Kumpel. Am nächsten Tag so gegen Mittag wachten sie auf. Mein Freund erzählte seinem Kumpel, dass er in der Nacht auf den Skiern einen Opa zusammengefahren hatte. ‚Direkt unter uns wohnt ein altes Ehepaar!’, sagte der Kumpel. ‚Wir sollten dort nachfragen.’ Die beiden laufen also in den 9. Stock. Auf macht ihnen eine alte Frau. ‚Könnten wir mit ihrem Mann sprechen, Oma?’ fragt der Kumpel. ‚Das geht nicht!’ sagt die Oma. ‚Ich musste ihn mit einem Krankenwagen in die Klinik bringen lassen.’ ‚Was?’, fragen die zwei. ‚War er so schwer verletzt?’ ‚Verletzt nicht!’, sagte die Oma. ‚Aber er hat die ganze Zeit behauptet, dass ihn in der Nacht auf der Treppe ein Skifahrer mit Helm zusammen gefahren hatte. Man hat ihn in die Psychiatrie gebracht!’“
„Ein gutes Gleichnis!“, sagte Alfons. „Die Fortsetzung des Skifahrens mit anderen Mitteln ohne Rücksicht auf Verluste. Ein Mann ist der Motor jeden Fortschritts! Weil ein Mann nun mal immer schneller sein, immer höher kommen will!“
„Und immer tiefer fällt!“, sagte Milena. „Was soll aber der arme Opa dazu sagen?“
„Wie ich schon sagte, jeder Fortschritt bringt Opfer mit sich!“, sagte Alfons.
„Ich frag mich“, sagte Milena, „was sich wohl Gott gedacht hat, als er euch, Männer, schuf?“
„Na, was kann sich Gott schon für große Gedanken gemacht haben?“, sagte die Kellnerin Lada, die gerade mit den sechs großen Klaren anrückte. „Am achten Tag der Schöpfung erschuf Gott ja Drogen, um den Mann zu beschäftigen und ihn der Frau vom Hals zu halten!“
„Damit sie keusch bleibe und Gott ergeben, Amen!“, sagte Pepino
Und darauf stießen wir an, um mit Sliwowitz einen schön klaren Punkt hinter die Geschichte mit urbanen Legenden zu machen. Nach diesem Schnaps war jede am Tisch erzählte Legende sowieso so irrsinnig, dass man sie getrost vergessen konnte.
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Armstrong, Hamster, Jaromir Konecny, Legenden, Mondlandung, Skifahren1 Kommentar
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Bücherlei Weblog » Blog Archive » #327 schrieb am April 13, 2010:
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