Etwas Vernunft im Wahnsinn
von konecnyAlfons hob sein Pilsner Urquell hoch. „Meine Herren!“, sagte er. „Ab heute kann ich trinken so viel ich will! Ich habe das Autofahren aufgegeben!“
„Warum denn?“, fragte Milena.
„Wegen der Ampeln!“, sagte Alfons. „Ich fahre an eine Kreuzung heran, die Ampel steht auf Grün, und plötzlich kurbelt ein Zwangsgedanke mein Hirn durch: Springt gleich die Ampel auf Gelb? Und dann auf Rot? Soll ich beschleunigen oder verlangsamen? Verdammt! In der letzten Zeit hatte ich nur Ampeln im Kopf! Schon in der Früh weckte mich die Farbmusik von Grün und Gelb und Rot, ich zitterte vor dem Augenblick, an dem ich ins Auto steigen musste!“
„Ihr Männer habt alle einen Knall!“, sagte Milena.
„Auch der klügste Philosoph kann dem Wahnsinn anheim fallen“, sagte Alfons. „Sogar Nietzsche ist wahnsinnig geworden! Der Wahnsinn ist die Würze des Daseins! Schon Nietzsche meinte aber, dass es Vernunft im Wahnsinn gibt!“
„Typisch, wie du die Sachen beschönigst!“, sagte Milena. „Nietzsche hat gesagt, dass es immer AUCH ETWAS Vernunft gibt im Wahnsinn!“ Ich habe genauso wie du zwei Semester Philosophie studiert. Ich kann auch g’scheit daher reden!“
„Was ist mit meinem Bier, verdammt?“, rief ich zur Wirtin. Mein Sinn für Philosophie ist nun mal von der Nahrung abhängig, die ich zu mir nehme.
Auch Pepino hatte sich bis jetzt aus dem Gespräch herausgehalten. Stattdessen schlug er seine Streichholzschachtel im Rhythmus des Kneipenventilators gegen die Tischplatte und brummte dazu hiphopartige Sprechgesänge, die aber semantisch nicht allzu viel hergaben. Nur „,blöde Arschlöcher!“ und Ähnliches. Plötzlich hob Pepino aber den Kopf von der Tischplatte. „Die Grenze zwischen Wahnsinn und Vernunft ist fließend!“, sagte er.
„Bei dir ist die Grenze zwischen Wahnsinn und Vernunft schon davon geflossen!“, sagte Milena. „Wer den Hamster seiner Freundin aus dem 9. Stock mit ’nem Fallschirm runter springen lässt, kann nicht ganz dicht sein! Von deinem Schifahren im Treppenhaus gar nicht zu reden! Und wer außer dir kann voll bekifft ein Polizeiauto am Seil abschleppen und dabei denken, dass er von der Polizei verfolgt wird?“
„Hinter meinen Taten verbirgt sich eiserne Logik“, sagte Pepino. „Der Wahnsinn ist nur eine Frage der Perspektive! In meinen Augen begehe ich vernünftige Taten, meiner Umgebung aber kommen sie irrsinnig vor.“
„Das stimmt!“, sagte Alfons. „Viele Verrückte halten die vermeintlich Normalen für wahnsinnig. Guck dir die Mitra eines Bischofs an! Wenn du mit einer solch infantilen Mütze in der Arbeit auftauchen würdest, würde man dich sofort in die Klapse stecken. Vom Papstgewand gar nicht zu reden! Rote Kalbslederschuhe! Und der rote Umhang des Papstes und die roten Talare der Kardinäle! Ist es nicht verrückt, wenn sich achtzigjährige Männer wie Goldfasanmännchen kleiden, bei denen ihre knallrote Prachtfeder nur dazu dient, Weibchen zu verführen? Katholische Würdenträger laufen rum, als ob sie rund um die Uhr auf Balz wären!“
„Naturwissenschaftler haben herausgefunden, dass die Farbe rot beim Menschen die Weibchen sexy macht!“, sagte ich. „Nicht die Männchen! Deswegen kleiden sich Frauen rot, wenn sie Männer verführen wollen. Auch der Name „Rotlichtbezirk“ kommt daher.“
„Na, siehst du!“, rief Alfons! „Also schaut’s im Vatikan aus wie in einem Bordell.“
„Komischerweise wirkt Rot nur auf Männer erotisch!“, sagte ich. „Nicht auf Frauen. Wen wollen die katholischen Würdenträger mit ihren roten Umhängen also betören, wenn in der Kirche die Homosexualität verboten ist?“
„Verbotene Früchte schmecken am besten!“, sagte Alfons. „Es lebe der Wahnsinn!“

„Dass der Wahnsinn eine Frage der Perspektive ist, erfahre ich allzu oft!“, sagte Pepino. „Grade gestern musste ich deswegen in der Arbeit blau machen, und muss die gestrige Nachmittagsschicht am Wochenende nachholen. Dabei habe ich nur mein ferngesteuertes Modelflugzeug etwas fliegen lassen. Hinten am Wald bei der psychiatrischen Klinik. Hier zwischen den Häusern geht das nicht. Ich stehe also da mit der Fernsteuerung. Das Flugzeug schmeißt Loopings ohne Ende, doch plötzlich bsss! Das blöde Flugzeug fliegt davon und stürzt über dem Klinikgarten ab. Die Verrückten dort harken und graben mit Gartengerät rum. Ich klettere also über den Zaun und suche im Klinikgarten im Gebüsch nach meinem Flugzeug. Plötzlich läutet es in der Klinik zum Mittagessen. Ein paar Pfleger laufen aus dem Gebäude und lassen die Verrückten in zwei Reihen aufstellen. ‚Essen!’, rufen sie. Von meinem Flugzeug immer noch keine Spur. Da kommt ein Pfleger zu mir und packt mich am Arm. ‚Mittagessen!“, sagt er. „Hopp, hopp! In die Reihe!’
‚Nein, nein!’, sag ich. ‚Ich bin nicht verrückt! Ich such hier nur nach meinem Flugzeug!“
„Ja, ja!“, sagt der Pfleger. „Aber auch der tapfere Flieger muss hamm, hamm machen!“ Erst nach zwei Stunden haben die mich rausgelassen. Das ist halt die Macht der Perspektive. Die Pfleger hielten mich für einen Verrückten, obwohl ich mich ganz vernünftig verhalten habe.“
„Das nennst du vernünftig?“, rief Milena. „Ein Vierzigjähriger spielt neben einer psychiatrischen Klinik mit einem ferngesteuerten Flugzeug?“
Mit offenen Mündern starrten wir Milena an, die einzige Frau am Tisch. „Na, klar ist das vernünftig!“, rief Alfons.
„Ja!“, riefen Pepino und ich. „Was sollte dran unvernünftig sein?“
Zum Glück marschierten gerade frische Pilsner Urquell in ihren feschen weißen Papstkäppis auf. Den Marsch hat ihnen die Wirtin geblasen! „Der Mann ist der Wahnsinn in der Welt, und die Frau das Etwas Vernunft darin!“, sagte Milena frei nach Nietzsche. Und darauf stießen wir auch an.
Stichwörter:
Alfons, Altpapiergeschichten, Jaromir Konecny, Mähren, Pepino, Psychatrie5 Kommentare
RSS-Feed für Kommentare dieses Beitrags.
Martini schrieb am April 6, 2010:
;-)))
aber was, bitte, sind “hiphopartige Sprechgesänge”?
Vernünftiges Bier gibts hier leider nicht, wo ich lebe. Hier gibts nur diese belgische Plörre mit himbeer-, Erdbeer- und sonstigem Fruchtgeschmack…
kann also grad nicht mit anstoßen.
Jaromir Konecny schrieb am April 6, 2010:
“Hiphop-artige Sprechgesänge” sind tatsächlich etwas redundant Martini, alle Sprechgesänge sind wohl “hiphop-artig” und vice versa, “Rap” ist ja Sprechgesang. Da hast Du recht. Da Pepino aber bei seinem Schimpfen/Murmeln sehr rhythmisch vorging, und aggressiv (wie mit harten Beats begleitet), und mit etlichen Wiederholungsschleifen darin, zum Beispiel des Wortes “Arschlöcher”, erlaubte ich mir diese Umschreibung. Sein Schimpfsprechgesang ähnelte halt einem Rap viel mehr als einem Sprechgesang zum Beispiel der Mönche.
Liebe Grüße
Jaromir
Bücherlei Weblog » Blog Archive » #327 schrieb am April 13, 2010:
[…] Etwas Vernunft im Wahnsinn Italienisch für Machos Elvis lebt Ich möchte mit dir Sex haben Die süße Tüte des Vergessens Tschechensport Ich sammle Joghurtdeckel Urbane Legenden Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben Der Mensch und die Wunder der Technik Die schönen Seiten der Globalisierung Omas Han am Tag der Arbeit Männer auf der Kirmes Eine Frau mit Buch Mein Irrglaube an den Janoschik Der freie Wille der Kneipenphilosophen Wer ist hier der Schriftsteller, verdammt? (YT) Karin, das Beutetier und das Wesen des Kapitalismus Bücher für die Blöden Der Schatz im Altvatergebirge Auf Schnäppchenjagd Tiroler Marterln. […]
Die Durchtriebene schrieb am May 26, 2010:
Hola Jaromir!
Es war schon längst mal wieder fällig, dieses wichtige und immer aktuelle Thema in eine Geschichte zu packen. Ich bin begeistert:o)…immer noch, obwohl ich sie schon von Dir vorgetragen bekam…die Moral gefällt mir auch sehr gut, auch wenn ich mich dadurch als Frau etwas begrenzt und eingeschränkt fühlen muss (aber immerhin wurde der Satz ja mit einem “etwas” etwas abgeschwächt;o)), aber das mag vielleicht auch in meiner Natur liegen…
Wenn man den “Wahnsinn” mal auf die Schnelle mit der “Leidenschaft” gleichsetzen mag (was gar nicht so weit hergeholt ist, finde ich, da sich ja auch das intensive Ausleben von Gefühlslagen nicht immer in starr vorgegebene Konventionen pressen lässt…), dann hat auch Khalil Gibran schon weise wie eh und je treffend beschrieben:
“Die Vernunft ist, herrscht sie allein, eine hemmende Kraft; und die Leidenschaft ist unbeaufsichtigt, eine Flamme, die an sich selbst verbrennt.”
Da liefern Philosophie und Poesie in trauter Eintracht mal wieder die perfekte Erklärung dafür, dass Mann und Frau irgendwie doch bestens dazu geeignet wären, sich zu ergänzen:o)…außer man ist so zwanghaft zügellos wie ich, dann ergänzt man sich gleich selber:o)hehehe
Sehr wohltuend, dass Du den wahnsinnigen Nietzsche in Deiner Geschichte wieder aufleben lässt, welcher auch mal gesagt hat: “Keiner ist so verrückt, dass er nicht noch einen Verrückteren findet, der ihn versteht.” Und außerdem unterstreicht Deine Geschichte auch schön, meine Einstellung, die Dostojewskij vertritt, wenn er schreibt: “Dadurch, dass man einen anderen in ein Irrenhaus sperrt, beweist man noch nicht seinen eigenen Verstand.” Danke für so viel tiefsinnigen ehrlichen Humor…mal wieder:o)
Liebe, buntgelaunte Grüße von der Durchtriebenen
Jaromir Konecny schrieb am May 27, 2010:
Liebe Durchtriebene,
vielen Dank für Deinen lebensphilosophischen Beitrag. Hab ihn mit Wonne gelesen. Klar hab ich ein bissl gehofft, dass in der Geschichte am Ende nur Milena, also die Frau, unverkrampft und ganz taoistisch da steht, und die Männer sich selbst vernichten.
Das Gibran-Zitat passt wunderbar. Die Revolutionen z. B. in den Naturwissenschaften werden meist durch ganz verrückte Ideen und einen unorthodoxen Zugang zur Sache gestartet. Manch ein mathematisches Genie galt im normalen Leben als unzurechnungsfähig. Zum Beispiel der wunderbare Gödel, der den Vernünftigen mit seinem Unvollständigkeitstheorem bewies, dass sie sich selbst nie werden verstehen können.
Ja, ich glaube auch, dass sich Mann und Frau wunderbar ergänzen und jede Gleichschalterei uns etwas unmenschlicher macht. Speziell bei Dir hofe ich aber, dass Du Dich dann doch nicht ganz selbst ergänzt – ein kleines Stück sollte schon für mich übrig bleiben, “oda”? Oh, das war jetzt ein nahezu exhibitionistisches Bekenntnis, aber das passt wiederum ganz gut zu Dostojewskij, bei dem ich gleich anlange.
Auch das Zitat von Nietzsche ist grandios! Wäre’s mir selbst eingefallen, hätte ich’s in der Geschichte verwendet.
Und woher weißt Du, dass Dostojewskij mein Lieblingsschriftsteller ist, he? Eine maßlose Durchtriebenheit! Wenn ich nur an General Iwolgin aus “Der Idiot” denke, kriege ich Lachkrämpfe! Dostojewskij hat mal gesagt, jeder Schriftsteller sollte ein Exhibitionist sein. Ist es für Dich so in Ordnung, liebe Durchtriebene?
Liebe Grüße
Jaromir