Broken Hero
von bardola„Race Evarts versteckte seine neuesten Schuhe immer im alten Pumpenhaus. Er kam auf dem Heimweg vom Lauftraining daran vorbei; es lag ganz hinten an der Weide und war vom Haus der Smithons aus nicht zu sehen.“ So beginnt der Roman. Race versteckt viele Schuhe im Pumpenhaus. Vor allem teure, nagelneue Laufschuhe. Diebesbeute. Race klaut auch Klamotten. Er nimmt die Bestellungen seiner Freunde auf und erfüllt seinen Kumpels und Freundinnen ihre Wünsche. Frauenfüße sind ihm wichtig, nicht nur das adäquat schmückende Schuhwerk dazu, auch beim Liebesspiel. Manchmal bleibt es dem Leser überlassen, sich auszumalen, was sich Race bei seltsamen Ereignissen so denkt. Manchmal kommen später erklärende Puzzleteile hinzu.
Zum Auftakt der rasanten Story, die der amerikanische Autor Keith Abbott in seinem Kurzroman Racer (zu empfehlen ab 12 Jahren) erzählt, ist Race Evarts auf dem Höhepunkt seines Teenager-Daseins. Es gelingt ihm alles: Sportliche Höchstleistung auf der Aschenbahn kombiniert er locker mit Alkohol, Zigaretten, Mädchen und seinen dreisten Raubzügen. Logisch, dass das nicht ewig so weitergehen kann. Im Hintergrund lauert schon das Unglück. Ein Geschenk an den Lauftrainer Singleterry löst – mit Verzögerung – die unvermeidliche Krise aus.
Die Einsamkeit des jugendlichen Mittel- und Langstreckenläufers Race Evarts ist eine besondere und sie wird durch den Bruch mit Singleterry verstärkt: Der Junge wächst nämlich bei Pflegeeltern auf. Die Smithon-Familie ist das zehnte Zuhause, in dem der „Broken Heroe“ wieder nicht heimisch werden wird. Hin- und hergerissen zwischen Pflicht und Vergnügen verliert Race allmählich die Orientierung. Seine High-School-Leichtathletik-Mannschaft erwartet von ihm sportlichen Einsatz und Erfolge, doch Race nutzt sein Talent vorwiegend dafür, aus Kaufhäusern und Boutiquen Schuhe, Pullover oder Hemden zu entwenden. Niemals hat jemand vom Verkaufspersonal ihn schnappen können. Mit der Ware unter der Jacke verschwindet er uneinholbar im Strom der Passanten. Allein die Schilderungen dieser außergewöhnlichen Diebstähle sind die Lektüre dieses Buches wert: Spannend wie ein Krimi liest sich der Roman, der zugleich gespickt ist mit Szenen voll von jugendlichem Irrsinn und mit Zeichen der Sehnsucht nach großen Gefühlen.
Race geht es nicht ums Geld, sondern um die richtigen – zugegebenermaßen teuren – Accessoires. Es geht um Freiheit und Protest, um Imponiergehabe und Qualität. Und ja, es geht auch um Zeit – ob auf der Rennbahn oder auf der Mannschaftsmatratze, wo Race die hübsche Sigrid in 22 Minuten – absolute Bestzeit – vernascht. Und Races Clique bewundert und beneidet ihren coolen Läufer. Er ist der Schnellste, obwohl er sein Training nicht ernst genug nimmt.
Races Glückssträhne endet, als die Diebestouren bekannt werden. Race fliegt von der High School, trennt sich von der Clique und jobbt als Schuhverkäufer in einem Geschäft. Dort ist die blonde Mittdreißigerin Mrs. Lowry eine gute, aber schwierige Kundin und Race nimmt sich mit Erfolg ihrer an. Mrs. Lowry wohnt allein mit ihrer 14-jährigen Tochter Patricia in einer für die beiden zu großen Villa. Sie trinkt etwas zu viel und zweifelt etwas zu oft am Sinn des Lebens. Race erzählt ihr von der einzigen Begegnung mit seiner Mutter, an die er sich erinnern kann. Damals hatte Race vom Kinderbett aus nur ihre Beine, ihre Füße und ihre Schuhe gesehen.
Mrs. Lowry nimmt Race wie einen Sohn auf, um ihm in einem anderen Sportverein eine weitere Chance zu geben. Letztlich übt sie jedoch einen schlechten Einfluss auf den Jungen aus. Race schwänzt immer öfter das Lauftraining, stattdessen trinkt und raucht er viel – und wird Mrs. Lowrys Geliebter. Die Szenen, in denen seine Abstürze geschildert werden, sind unvergesslich, mal dramatisch, mal komisch:
Er lachte. „Dann fang ich mit dem Training an.“ Er lachte und paffte seine Zigarette. „Wenn ich an Training denke, dann hör ich immer tsch-tsch-tsch, verstehst du, tsch-tsch? Tsch-tsch-tsch. Tsch-tsch-tsch-tsch!“
Race rollte vom Bett auf den Boden und verschüttete dabei sein Glas mit dem schon etwas wässrigen Whiskey auf dem Teppich. Er stellte sich auf Hände und Füße. „Hier ist Race, der die Meile unter fünf Minuten läuft, und er macht tsch-tsch-tsch! Ich bin im Training. Im Training!“
Er lachte und krabbelte auf allen vieren über den Teppich. Dabei paffte er an seiner Zigarette und stieß dichte Rauchwolken aus.
Danach verwandelt sich Race auf dem Teppich in einen schnuppernden Jagdhund und kehrt schließlich mit Tsch-tsch-Lauten als qualmende Dampflok zurück zu seiner Gönnerin ins Bett.
Keith Abbott variiert die Reifeprüfung-Situation. Die Szenen zwischen Mutter und Tochter wechseln rasch. Action: Feuer, Sex, Polizei. Das scheinbare Glück bei den Lowrys endet abrupt, als Mrs. Lowry Race vorwirft, ihre Tochter verführt zu haben. Doch die verdächtigen (Sperma-)Spuren auf Pats Hosen stammen nicht von Race. Erneut stellt sich die Einsamkeit des Läufers auch äußerlich ein. Race muss wieder ein Zuhause finden.
Races dramatische Story ist der Leidenschaft des Protagonisten entsprechend in hohem Tempo erzählt. Einerseits zieht sich jugendlicher Erlebnishunger durch die Geschichte, andererseits klingt stets der Ausruf „Du schaffst es!“ mit, dieser ständig wiederkehrende Vorsatz der Kids in der amerikanischen Provinz, es durch Fleiß, Ehrgeiz und Disziplin dereinst besser zu haben als ihre Eltern. Dieses hintergründige Mantra ist auch eines der wenigen Details, an denen der Leser merkt, dass die Geschichte 1961 in ländlicher Umgebung außerhalb von Tacoma im Bundesstaat Washington spielt. Wie auch die Szene, in der Race nach den Kühen seiner Zieheltern sehen muss; in solchen Momenten erinnert der Protagonist an den einsamen Cowboy.
Im Übrigen ist Race ein aufmüpfiger Kleinganove, ein arroganter Sozialfall mit zweifelhaftem sportlichen Ehrgeiz. Ein tragischer Held. Race hat keine Chance. Seine Zukunftsaussichten sind so düster wie das lange schwarze Band der Asphaltstraße, auf der die Polizisten am Ende auf ihn warten. Es bleibt den Lesern selbst überlassen, das Finale zu deuten. Denn Race rennt am Ende nicht, um Verkäufern aus Sportgeschäften zu entkommen, um Rekorde zu brechen und Medaillen zu gewinnen oder um in eine Elite-Universität aufgenommen zu werden, sondern er rennt um sein Leben. Er rennt in die Freiheit, hinauf zu den Bergen, hinter denen die rettende Grenze liegt. Aber auf dem Gipfel hält er inne und dreht um.
Ich lese das Finale dieses Miniatur-Meisterwerks amerikanischer Prosa als Zeichen für einen vielversprechenden Neuanfang:
Race lief von der Straße weg und auf die großen violetten Berge zu, durch die der Pass nach Oregon lief. Er hörte den Motor des Wagens anspringen und dann das Heulen der Sirene. Er lief immer weiter, brachte sich in den richtigen Rhythmus, horchte auf das Geräusch seines Atems (…). Race lief leicht und locker dahin. Und er kam vor dem Wagen an die Stelle, an der der Wagen ihm den Weg hätte abschneiden können. Er bekam jetzt die zweite Luft. Er fühlte sich wohl. Er wusste, dass er außer Reichweite des Wagens wäre, wenn der Wagen am Ende der Straße ankäme.
Er spürte, dass er jetzt plötzlich alles das hatte, was ihm gefehlt hatte, was er wiederhaben wollte. Er hatte das Gefühl, dass seine Lunge wieder frei war, sauber, und er spürte die Kraft in seinen Beinen. Als er einen kleinen Abhang hinauflief, schaute er zurück und sah, dass der Polizeiwagen an der Abflussschlucht hielt, die quer über den Asphalt lief und die Straße zerstört hatte. Die beiden Polizisten stiegen aus dem Wagen.
Race kam oben auf dem Abhang an, und er wusste, dass er noch eine ganze Menge Reserven hatte, wenn auch nicht mehr so viel, wie er sich gewünscht hätte. Wenn er wollte, konnte er leicht noch ein paar Meilen laufen. Er wurde langsamer, drehte oben auf dem Abhang einen Kreis und kehrte um. Er legte alles, was er hatte, in seinen Lauf.
Die Meisterschaft des Autors besteht unter anderem darin, seinen schwierigen Protagonisten, diesen Jack-Kerouac-Helden im Jogging-Anzug, der zuletzt seinem Schicksal vielleicht nicht mehr davonrennen will, diesen geborenen Verlierer mit der arroganten Würde als umwerfend sympathischen Kerl darzustellen.
Keith Abbott, geboren 1945 im äußersten Nordwesten der USA in Tacoma, Washington, ging nach der High School nach Kalifornien, wo er schnell Teil der lebendigen Literaturszene San Franciscos wurde; seine Artikel und Kritiken erschienen u.a. im Rolling Stone, dem San Francisco Chronicle und der Los Angeles Times. In den USA veröffentlichte er Romane, Theaterstücke, Gedichte und Short Stories. Racer hat er in den 1980er-Jahren verfasst. Popkultur-Guru Greil Marcus würdigte Keith Abbott, der mit seiner Biografie über Richard Brautigan einen internationalen Erfolg feierte, mit den Worten: „Niemand schreibt besser über High-School-Sex als Abbott.“ Nach 28 Jahren in Kalifornien zog Abbott mit seiner Frau nach Longmont, Colorado, wo er heute noch lebt. An der literarischen Fakultät der Naropa University in Boulder ist er seit 1989 als Dozent tätig und unterrichtet u.a. im Bereich Asiatische Kalligraphie.
Keith Abbott: Racer. Aus dem Amerikanischen von Günter Ohnemus. Maro Verlag bzw. dtv/Reihe Hanser 2006