Sex auf Distanz
von konecny„Ich war ein verlogenes Kind, das kam vom Lesen“, schrieb Isaak Babel. Klar ist übersprudelnde Phantasie auch eine schwere Last für den Fabulierer, bis er sich für seine Lügnereien ein hübsches Alibi zurechtgelegt hat – man schreibt einen Roman! Ab da ist man nicht mehr Lügner, man ist der Herr Schriftsteller. Das gelingt nicht jedem. Die meisten Bafler werden keine Schriftsteller, sie müssen sich weiter direkt von Mensch zu Mensch in ihren Weltrausch reden und nicht in einem Roman, sie brauchen den Zauber der direkten Rede. Wenn du einen Bafler in der Kneipe triffst, erzählt er dir gleich unbändig Geschichten, in denen er alles verdreht und maßlos übertreibt. Der Bafler will deine Burg aus anerzogener Distanz stürmen, dich ganz für seine Geschichte einnehmen! Der Bafler sucht „Körpernähe“, möchte dich zum Schwitzen bringen. Ein Lügner will dich betrügen, um für sich irgendwelche Vorteile zu ergattern, ein Bafler will dich staunen lassen. Und aus dem Staunen kommt die Freude! Ein Bafler beglückt dich also. Zum Beispiel mein Freund Pepino in Mähren, der mal erzählte, wie er den Hamster seiner Freundin aus dem 9. Stock eines Plattenbaus mit einem kleinen Fallschirm habe runter springen lassen.

Wenn ein Bafler seine poetisch humorigen Welten in meinem Kopf baut, höre ich ihm atemlos zu, viel mehr als einem „richtigen“ Schriftsteller, der auf einem Reißbrett stilsichere Sätze zu bilden vermag, um die eigenen Dämonen in Schach halten. Thomas Mann kann in seinem Zauberberg seitenlange Schmuckstücke über das Aufhängen von Vorhängen zusammen klopfen, bis sich Literaturkritiker aus diesen kalten Worten ein Iglu bauen, in das sie sich für immer verkriechen – mir fehlt in den blutleeren ausgefeilten Sätzen einfach der Mensch! Von mir aus war Thomas Mann auch ein großer Schriftsteller oder besser gesagt, ein großer Stilist, wie Alfred Döblin über ihn mal spottete, aber kein Fall für mich. Thomas Mann war’s wichtiger, sein wahres Menschsein zu verbergen, als ein saftig menschelndes Buch zu schreiben – ein Mann der Distanz. Hans Castorp im Zauberberg ist für mich ein verklemmter Held von einem verklemmten Autor in die Welt gesetzt. Klar spielt sich auch hier die absurd menschliche Komödie ab. Würde sich Thomas Mann darüber freuen, dass jetzt seine mühsam versteckten homoerotischen Neigungen von den Literaturpsychologen unter die psychoanalytische Lupe genommen werden?

Was für eine herrlich menschliche Gestalt dagegen Dostojewskij mit seinem General Iwolgin erschuf, dem notorischen Lügner in Der Idiot! Dostojewskij schickte seine eigenen Dämonen furchtlos in die Werkstatt seiner Phantasie, damit sie uns in seinen Romanen zeigen: So bin ich, und so bist du! Dostojewskij ging’s nicht darum, sich vor uns zu verstecken, ihm war seine Geschichte viel wichtiger als die eigene Eitelkeit. „Ein großer Schriftsteller muss Exhibitionist sein“, sagte Dostojewskij mal.
Irgendwie passt die kalte Literaturkirche des Thomas Mann, die für uns die Germanistik aufgebaut hat, zu unserer jetzigen entmenschlichten Medienwelt: Kunst auf Distanz als Programm! Romane voll mit kalter Information und poesieloser Handlung. Und nicht nur Bücher! Zig Radioprogramme in der Stadt, und alle spielen Charts – auf dem Fließband produzierte Musik. Fegefeuer der Eitelkeiten! Wichtigtuerei! Verstellung! Warum spielt kein Radio Jan Koch oder Tiger Willi, verdammt noch mal? Hunderte Fernsehprogramme, in denen sich Zuschauer an hirnrissigen Ersatzhandlungen ihr Leben abgewöhnen sollen. Angst vor der Nähe! Körperfeindlichkeit direkt aus unseren christlichen Herzen gespeist! Was hat das Leben auf Distanz mit der Kirche zu tun? Sehr viel! Die Suche nach Gott war schon immer eine Ersatzhandlung für’s Leben! Und der Sex, den die Kirche seit ihren Anfängen so verbissen bekämpft, ist nun mal die sozialste aller Handlungen, kommen wir doch beim Sex verdammt nahe zusammen! Was ist das für eine Gesellschaft, in der schmutzige Begriffe wie „unbefleckte Empfängnis“ als spirituelle Wahrheiten gelten? Als ob die normale Empfängnis, aus der jeder Mensch hervorgeht, etwas Dreckiges wäre. Sexbücher werden hier nur dann zu Bestsellern, wenn sie schön katholisch den Misthaufen auf der Blume suchen: Statt Sex Feuchtgebiete! Ein wahrer Dichter sucht die Blume dort, wo die Nichtdichter den Misthaufen sehen! Wir sollen in einer übersexualisierten Welt leben? Wo ist aber diese Übersexualisierung, bitte schön? Die schmierige Nacktweiberwerbung auf den Plakaten? Die Musikclips, in denen Modells in Tangas um Pseudo-Gangsta-Rapper rumhüpfen? Die Pornovideos im Internet, in denen Frauen wetteifern, welche von ihnen die Speiseröhre breiter und länger machen kann? Das ist keine Sexualität, das ist menschenfeindlicher Blödsinn! Über unsere ganz normale Sexualität reden wir miteinander immer noch nicht. So von Mensch zu Mensch. Wenn Kinder und Jugendliche gelernt hätten, frei über die Sexualität zu reden, könnte dann derselbe Pfarrer oder Lehrer 20 Jahre lang immer wieder Kinder sexuell missbrauchen? Als ich eine Literaturkritikerin fragte, ob sie mit ihrem siebzehnjährigen Sohn über Sexualität redet, sagte sie, dass das unpassend sei. Was ist dann passend? Die zerfetzten Leiber in der Glotze? Wir werden im wahrsten Sinne des Wortes „virtuell“, tauschen nur herz- und körperfremde Informationen aus. Klar bleibt dann auch der ganz normale Sex auf der Strecke. Dafür gibt’s ja Statistiken. Noch nie wurde in Deutschland so wenig gevögelt wie heutzutage – das ist nun mal unsere schöne neue „übersexualisierte“ Welt! Wenn du die Zeitungen liest oder in die Glotze schaust, bekommst du bald das Gefühl, dass sich Leute heutzutage mehr gegenseitig umbringen, als dass sie zusammen schlafen. Was machen die Leute aber mit ihren Hormonen, wenn sie’s nicht miteinander treiben? Sex auf Distanz?
Ich gebe zu, das Miteinanderreden wird auch für mich immer schwieriger. In München in der U-Bahn traue ich mich nicht mehr, nur aus Lust auf ein Gespräch, jemanden anzuquatschen. Schon überhaupt nicht eine Frau. Wenn du in der Stadt so mir nichts dir nichts einen Fremden ansprichst, schwingt die dir unterstellte Absicht wie eine Keule über dem sich anbahnenden Gespräch: Will er mir was verkaufen? Mich anbaggern? Man hat ja seine Erfahrungen…
Zweimal pro Woche laufe ich in die Buchhandlung, mein Herz pocht vor Freude: Heute hole ich mir ein blutvolles Werk eines Dichters, der das Leben besingt, ein Buch, das nicht den Zustand der amerikanischen Gesellschaft widerspiegelt, keinen großen Mauerroman, nein, ein saftiges Buch über unser buntes und manchmal schmerzliches Miteinander, ein Werk, das vor Leben strotzt, mit vielen Menschen darin, eine verdichtete Schöntrauerparade, das Niedrige und das Erhabene an uns in einem Satz zusammengekocht, das Komische und das Tragische eng beieinander, so wie das Leben nun mal ist. Nach zwei Stunden Rumwühlen auf den Büchertischen laufe ich mit einem Krimi nach Hause, den ich nach zwei Seiten lustlos in die Papierentsorgungskiste haue. Hmmm… Sollte ich mich vielleicht doch besser mit Dir verabreden? Zu einem ausufernden Gespräch beim Bier! Wir werden lachen und heulen und dann wieder lachen, wenn die Erinnerung ihre schöntraurigen Salti schlägt. Aber zu Hause ist es heute so gemütlich! Ich nehme die Gitarre in die Hand und dichte ein Lied: Wie es mal früher war! Als Du und ich die Tage und Nächte mit Quatschen zum Galoppieren brachten. Diese Erinnerung ist fast so gut wie Sex mit Dir. Unser Sex auf Distanz!
9. August 2010Stichwörter:
Altpapiergeschichten, Jaromir Konecny, Krimi, Literatur, Sex, Thomas Mann, Zauberberg5 Kommentare
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YeRainbow schrieb am August 10, 2010:
Bis “sagte Dostojewski einmal” grinste ich ungeniert schamlos vor mich hin.
O-he, was kommt jetzt, dachte ich noch. Nun der Langweiler-Teil.
Weit gefehlt.
wie recht du doch hast.
Wie in einem bösen Fluch hat diese Leibesfeindlichkeit (und damit Lustfeindlichkeit) bis in den letzten Winkel der Erde verbreitet.
nur “Feuchtgebiete” versteh ich bissl anders. Das ist doch nur die Geschichte eines einsamen Kindes. Mit den Stilmitteln unserer Zeit.
Man muß das Buch nicht mögen. Ich mags jedenfalls nicht.
Aber leider ist es ziemlich aktuell, und so schmutzig wie die verklemmten Phantastereien in den Köpfen so ziemlich eines jeden…
By the way – sag mal, kennst du das original aller “Mädels reißen den Schlund weit auf”-pornos?
Ich hab den zufällig mal gesehen, Deep Throat (und die Bücher von Linda Lovelace gelesen – ich jedenfalls habe die Hämatome an ihren Beinen wirklich GESEHEN).
Das Filmchen ist sogar witzig, unabsichtlich sicherlich.
Ganz im Gegenteil, was heute so produziert wird, Hämatome hin oder her.
Was wollte ich sagen?
Meine Leseprobe hast du also noch nicht gelesen. Sonst hättest du geschrieben, neben den langweiligen Krimis wenigstens ein kleiner Lichtblick… tja…
https://yerainbow.wordpress.com/den-hasen-schlachten/
Aber was den Sex betrifft, stimme ich Dir niht zu. Nicht die menge machts, Mensch. Sondern die Qualität.
Frag mal Deine Frau, hm?
Jaromir Konecny schrieb am August 10, 2010:
Ahoj Martini,
hmm… ich hab immer noch keinen richtigen Namen für Dich (oder soll ich “von Dir” sagen?)! Oh, diese verdammte Distanz, Dich namenlos mit einem Ersatzname ansprechen zu müssen! Aber was sind schon Worte und Namen dagegen, dass wir uns eigentlich ganz gut verstehen, oder?
Ja, ich finde die Leibes(Lust-)feindlichkeit und somit die “Verklärung” in unserer schön “aufgeklärten” christlichen Welt manchmal grotesk und komisch… und manchmal erschreckend. “Ein böser Fluch”, wie Du schreibst, zumal Viele aufgrund der verschwitzten Äusserlichkeiten in den Medien meinen, wir hätten zu viel Aufklärung und nicht zu wenig. Mir geht’s aber nicht um mehr Sex, ich gebe Dir recht, dass hier die Qualität wichtiger ist als die Qualität, bin ja Taoist :-), andererseits wage ich zu bezweifeln, dass die Leute besser vögeln, wenn sie weniger vögeln. Die Übung macht auch hier wohl den Meister. Ich möchte einfach, dass wir über diese unsere ganz normale Sexualität mehr miteinander reden und nicht nur das konsumieren, was uns in den Medien vorgesetzt wird, damit sie ihren schmuddligen Mantel ablegen kann. Was in die Medien kommt, hat mit “normaler Sexualität” nichts zu tun. Und hier setzt auch meine Kritik an “Feuchtgebiete” an. Ich hab das Buch eigentlich genossen, endlich etwas Authentisches, dachte ich mir, bis ich zu Stellen kam, deren Authentizität ich stark anzweifeln musste, bis es mir als Pose einer Marketingstrategie vorkam, eben schön katholisch den Misthaufen auf der Blume zu suchen, damit halt wie üblich ein Teil der Mediengesellschaft klatscht und ein Teil sich empört…
Vielen Dank, dass Du mich auf Deinen sehr schönen Text hingewiesen hast – hmm, jetzt bist Du für mich ein hasenschlachtender biertrinkender Mann – ich hab schon lange Deinen Blog nicht besucht. Jetzt – und sofort – trinke ich aber hier in Mähren (im Urlaub) auf Dein Wohl ein paar Pilsner Urquell und lasse mir von den Baflern in unserer Dorfkneipe ein paar hübsche Geschichten erzählen. Bitte, verzeih die Fehler, hab in den zwei Wochen hier schon das Deutsch vergessen. Vielleicht macht’s aber nicht Mähren, sondern das leichte Bier, das beflügelt einen so, dass man sich über alle Sprachen hinweg gesetzt fühlt.
Liebe Grüße
Jaromir
YeRainbow schrieb am August 20, 2010:
Danke, lieber jaromir
ich kann auch nicht widersprechen. Stimmt im grunde alles.
Nur mit dem Bier… ich wünschte mir, Du würdest mit einem kasten voller guten mährischen Bieres mal einen Kurzurlaub bei uns machen… (hier ist eine wunderschöne Gegend, jeder unserer Gäste hat uns das bestätigt).
Hier gibts nämlich kein vernünftiges Bier, nur so Plörre. Mit Erdbeergeschmack oder mit anderen Zusätzen – ich frag Dich, ist das ein gutes Bier? nee.
Daher, wann immer ich mal nach Deutschland fahre, kaufe ich einige Flaschen VERNÜNFTIGES Bier, wenns auch keines aus dem Ursprungsland ist…
Und Schwarzbrot, sowas kennt man hier nämlich nicht.
Echt, wenn meine Großmutter mir damals gesagt hätte, “das gute Brot wird Dir mal wirklich fehlen, wirst schon sehen…,” ich hätte sie sicherlich ausgelacht.
Oder vielleicht hat sie das auch wirklich zu mir gesagt.
Und nun fehlt es mir wirklich.
Ja, manches holt einen wirklich wieder ein…
Grüßle
M.
Jaromir Konecny schrieb am September 1, 2010:
Liebe Martini,
jetzt weiss ich überhaupt nicht, ob ich’s wusste, dass Du im Ausland lebst oder nicht. Ich versuche schon nicht so asozial zu leben, wie mich dazu das Mannesdasein verdonnert, und mir Sachen zu merken, die mir Freunde erzählen, aber bei den etwa 150 Auftritten im Jahr und den Tausenden Menschen, die ich treffe, ist es echt schwierig.
Wenn Du mich mal einlädst, tauche ich bei Euch sicher mal mit nem Kasten Pilsner Urquell auf. Zuerst muss ich aber nach einem Monat Urlaub etwas arbeiten, damit die Kids was zum Essen bekommen.
Ich hab mich komischerweise auf das dunkle Brot in Bayern so gewöhnt, dass es mir dann in meinem Herkunftsland Tschechien im Urlaub abgeht. Das wäre dann der Beweis für die Überlegenheit des Schwarzbrots über das Weißbrot, na, ja, zu gutem Käse gehört ein frisches Baguette, das geht nicht anders.
Liebe Grüße
Jaromir
YeRainbow schrieb am September 8, 2010:
ja, Jaromir, wenn Du mal an Dein Telefon gehen würdest, wäre manches schon geklärt 😉
aber Schwarzbrot hat wirklich was!
eine Einladung bei uns ist aber keine Einladung zum Sex – allenfalls zum Drüberreden… sorry, Mann… 😉
Das hat michts mit Verklemmung zu tun – glaube ich zumindest einfach mal – sondern mit dem Recht zur freien Entscheidung, und bin halt nun mal noch nicht lange verheiratet… 😉
ein ganzer Kasten wäre COOL, der reicht bei uns dann auch ne Weile (die Qualität machts ja, nicht die Menge…)
Grüßle
M.