Aleksandr Ivanovič Kuprin – Teil 2
von wietekZu Teil 1 – Aleksandr Ivanovič Kuprin
Die Zeit bis zum Ausbruch der Ersten Weltkrieges war für Kuprin nerven- und kräftezehrend: Trennung von seiner Frau, Heirat der zweiten Frau, ein aufreibendes Boheme-Leben, Reisen von Finnland bis auf die Krim. Literarisch war es jedoch eine fruchtbare Zeit. Von den vielen, in dieser Zeit entstandenen Werken sind in deutscher Sprache erschienen:
Die Kränkung (1906), eine Erzählung voller schwarzem Humor, in der sich die „Zunft“ der Diebe dagegen wehrt, für die Pogrome gegen die Juden verantwortlich zu sein, wofür die Polizei sie – der Einfachheit halber – verantwortlich macht und prügelt.
Die mechanische Rechtspflege (1907) ist fast eine Persiflage auf das Rechtssystem.
In Gambrinus (1907) ist ein kleiner jüdischer Geiger der Held, der alle Widerstände und Anfeindungen im wahrsten Sinn des Wortes überlebt und sich am Schluss als der moralisch Stärkere und Standhaftere erweist.
Smaragd (1907) ist ein hervorragendes Rennpferd – die Erzählung ist dem Leinwandmesser von Lev Tolstoj gewidmet –, das aufgrund der Machenschaften bei Pferderennen nicht nur um seinen Ruhm betrogen, sondern am Ende auch noch vergiftet wird.
Mit dem Roman Jama (auch die Gruft 1909 bis 1915) – eine Sittengeschichte – erregte Kuprin erneut großes Aufsehen. Sehr freizügig und offen schildert Kuprin das Leben in einem Bordell in einer südukrainischen Stadt, wobei er die Bewohner und Besucher sehr genau porträtiert (was überhaupt eine seiner Stärken ist); nicht die „Damen“ sind die zu Verurteilenden, sondern die nach außen hin ehrbaren Besucher und die sozialen Missstände, die die Frauen in diese Notsituation gebracht haben. Der Roman machte so viel Furore, dass noch Jahre danach Studenten auf die Straße gingen, um gegen diese sozialen Bedingungen aufzubegehren.
In Die Hochzeit (1908) benimmt sich wieder einmal ein zaristischer Offizier auf einer jüdischen Hochzeit, auf der er herzlich willkommen geheißen wurde, vollständig besoffen unsäglich daneben – allerdings bereut er am nächsten Tag wenigstens und bittet um Verzeihung.
Das Granatarmband (1910). Diese Erzählung zählt sicher zu den schönsten, tiefsinnigsten und aufwühlendsten Kuprins und beruht auf einer wahren Begebenheit. Sie handelt von der reinen, wahren, selbstlosen Liebe eines jungen Mannes, der lieber in den Tod geht, als seine Angebetete in Schwierigkeiten zu bringen. Erst nach seinem Tod wird der Frau klar, wie groß und ehrlich die Liebe des Mannes war – des Mannes, den sie nie gesehen hatte und der ihr nur wenige Male geschrieben hatte. Während sie „seine“ Musik – »L. van Beethoven Sonate D-Dur op. 2, Nr. 2., Largo Appassionato.« – hört, begreift sie, was wahre Liebe ist.
In der Erzählung Der schwarze Blitz (1912) zeigt sich Kuprins ganze Perfektion bei der Schilderung von Milieus, menschlichen Typen und der Beschreibung der Natur und den Naturgewalten. Sie ist eine Perle der Literatur. Zwei kurze Auszüge:
Die hiesigen Kleinbürger sind ein raues, frommes und misstrauisches Völkchen. Was sie machen und wovon sie leben, ist unergründlich. Im Sommer werkelt der eine oder andere unter ihnen noch am Fluss herum und treibt das zu Flößen zusammengebundene Holz stromabwärts; doch ihr winterliches Dasein bleibt geheimnisvoll. Sie erheben sich spät, nach Sonnenaufgang, und starren den ganzen Tag aus dem Fenster auf die Straße, wobei ihre platt gedrückten Nasen und rissigen Lippen als weiße Flecken auf der Scheibe zu sehen sind. Zu Mittag essen sie, wie Rechtgläubige, um zwölf Uhr, und nach dem Essen schlafen sie. Schon um sieben Uhr abends wird das Tor mit einem schweren Eisenriegel verschlossen, und jeder Hausherr lässt den alten, bösen, struppigen, grauschnäuzigen und vom Bellen heiseren Köter eigenhändig von der Kette, und bis zum Morgen schnarchen sie in warmen, schmutzigen Federbetten inmitten eines Berges aus Kissen beim friedlichen Schein der bunten Ikonenlämpchen. Sie schreien entsetzlich im Schlaf, wenn ein schrecklicher Albtraum sie quält, und wenn sie erwachen, kratzen sie sich ausgiebig, schmatzen und sprechen ein extra zu diesem Zwecke vorgesehenes Gebet gegen den Hausgeist.
Der erste Blitz zuckte, es begann zu donnern, und mit dumpfem Poltern stürzte der Blitz herab; ihm folgte ein zweiter, ein dritter.
Es war eines jener schrecklichen Gewitter, die sich manchmal über großen Tiefebenen entladen. Der Himmel flammte nicht auf von den Blitzen, sondern schien gleichsam ununterbrochen zu leuchten in ihrem zuckenden grellweißen, hell-und dunkelblauen Widerschein. Und der Donner verstummte keinen Augenblick. Es schien, als finde dort oben irgendein teuflisches Spiel mit himmelhohen Kegeln statt. Mit dumpfem Getose jagten dort unglaublich große Kugeln entlang, immer näher, immer lauter, und plötzlich – trrrachta-ta-trach – fielen auf einmal die Riesenkegel um.
Und da sah ich einen schwarzen Blitz. Ich sah, wie im Osten der Himmel, ohne zu verlöschen, von den Blitzen loderte, sich pausenlos bald dehnte, bald zusammenzog, und plötzlich sah ich auf diesem blauen, von Feuern zuckenden Himmel mit ungewöhnlicher Deutlichkeit einen nur kurz währenden, blendend schwarzen Blitz. Und gleichzeitig mit ihm riss ein fürchterlicher Donnerschlag Himmel und Erde entzwei und warf mich zu Boden, auf die Bülten. Als ich wieder zu mir kam, hörte ich hinter mir Jakobs zitternde, schwache Stimme: ›Herr, was ist das, lieber Gott… Wir sterben,
o Himmel … Ein Blitz … ein schwarzer … lieber Gott, lieber Gott!‹
Zitiert nach „Alexander Kuprin, Meistererzählungen, übersetzt von Eveline Passet, Manesse Verlag 1989.
Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird Kuprin als Reserveoffizier eingezogen, kurz danach aber aus gesundheitlichen Gründen entlassen und richtet in Gačina (in der Nähe von St. Petersburg) auf seinem Anwesen ein Lazarett ein. Bei Ausbruch der Russischen Revolution bezieht er zum ersten Mal politisch klar Stellung: Er tritt in die zu den rechten Sozialrevolutionären zählende »Partei der Volkssozialisten« ein und redigiert deren Zeitung »Freies Russland«; mit den Bolschewiki kann er sich nicht recht befreunden, denn sie sind ihm zu stark ideologisiert. 1918 arbeitet er in Gorkijs Verlag »Weltliteratur« mit – Gorkij wetterte damals heftig gegen die Willkür und Selbstherrlichkeit der bolschewistischen Revolutionäre. Im Oktober 1919 wird Gačina von den Truppen der Weißen Armee unter dem General Judenič eingenommen. Als kurz darauf die Rote Armee (Bolschewiki) Gačina zurückerobert, flieht Kuprin mit seiner Familie nach Finnland und von dort Mitte 1920 weiter nach Paris.
Im Exil in Paris ging es ihm wie vielen russischen, emigrierten Schriftstellern: Er war von seinen Wurzeln abgeschnitten – eine für Russen besonders tragische Situation. Hinzukam, dass die Emigranten in Paris ein kunterbunt „zusammengewürfelter“ Haufen war. Hier lebten Zarentreue, bürgerliche Demokraten, Adelige, Sozialdemokraten, gemäßigte Sozialisten, Angehörige der Weißen Armee, eingeschworene Gegner der Revolution und Anhänger der Revolution, die nur vor den Exzessen geflohen waren, Spieler, Hasardeure – kurzum, das Einzige, was sie verband, war, dass sie geflohen, emigriert waren. Entsprechend war es ein zerstrittener, intrigierender Haufen. (Siehe Essays »Russische Schriftsteller in der Emigration« und »Nina Nikolajewna Berberowa«). Dies war für den langsam immer kränker werdenden Kuprin kein Nährboden für ein Schaffen brillanter Werke. Er beschäftigte sich viel mit der Herausgabe seiner bisherigen Werke und schöpfte aus dem Fundus seiner Vergangenheit. Schon 1924 (vier Jahre nach seiner Emigration) schrieb er an seine erste Frau, die ihn zur Rückkehr bewegen wollte: „Meine Liebe, ich bin todmüde und stehe im 54. Lebensjahr. Der Kokon meiner Fantasie ist aufgebraucht, und geblieben sind davon fünf, sechs Seidenfäden. […] Ja, sterben wäre dort süßer und einfacher.“
Es sollte noch dreizehn Jahre dauern, bis Kuprin todkrank in seine Heimat zurückkam, weil er in russischer Erde begraben sein wollte. Viele gaben ihm bei seiner Ankunft am Weißrussischen Bahnhof in Moskau einen rührenden Empfang, aber es war nicht mehr sein Russland – es war das Stalinsche Terrorregime, dem schon viele, auch seiner Kollegen, zum Opfer gefallen waren. Auch wenn das Regime seine Rückkehr feierte und propagandistisch ausschlachtete, wäre er nicht schon todgeweiht gewesen – er hätte die folgenden „Säuberungen“ Stalins gewiss nicht überlebt.
Er starb am 25. August 1938 und wurde auf dem berühmten Wolkow-Friedhof in Leningrad beigesetzt, dort wo auch seine von ihm bewunderten Klassikerkollegen Saltykov-Ščedrin, Turgenev, Gončarov und Leskov ruhten.
Sein Lebensweg ist beispielhaft für viele seiner Generation.
Mit ihm ist endgültig eine Epoche zu Ende gegangen.
Zu Teil 1 – Aleksandr Ivanovič Kuprin
Literatur Kuprin
Alexander Iwanowitsch Kuprin: Smaragd – Drei Erzählungen, Nachwort Erhard Hexelschneider, Insel Verlag Leipzig 1972. Enthaltene Erzählungen: Smaragd, ›Gambrinus‹, Olesja.
A. Kuprin: Olessja – und andere Novellen, Hans Bondy Verlagsbuchhandlung, Berlin W. 1911
Enthaltene Erzählungen: Olessja, Gambrinus, Die Hochzeit
Alexander Kuprin: Meistererzählungen, übersetzt von Eveline Passet, Nachwort von Ilma Rakusa, Manesse Verlag Zürich 1989. Enthaltene Erzählungen: Der Moloch, Das Nachtlager, Die Jüdin, Die Kränkung, Die mechanische Rechtspflege, Das Granatarmband, Der schwarze Blitz, Der Stern Salomos
A. Kuprin: Das Granatarmband – und anderes, Georg Müller München 1911. Enthaltene Erzählungen: Das Granatarmband, Moloch, Stabskapitän Rybnikow
A. Kuprin: JAMA – Die Lastergrube, Sittenroman, Vorwort von Dr. Savielly G. Tartakower, Internationaler Verlag „Renaissance“ 1923
Alexander Kuprin: Die Drehorgel und der weiße Pudel, Sanssouci Verlag Zürich 1979
Düwel, Wolf/ Grasshoff, Helmut [Hrsg]: Geschichte der russischen Literatur von den Anfängen bis 1917 (in zwei Bänden), Aufbau-Verlag 1986
Luther, Arthur: Geschichte der Russischen Literatur, Bibliographisches Institut Leipzig 1924
Lauer, Reinhard: Geschichte der russischen Literatur – von 1700 bis zur Gegenwart, C.H. Beck Verlag 2000