Über die Zukunft des Buches
von ZVABVom 9. bis 12. Juni 2010 fand am Rochester Institute of Technology ein Symposium mit dem Titel The Future of Reading (Die Zukunft des Lesens) statt. Dass die dort geäußerten Expertenmeinungen auch zwei Jahre später noch von höchstem Interesse sind, beweist ein Blick auf ein Büchlein mit dem Titel What is Reading for? (Wozu lesen?). Es enthält den Abschlussvortrag des renommierten Typografie-Spezialisten Robert Bringhurst (Autor des Referenzwerks The Elements of Typographic Style) und ist bisher leider nur in englischer Sprache, in einer Auflage von 500 Ausgaben, erschienen.
Was bedeutet Lesen?
Darin befreit der Autor den Begriff des Lesens von seiner sprichwörtlichen Bedeutung und definiert ihn neu und viel breiter. Lesen bedeutet, dem, was sich unmittelbar vor einem befindet, Aufmerksamkeit zu schenken und es für sich selbst in einen Sinnzusammenhang zu bringen. Laut dieser Definition lesen wir alle, täglich, und schon immer. Ein Vogel „liest“, wenn er durch die Luft fliegt und die Umgebung wahrnimmt, ebenso wie ein Fisch, der sich im Wasser fortbewegt oder ein Regenwurm, der sich durch die Erde gräbt. Bei Bringhurst ist das Lesen also nicht an ein Buch im materiellen Sinne gebunden. Wer wahrnimmt, der liest.
Diese Art des Lesens ist älter als die ältesten Schriftzeichen und älter als die menschliche Sprache selbst. Und laut Robert Bringhurst so natürlich, dass wir, sollte sie zugrunde gehen, selbst zugrunde gingen.
Was macht nun aber das Buch in seiner materiellen Form aus? Hier lässt der Autor den Liebhaber, den Kenner und Experten sprechen: Typografie, so Bringhurst, ist eine Kunst wie jede andere – wer nicht genug Kenntnis hat, um zu verstehen, was er vor sich sieht, der empfindet nichts bei der Betrachtung. In anderen Worten: nur derjenige, der die Geschichte der Buchkunst kennt und weiß, wie ein Buch zu der Gestalt kommt, in der wir es in den Händen halten, kann es in all seiner Bedeutung wahrnehmen.
Das Buch der Zukunft
Womit Bringhurst bei seiner Hypothese für die Zukunft angelangt wäre. Denn nur wenn wir uns der Vergangenheit des Buches in all seinen Facetten annehmen, kann es für die Zukunft bedeutsam werden. Insofern geht seiner Meinung nach keine grundsätzliche Gefahr vom E-Book aus. Solange wir auch in digitaler Form die Tradition des Buches würdigen, beispielsweise indem wir auf Aspekte wie eine hohe Auflösung des Bildes, eine gute Lesequalität, eine schöne Typografie, kurz auf die Qualität des Textes an sich Wert legen, werden wir das Buch nicht verlieren.
Sollte das Buch in seiner digitalen Form allerdings zu einer Art praktischem Gebrauchsgegenstand werden, so bedeutet dies den Verlust des Lesens überhaupt. Es bediene dann eine fatale Wunschvorstellung, die Bringhurst wie folgt beschreibt: „das Verlangen, eine Maschine zu erschaffen, welche für uns das Buch schreibt, lektoriert, druckt und liest, so dass wir rauf zum Fernsehgucken gehen können.“
4. May 2012