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Doppelte Identifikationsbasis: Michael Bonds Bär Paddington
London: Stimmengewirr, Bahnhofsgeräusche. Das Ehepaar Brown will seine Tochter Judy abholen. Da entdeckt Mr. Brown mitten im Bahnhofsdurcheinander einen kleinen, verwaisten Bären mit Hut. „Bitte kümmern Sie sich um diesen Bären”, steht auf dem Schild, das er um den Hals trägt. (Weiterlesen …)
Mark Haddons Supergute Tage
Christopher Boone ist ein 15-jähriger Schüler, der am Asperger-Syndrom leidet, einer abgeschwächten Form des Autismus. Christopher lebt bei seinem allein erziehenden Vater, der ihm erzählt hat, die Mutter sei vor zwei Jahren gestorben. Der Junge ist hypersensibel, hochintelligent und ein Mathe-As. Doch er versteht wenig von den komplizierten menschlichen Gefühlen. Seine Umwelt ist ihm fremder als die Welt der Primzahlen. Ironie, Metaphern und Witze bleiben ihm meist ebenso fremd wie die Mimik der Menschen oder ihr Wunsch nach Berührung, nach Zärtlichkeit. Christopher sieht die Welt mit anderen Augen und das Buch hält sich konsequent an seine Perspektive, an die Sichtweise eines streng logisch denkenden Menschen. Das klingt dann zum Beispiel so:
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Uri Orlev und die Bleisoldaten

Manche der wichtigsten Bücher erscheinen nur durch Zufall in deutscher Sprache oder dank engagierter Fürsprecher. Mirjam Pressler übersetzte 1994 für Elefanten Press Uri Orlevs kurze Autobiografie Das Sandspiel, ein schmales Bändchen, das auf Hebräisch nie erschienen war. Pressler war von dieser knappen Schilderung eines Kinderschicksals im Zweiten Weltkrieg, das Orlev auf Anregung des deutschen Verlages geschrieben hatte, sehr bewegt.
Im Mittelpunkt steht das Kinderspiel zweier Brüder und die Frage: Wie viele Kinder wirst du haben? Der „Prophet″ nimmt eine Handvoll Sand, wirft ihn in die Luft und fängt ihn mit dem Handrücken auf. Natürlich bleiben zu viele Körner übrig und der Vorgang wird wiederholt. Die Sandkörner, die dabei neben die Hand fallen, stehen für jene Kinder, die auf verschiedene Art und Weise verloren gegangen sind. „Ich ging mit meinem Sohn zum Sandkasten und zeigte ihm das Spiel. Und ich erklärte ihm, dass uns die Deutschen ‚in die Luft geworfen’ hätten. Und jedes Mal starben viele Menschen. Aber wir, mein Bruder und ich, fielen immer auf eine sichere Stelle”, erinnert sich Orlev. (Weiterlesen …)
Antje Babendererde in La Push – ohne Werwölfe!
Antje Babendererde schrieb mehrere Romane für Erwachsene, die bei den nordamerikanischen Indianern spielten. Dieses Thema – Indianer – wurde immer wieder mit Kindern- und Jugendlichen in Verbindung gebracht und die Autorin demzufolge zu Schullesungen eingeladen. „Aber welch 13- oder 14-Jähriger interessiert sich für die Sorgen und Nöte von 40-jährigen Protagonisten? Also wurde ich wiederholt gebeten: ‚Schreib doch mal etwas für Jugendliche!’”, erinnert sich Babendererde. Sie wand sich, dachte, sie könne das nicht, und war der Meinung, sie müsste ihren Schreibstil ändern. Zudem sorgte sie sich, sie könnte die Probleme, die ihr wichtig sind, in einem Jugendbuch nicht so zum Tragen bringen. „Durch Zufall las man im Arena Verlag meinen Erstling Der Pfahlschnitzer und war sehr angetan: ‚Frau Babendererde, schreiben Sie uns doch mal ein Jugendbuch!’, schlug die Cheflektorin Frau Röhrig vor.” Ein Jahr später wurde die Sache konkret: Um Wale sollte es gehen; und so schrieb Antje Babendererde Der Gesang der Orcas. Das Buch wurde ein Überraschungserfolg.
Mein größtes Problem war meine Traurigkeit. Das zweitgrößte war ich selbst: Sofie Tanner, fünfzehn Jahre alt, rothaarig und sommersprossig, von den meisten meiner Klasse für merkwürdig und eigenbrötlerisch gehalten.
Friedrich Anis suchende Jugendliche
Der Autor literarischer Kriminalromane Friedrich Ani hat sich im Bereich des Jugendromans mit dem Debüt Durch die Nacht, unbeirrt, mit dem modernen Klassiker Wie Licht schmeckt und mit dem seiner Zeit immer noch vorauseilenden Das unsichtbare Herz einen großen Namen als Chronist einsamer Protagonisten mit ungewöhnlich tief gehenden Gefühlen gemacht. Wie Licht schmeckt wurde fürs Kino verfilmt (Foto unten: Ani und die beiden jungen Schauspieler) und leistet, was nur ganz selten gelingt: Der Film erzählt eine ruhige Geschichte, die fesselnder als ein Thriller ist. In der Belletristik für Erwachsene gelang Ani im Jahr 2000 mit German Angst der Durchbruch. Wegen der Thematik (Ausländerhass), wegen der 14-jährigen Protagonistin Lucy und wegen der für das Hörbuch bearbeiteten Fassung sollte German Angst auch von Jugendlichen entdeckt werden: „Das Buch sticht durch seinen eindrucksvollen Realismus hervor und zeichnet als bestes Exempel des Genres ein beklemmendes Bild der Verbrechenswelt in der Bundesrepublik von heute“, schrieb die Jury anlässlich der Verleihung des Radio-Bremen-Krimipreises. In Wuppertal wurde German Angst als Theaterstück uraufgeführt und löste bei Lehrern und Schülern heftige Diskussionen aus. TV-Tatortkommissar Udo Wachtveitl liest eine besonders für Jugendliche geeignete Fassung des Bestsellers.
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Wittkamps Findlinge

Frantz Wittkamp
Frantz Wittkamp dichtet für Groß und Klein. Als Einstieg in sein Werk bietet sich das Hörbuch Du bist da und ich bin hier an, eine Sammlung von Sprachspielen in Versform, gelesen vom kürzlich verstorbenen Schauspieler Manfred Steffen und den Kindern Emma (4), Johnny (8) und Vincent (11). Der Einsatz der Kinderstim- men zeugt von sorgfältigen Vorüberlegungen: Welche und wie viele Verse sollen von den Kindern gelesen werden? Welche spricht der Profi Manfred Steffen? Auf diese Fragen hat Regisseurin Angelika Schaack eine in jeder Hinsicht glückliche Antwort gefunden. Hier ist ein Stimmenquartett zu hören, das die Inhalte in bestmöglicher Abfolge wunderbar präsentiert und so ein besonderes Gesamtklangbild erzeugt.
Das alles aber ist nur möglich, weil Franz Wittkamp mit seinen „Findlingen“ kleine Weisheiten und erstaunliche Beobachtungen aufs Papier gezaubert hat, die mit ihrer Ideenvielfalt, ihren wechselnden Rhythmen und überraschenden Pointen dreijährige Kinder ebenso begeistern wie Erwachsene. (Weiterlesen …)
Martine Murray
Als ich noch ganz klein war, legte ich mich oft aufs Sofa und breitete meine Haare aus, wie Dornröschen es getan hätte. Ich schloss die Augen und lächelte das Lächeln eines Engels, der zufällig auf einem Sofa eingeschlafen ist. Ich wartete mit meinen Dornröschenhaaren und meinem Engelslächeln darauf, dass Mum mich suchte. Aber sie suchte mich nie. Sie hat mich nie so gefunden.
Wenig später erklärt ihr Mum, wie man die Nadel auf die richtige Stelle der Schallplatte legt: „Du musst sie ganz vorsichtig absenken, Manon. Verstehst du, wie ein Schmetterling, der auf einem Blütenblatt landet.“ Der Roman Das feurrote Kleid von Martine Murray vibriert von der ersten bis zur letzten Seite vor Empfindsamkeit. Die Nadel hob und senkte sich über den Wellen, ohne dabei aus der Spur zu geraten, genau so, wie ich durch mein Leben gehen wollte.
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Cecily von Ziegesar: Gossip Girl
An keiner anderen Gattung lassen sich Tradition und Veränderung im Buchmarkt besser erkennen als am Jugendbuch. Jung sollen sie sein: die Autoren, die Lektoren und die Übersetzer, um möglichst nah dran an der Zielgruppe 14+ zu sein. Und die ergrauten Kritiker? Sie wundern sich über TV-Serien, die auf Büchern basieren, aktuell über Gossip Girl auf ProSieben. Sie nehmen skeptisch das gleichnamige Buch in die Hand – „Soap!“, schreit aus von den Umschlagtexten –, klappen es auf und lesen das Motto: „‚I’m your Venus, I’m your fire. At your desire.’ Bananarama, Venus.” (Weiterlesen …)
Alexas Lelle

Alexa Hennig von Lange
Lelle mit ihrem extrem strapaziösen Teenager-Alltag ist frech, witzig und böse und trägt auch gerne mal dick auf. Andererseits ist sie verletzlich, traurig und allein und findet es schlimm, 15 Jahre alt zu sein. Kuschelig ist das alles nicht: Wenn es Lelle zu viel wird, schlägt sie den Kopf gegen die Wand, raucht Kette, steckt sich nach einer furchtbaren Möhrenmalzeit im Klo den Finger in den Hals, fürchtet den anschließenden Anhauchtest der Mutter und würde oft am liebsten in Ohnmacht fallen, was ihr gelegentlich auch gelingt. Käme nur der TV-Star und streichelte ihr sanft den Rücken… (Weiterlesen …)
Amok in der Schule: Morton Rhues „Ich knall euch ab!“

„Wenn wir nichts daran ändern, wie wir andere innerhalb und außerhalb der Schule behandeln, wird es nur noch mehr – und schrecklichere – Tragödien geben“, schreibt Rhues fiktive Herausgeberin Denise Shipley, Journalistik-Studentin und Stiefschwester von Gary, dem tragischen Protagonisten, mit dessen Abschiedsbrief der Roman Ich knall euch ab! von Morton Rhue beginnt:
« Previous Page — Next Page »Ich hätte mich auch ganz still aus dem Staub machen können, aber das wäre ja noch sinnloser gewesen. Wenn ich so gehe und bei meinem Abgang die Leute mitnehme, die mir das Leben zur Hölle gemacht haben, dann kommt vielleicht eine Botschaft rüber. Vielleicht ändert sich dann etwas, und irgendwo wird irgendein anderer Junge, der so unglücklich ist wie ich, besser behandelt und findet vielleicht einen Grund weiterzuleben.