Omas Hahn am Tag der Arbeit
von konecny
Auch im Urlaub auf einem Dorf in Mähren musst du erfahren, dass wir längst unsere alte Welt für die neue, virtuelle ausgetauscht haben. „Unser dreijähriger Sohn Adam, das Stadtkind, flitzte aus dem Hühnerstall, hielt ein Ei hoch und brüllte: „Papa, die Eier macht man nicht in der Fabrik!“
„Nein!“, sagte ich. „Die werden von den Hennen gelegt!“
„Von der da?“, fragte Adam und zeigte auf den Hahn, der auf dem Misthaufen herumstolzierte.
„Nein! Das ist der Hahn! Der legt keine Eier!“
„Und was macht der Hahn?“, fragte Adam. Tja! Was macht eigentlich der Hahn? Ich ging in die Felder hinter den Häusern, kletterte auf einen Strohschober und dachte an die alten Zeiten im sozialistischen Mähren. Als noch allen Kindern auf der Welt klar war, wozu der Hahn gut sei.
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Pawel Iwanowitsch Melnikow – Chronist der Altgläubigen
von wietek
Cover von Na gorach
(dt. In den Bergen),
das nicht in deutscher
Übersetzung vorliegt
Pawel Melnikow war ganz gewiss kein Systemkritiker geschweige denn ein Revolutionär. Ganz im Gegenteil, er war ein – so würde man heute sagen – regierungstreuer, rechtsliberaler Beamter und er starb – darin sind sich alle Quellen einig – „nach einem ruhigen Lebensabend“ im Bett (und zwar am 1. jul / 13.greg Februar 1883 in Nishni Nowgorod).
Seine einzige „Unbotmäßigkeit“ bestand wohl darin, dass er während seines Studiums an einer Studentenfeier teilnahm. Er wurde deswegen nach seiner Promotion für unwürdig gehalten, einen Lehrstuhl für slawische Mundarten zu besetzen.
Aus Melnikows Leben gibt es ansonsten wenig herausragende Ereignisse zu berichten. Die wenigen, die überliefert sind, sind dazu noch – je nachdem von welch politischer Couleur die Berichterstatter waren – unterschiedlich berichtet und gewichtet worden. (Weiterlesen …)
Alexas Lelle
von bardola
Alexa Hennig von Lange
Lelle mit ihrem extrem strapaziösen Teenager-Alltag ist frech, witzig und böse und trägt auch gerne mal dick auf. Andererseits ist sie verletzlich, traurig und allein und findet es schlimm, 15 Jahre alt zu sein. Kuschelig ist das alles nicht: Wenn es Lelle zu viel wird, schlägt sie den Kopf gegen die Wand, raucht Kette, steckt sich nach einer furchtbaren Möhrenmalzeit im Klo den Finger in den Hals, fürchtet den anschließenden Anhauchtest der Mutter und würde oft am liebsten in Ohnmacht fallen, was ihr gelegentlich auch gelingt. Käme nur der TV-Star und streichelte ihr sanft den Rücken… (Weiterlesen …)
21. April 2009Hans Olsson – Rollenspiele
von lesartigeIn Johans Leben scheint alles perfekt zu sein. Er hat die besten Freunde, die es gibt und seine Eltern sind total in Ordnung. Er spielt Basketball und ist sehr erfolgreich bei den Mädchen! Doch genau das ist sein Problem! Die Mädchen werfen sich ihm zu Füßen, aber er verliebt sich immer in Jungs. Das ist Johans großes Geheimnis, seiner Familie und seinen Freunden kann er sich nicht anvertrauen: Was würden die wohl sagen?
Die Angst vor der Reaktion seiner Freunde lässt Johan fast verrückt werden. Er ist sich sicher, dass sie angeekelt, entsetzt und geschockt reagieren würden. Seine Angst zieht ihn runter, er ist verzweifelt und manchmal schämt er sich oder ekelt sich sogar vor sich selbst. Er lügt, macht Ausflüchte, um sein geheimes Leben zu verstecken und schauspielert. Er spielt in Rollenspiele! (Weiterlesen …)
13. April 2009Männer auf der Kirmes
von konecnyDer Mann ist ein erfinderisches Geschöpf, wenn’s darum geht, geistige Sachen mittels geistiger Getränke in geistlose Abgründe zu führen. Der Fastenschank zum Beispiel, der letzte Ausschank von Alkohol, hat früher die christliche Fastenzeit eingeleitet, die den Körper fürs Spirituelle reinigen sollte. Die Fastenzeit und das Spirituelle spart man sich mittlerweile, der Fastenschank aber ist uns als Fasching erhalten geblieben, eine jetzt grundlose Sauferei, die jeder Spiritualität spottet. Jahr für Jahr artet somit eine christliche Tradition zu einem mittels Alkohol enthemmten heidnischen Fest aus.
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Wladimir Galaktionowitsch Korolenko – der erste russische Menschenrechtler
von wietek30. March 2009Ich erinnere mich noch aus der Zeit, wo ich schon ein ziemlich bewusstes geistiges Leben führte, eines bezeichnenden Falls…
Vor das Kreisgericht war der Prozess zwischen einem reichen Gutsbesitzer, Grafen E., und seiner armen Verwandten, wenn ich nicht irre, der Witwe seines Bruders, gekommen. Der Graf war ein großer Herr mit mächtigen Konnexionen, Mitteln und Einflüssen, die er auch rührig ins Werk setzte. Die Witwe verfocht ihren Anspruch kraft des ,Armenrechts’, ohne Stempelgebühren zu zahlen.
Man prophezeite, dass sie verlieren würde, da der Rechtsfall immerhin verwickelt war, von des Grafen Seite aber ein kräftiger Druck auf das Gericht ausgeübt wurde. Vor der Entscheidung sprach der Herr Graf bei uns in eigener Person vor; seine wappengeschmückte Kutsche hielt zwei- oder dreimal vor unserem bescheidenen Häuschen, und sein langbeiniger Heiduck in Livree stelzte vor unserer windschiefen Treppe auf und ab. Die ersten beiden Male beobachtete der Graf eine majestätische und vorsichtige Haltung, und der Vater schob nur kühl und förmlich seine Tastversuche zurück. Beim dritten Besuch jedoch war der Herr wahrscheinlich mit einem direkten Anerbieten herausgerückt. Der Vater brauste plötzlich auf, warf dem hohen Herrn einen unparlamentarischen Ausdruck an den Kopf und klopfte dabei heftig mit dem Stock auf den Boden. Der Graf verließ Vaters Zimmer hochrot vor Wut, Drohungen murmelnd, und bestieg eilig wieder seine Kutsche.
Auch die Witwe war ein paarmal gekommen, wiewohl der Vater diese Besuche nicht sonderlich liebte. Das arme Weib setzte sich in seinen Trauergewändern, mit verweinten Augen, bedrückt und schüchtern zu meiner Mutter, erzählte ihr etwas und weinte. Die Ärmste glaubte, sie müsse dem Richter immer noch etwas auseinandersetzen. Wahrscheinlich waren es bloße Lappalien, denn der Vater winkte mit der bei ihm in solchen Fällen üblichen Redensart ab: ,Ach was! Belehre Kranker den Medikus! Alles wird gemacht, wie das Gesetz es vorschreibt.’
Der Prozess wurde zugunsten der Witwe entschieden, wobei alle Welt wusste, dass dies ausschließlich der Festigkeit meines Vaters zu danken war. Der Senat bestätigte diesmal die Entscheidung unerwartet schnell, und die armselige Witwe war plötzlich eine der reichsten Gutsbesitzerinnen des Kreises, wenn nicht gar des Gouvernements geworden.
Als sie wieder vor unserem Hause, diesmal in eigener Kalesche, erschien, war die frühere kümmerliche Bittstellerin kaum zu erkennen. Ihre Trauer war zu Ende, sie schien beinahe verjüngt und strahlte vor Glück. Der Vater nahm sie sehr freundlich mit jenem Wohlwollen auf, das wir Leuten gegenüber zu fühlen pflegen, die uns stark verpflichtet sind. Als sie aber ein Gespräch »unter vier Augen« erbeten hatte, trat sie bald aus Vaters Zimmer mit gerötetem Gesicht und verweinten Augen. Die gute Frau wusste, dass die Wendung in ihrem Schicksal gänzlich an der Festigkeit, man kann beinahe sagen an dem Heroismus dieses schlichten lahmen Mannes gehangen hatte. Und nun durfte sie ihm nicht einmal irgendwie ihre Erkenntlichkeit zeigen.
Sie war bekümmert, ja gekränkt. Am Tag darauf kam sie wieder, als mein Vater im Dienst, die Mutter aber zufällig fortgegangen war, und schleppte einen Haufen verschiedener Stoffe und Waren her, die sie auf allen Möbeln in unserem Wohnzimmer aufstapelte. Unter anderm rief sie mein Schwesterchen heran und gab ihm eine riesige herrlich gekleidete Puppe mit blauen Augen, die sich schlossen, wenn man die Puppe schlafen legte. Die Mutter kriegte keinen geringen Schreck, als sie der Bescherung ansichtig wurde. Als aber der Vater vom Dienst kam, brach in unserer kleinen Wohnung eines der heftigsten Gewitter los, deren ich mich entsinnen kann. Er erging sich in Schimpfworten über die Witwe, überhäufte die Mutter mit Vorwürfen und gab nicht eher Ruhe, bis ein Handwägelchen vor der Treppe erschien, auf das sämtliche Geschenke aufgeladen und zurückgeschickt wurden.
Dabei stellte sich jedoch eine unerwartete Schwierigkeit heraus: Als die Reihe an die Puppe kam, legte mein Schwesterchen entschiedenen Protest ein, und dieser Protest nahm so dramatische Formen an, dass Vater nach einigen Versuchen, wiewohl mit großer Unzufriedenheit, nachgab.
‚Durch euch bin ich also doch ein käuflicher Kerl geworden’, brummte er ärgerlich und verschwand in seinem Zimmer.
Solches Gebaren wurde damals allgemein für zwecklose Marotte angesehen.
„Eine kluge Frau hat Millionen Feinde – alle dummen Männer.“ Marie von Ebner-Eschenbach als poetische Vorbotin der Gleichberechtigung.
von tergast
Im Riesenreich des Kaisers Franz-Joseph wuchs sie nach ihrer Geburt1830 vorwiegend im mährischen Teil auf, verbrachte jedoch auch einen Teil der Kindheit im Zentrum der habsburgischen Monarchie, in Wien. Die frühen Jahre von Marie von Ebner-Eschenbach spielten sich zwischen zwei Sprachpolen ab: Französisch war die Sprache ihrer Familie, Tschechisch die von Amme, Kinderfrau und Gesinde, die für ihr Aufwachsen nicht ohne Bedeutung waren. Nachdem die Mutter kurz nach der Geburt gestorben war und Marie mit nur sieben Jahren auch die erste Stiefmutter verlor, war die Großmutter die zentrale Konstante im Leben des jungen Mädchens, das sich früh für Corneille begeisterte und infolgedessen die „größte Schriftstellerin“ werden wollte. Einer der ersten poetischen Gehversuche, eine „Ode à Napoléon“, findet vor dem 15 Jahre älteren Vetter Moritz Freiherr von Ebner-Eschenbach, der sie zufällig liest, keine Gnade. Vor allem die Anbiederung ans Französische stört in jener Zeit; er empfiehlt ihr: „Was deutsch du denkst, hab deutsch zu sagen auch den Mut!“
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Amok in der Schule: Morton Rhues „Ich knall euch ab!“
von bardola
„Wenn wir nichts daran ändern, wie wir andere innerhalb und außerhalb der Schule behandeln, wird es nur noch mehr – und schrecklichere – Tragödien geben“, schreibt Rhues fiktive Herausgeberin Denise Shipley, Journalistik-Studentin und Stiefschwester von Gary, dem tragischen Protagonisten, mit dessen Abschiedsbrief der Roman Ich knall euch ab! von Morton Rhue beginnt:
17. March 2009Ich hätte mich auch ganz still aus dem Staub machen können, aber das wäre ja noch sinnloser gewesen. Wenn ich so gehe und bei meinem Abgang die Leute mitnehme, die mir das Leben zur Hölle gemacht haben, dann kommt vielleicht eine Botschaft rüber. Vielleicht ändert sich dann etwas, und irgendwo wird irgendein anderer Junge, der so unglücklich ist wie ich, besser behandelt und findet vielleicht einen Grund weiterzuleben.
„Wenn früher zwei Menschen aufeinander geschossen haben, dann waren es ein Cowboy und ein Indianer…“
von bardolaEin Interview mit Morton Rhue zum Thema Gewalt an den Schulen
Das folgende Interview mit Morton Rhue fand am 15. März 2002, also über einen Monat vor dem Massaker von Erfurt statt. Der amerikanische Autor, der zwanzig Jahre nach seinem Bestseller Die Welle wieder ein brisantes Thema aufgegriffen hatte, hatte kurz vor unserem Gespräch eine Lesereise durch Deutschland beendet. Der Tenor an den deutschen Schulen lautete angesichts der von Rhue in Ich knall euch ab! beschriebenen Bluttat: „Zum Glück kann so etwas bei uns nicht geschehen, allein schon, weil es in den deutschen Haushalten nicht so viele Waffen gibt…“ Wenige Wochen nach den Ereignissen von Erfurt, nachdem die Realität das Vorstellungsvermögen aller überstiegen hat, wurde diese Haltung widerlegt. (Weiterlesen …)
17. March 2009Die Wahrheit im Blick und echten Geschichten auf der Spur
von litprom
In den letzten zehn Jahren hat die deutsche Buchlandschaft eine interessante Entwicklung durchlaufen. So konnten wir beobachten, wie das scheinbar generell gesteigerte Bedürfnis nach “echten” Geschichten und dem “wahrem Erlebten” befriedigt wurde und noch immer mit neuen spektakulären (Auto-)Biografien, Dokumentationen und Reportagen befriedigt wird. Vielerorts spricht man von einem Documentary Turn, ein Begriff, der die gesteigerte Produktion von autobiografischen Erzählungen, aber auch biografischen Narrationen dokumentiert. Natürlich wurden schon immer Geschichten solcher Art erzählt. Neu ist jedoch, dass heute vermehrt Geschichten von Afrikanerinnen erzählt werden, von Frauen, die oftmals viele tausend Kilometer reisen mussten, bevor sie die Grenzen Europas erreichten und glaubten, ihrem Traum von einem besseren Leben näher gekommen zu sein. Doch wie gestaltet sich dann dieses neue Leben in Europa? Während sich manche tatsächlich ihrem Ziel näher sehen, scheinen andere gerade erst den Eingang zur Hölle passiert zu haben. (Weiterlesen …)
11. March 2009