Nichts zu verlieren : DBC Pierres „Jesus von Texas“
von bardolaDer 15-jährige Vernon Gregory Little aus der fiktiven texanischen Kleinstadt Martirio (Nomen est omen: Die Stadt steht symbolisch für alle hinterwäldle- rischen Städte in Zentral-Texas, dem Land der Bush-Dynastie) – pubertie- render, ständig fluchender Ich-Erzähler, verklemmter Außenseiter an der High School, Muttersöhnchen und geborener Verlierer – fiel bislang immer aus der Rolle. Doch jetzt wird ihm von den Stadtbewohnern und den Medien eine Rolle auf den Leib geschneidert: die Rolle eines Täters. (Weiterlesen …)
17. October 2011Backlist im Literaturhaus Frankfurt: Thomas Brasch
von zvabDie Kultur unserer Gegenwart ist eine Frontlist-Kultur. Was „alt“ ist, was „letzte Saison“ war, was nicht mehr in Front ist, das können manchmal nur ein paar Wochen ausmachen. Mit Backlist unternimmt das Literaturhaus Frankfurt Würdigungen von herausragenden Büchern oder Werken, die ganz gegen diesen Novitäten-Strom des Vergessens weiterhin von den Verlagen geführt werden.

Insa Wilke (Foto ©privat)
Die Programmleiterin des Kölner Literatur- hauses, die Literaturwissenschaftlerin Insa Wilke, hat ein viel beachtetes Buch über den Dichter und Dramatiker Thomas Brasch verfasst (Ist das ein Leben, Matthes & Seitz). Zwischen dialektischen Volten entwickelt Wilke
„ein neues Gesamtbild des Schriftstellers. Es könnte Brasch ein Weiterleben bescheren. Denn ohne sich der Form einer Biografie zu unterwerfen, entschlackt sie das Leben Braschs um viele Legenden. Und in genauer Lektüre spürt sie der Radikalität seines Konzepts von der Literatur nach“,
schwärmte die SZ. Am 5. Oktober 2011 erzählt Insa Wilke entlang von Braschs Gedichten, die der Schauspieler Isaak Dentler liest, vom Leben und der Arbeitsweise dieses Suhrkamp- Autors. Dentler verkörperte u. a. Mortimer in Maria Stuart am Schauspiel Frankfurt.
Backlist: Thomas Brasch
mit Insa Wilke (Literaturhaus Köln) und Isaak Dentler (Schauspiel Frankfurt)
Mittwoch 05.10.11 / 19.30 h /
Literaturhaus Frankfurt
Eintritt 5 / 3 Euro
Fëdor Sologub, der „Sänger des Todes“ – Teil I
von wietekIch nehme ein Stück grauen, armseligen Lebens und schaffe daraus eine liebliche Legende, weil ich ein Dichter bin. Magst du, Leben, in Dunkelheit verharren, trüb und alltäglich, oder in wütenden Bränden toben, ich, der Dichter, werde über dir eine von mir geschaffene Legende aufbauen – eine Legende vom Schönen und vom Entzückenden.
[Anfang der Legende im Werden von Fëdor Sologub, übersetzt von Friedrich Schwarz]
Fëdor Sologub (eigentlich Fëdor Kuzmič Teternikov), am 17. Februar jul./ 1. März greg. 1863 in St. Petersburg geboren, gehört zusammen mit Valerij Brjusov (*1873, †1924) und Nikolaj Minskij (*1855, †1937) zur älteren Generation der russischen Symbolisten. Schon mit zwölf Jahren schrieb er Gedichte (die verloren gegangen sind), im Jahr 1882 verteidigte er am Sankt Petersburger Lehrerbildungsinstitut seine Diplomarbeit mit dem Titel Märchen des Tierepos und die Ethik (im Original Skazki životnovo ėposa i nravstvenno-bytovye) und 1884 veröffentlichte er (noch unter seinem richtigen Namen) in der Kinderzeitschrift Wesna (dt. Frühling) die Fabel „Fuchs und Igel“. Letzteres Ereignis gilt als der eigentliche Beginn von Sologubs schriftstellerischer Tätigkeit.
Sologub hat sehr bewusst die Blütezeit des russischen Realismus mit ihren Größen Dostoevskij und Tolstoj miterlebt, ebenso jedoch auch ihren „Niedergang“, den Übergang zum Naturalismus. Politisch geprägt wurde er von der hoffnungslosen Zeit der Repression unter Alexander III., die er als Lehrer an verschiedenen Orten in der Provinz erlebt (oder besser: durchgestanden) hat.
[Die für das Verständnis von Fëdor Sologubs Schaffen wichtigen gesellschaftspolitischen und künstlerischen Voraussetzungen wurden in den Essays Kaiser Alexander III. und Aufbruch in die Moderne – die russischen Symbolisten dargelegt.]
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Fëdor Sologub, der „Sänger des Todes“ – Teil II
von wietekNachdem in Teil I des Essays die Person Fëdor Sologub im Mittelpunkt der Betrachtungen stand, soll in diesem Teil sein Schaffen umrissen werden.
Wie alle Symbolisten betrachtet auch Sologub das Leben auf dieser Welt nicht als die einzige Form des Seins.
Die irdische Existenz ist nur ein Teil – und zwar der kleinere – des Menschen, denn er selbst ist Teil einer jenseitigen, allumfassenden Sphäre, die seinem Erkenntnisbereich entzogen ist. Nur eines ist sicher: Diese Sphäre ist vollkommen, das irdische Leben dagegen eine vorüberge- hende Qual. Wie ein Wurm, den Schutz der Dunkelheit suchend, den Tag flüchtend, sich in die Erde bohrend, krümmt sich der Mensch während seiner Existenz auf Erden. Die irdische Welt ist jedoch Teil des Ganzen, dessen Gesetze auch auf sie einwirken. Der Mensch kommt aus dem Metaphysischen, der Jenseitigkeit, und wird durch seinen in die Irre geleiteten Willen in die irdische Existenz gestoßen, aus der er mit dem Tode wieder ins Metaphysische entschwindet. In der Geschichte „Die Kommenden“ aus dem Buch der Märchen schreibt Sologub:
26. August 2011Niemand weiß, was kommen wird.
Aber es gibt einen Ort, wo die Zukunft durch das blaue Gewebe der Wünsche durchschimmert. Das ist der Ort, wo die noch Ungeborenen ruhen. Dort ist es schön, still und kühl. Dort gibt es keinen Kummer, und statt der Luft weht dort eine Atmosphäre reiner Freude, die den Ungeborenen das Atmen leicht macht. (Weiterlesen …)
17. Juli 1936
von wietekWer weiß heute noch, wofür dieses Datum steht? Hand aufs Herz: Aus den letzten drei Generationen wohl niemand mehr. Und aus der älteren Generation vielleicht eine Handvoll junggebliebener Alt-68er. In Spanien ist das vermutlich anders, aber wahrscheinlich auch nicht viel besser.
Dabei ist das eigentlich ein Tag, an dem – wie sich später herausstellte – Weltgeschichte geschrieben wurde: Am 17. Juli 1936 putschte in Marokko, das damals unter spanischer Herrschaft stand, das Militär gegen die republikanische Regierung Spaniens – eigentlich nichts Ungewöhnliches in dieser Zeit und schon gar nicht in Spanien. Schon am nächsten Tag übernahm General Francisco Franco Bahamonde (44 Jahre alt und schon seit 10 Jahren General) das Kommando über den Putsch, der nun auch auf das Mutterland übergriff. Am 21. Juli begann die – auch literarisch und medial berühmt, ja zur Legende gewordene – Belagerung des Alcázars von Toledo. Ende September avancierte Franco – er soll sich selbst ernannt haben – zum „Generalisimo“ der Junta und „El Caudillo“ (Führer) der nationalspanischen Regierung der eroberten Gebiete Spaniens. Schon im November erkannten das Deutsche Reich unter Hitler und Italien unter Mussolini seine Regierung als die einzig legale an – was jedoch nicht zu dem Trugschluss verleiten darf, dass die Putschisten eine nationalsozialistische oder faschistische Ideologie verfolgten, sie waren stramm konservativ.
Wie war das einstige Weltreich, von dem sein Kaiser Karl V. (*1500, †1558) einst sagen konnte, dass in ihm die Sonne niemals unterginge, und das sich mit England einmal die ganze Welt geteilt hatte, in eine so desolate Lage geraten? (Weiterlesen …)
Aufbruch in die Moderne – die russischen Symbolisten
von wietekDie große Zeit der russischen Literatur war das 19. Jahrhundert gewesen. Es war die Zeit des Realismus, für die große Namen wie Nikolaj Gogol, Ivan Turgenev, Fëdor Dostoevskij und Lev Tolstoj (um nur die berühmtesten zu nennen) stehen. In ihren Werken wurde die Lebenswirklichkeit in allen Bereichen geschil- dert – gesellschaftlich, politisch und rein menschlich; die Schriftsteller sahen ihre Auf- gabe darin, aufklärend, kritisch, im weitesten Sinn des Wortes erzieherisch zu wirken. Zum Zeitpunkt des Todes von Dostoevskij 1881 war der Höhepunkt des Realismus erreicht. Danach sank das Interesse sowohl der Schriftsteller als auch der Leser ständig; immer weniger sahen die Schriftsteller ihre Auf- gabe darin, „belehrend“ – d. h. positive Lösungsansätze aufzeigend – zu wirken. Die Schriftsteller des sich aus dem Realismus entwickelnden Naturalismus – wie Boborykin und Mamin-Sibirjak – beschränkten sich darauf, schonungslos die Finger auf die blutenden Wunden der Gesellschaft zu legen. Čechov – ursprünglich ein aufrechter Realist – glitt in Ironie und Zynismus, ja fast in die Hoffnungslosigkeit, ab. Lev Tolstoj verwarf in seinem Werk Die Beichte (1882) gar sein ganzes bisheriges Leben und Schaffen. Was war geschehen? (Weiterlesen …)
15. July 2011Werk-Tag – Neue Veranstaltungsreihe im Literaturhaus Frankfurt
von zvab
An Abenden, die Werk-Tag heißen, unternimmt das Literaturhaus Frankfurt mit seinem Publikum empathiegesteuerte Beobachtungen eines Werkes, das zwar noch nicht abgeschlossen ist, aber doch wirksam genug erscheint, um sagen zu können, es hat die Kultur Deutschlands geprägt.
Solch ein Werk ist das Günter Herburgers. Stets als Ausnahmeerscheinung zelebriert, veröffentlicht er seit 1964 Lyrik, Prosa und Hörspiele und war Mitglied der Gruppe 47. Mit der 1991 abgeschlossenen „Thuja“ Trilogie (Luchterhand) schuf Herburger ein monumentales Gegenwartsepos. Seine Gedichte bezeichnet der immerzu Fliehende als notwendige Träume, die erscheinen „wie vollgestopfte Schubladen, die klemmen“. Grass nannte ihn den „Marathonläufer der deutschen Literatur“ und rekurriert damit sowohl auf den Umfang seines Werkes als auch auf seine Leidenschaft für Langstreckenläufe.
Im Literaturhaus Frankfurt hält Herburger am 27.06.11 Rast und vielleicht zeigt sich im Austausch mit Holger Heimann, wie aus Erschöpfung Schöpfung erwächst.
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Aleksandr Ivanovič Kuprin – Teil 2
von wietekZu Teil 1 – Aleksandr Ivanovič Kuprin
Die Zeit bis zum Ausbruch der Ersten Weltkrieges war für Kuprin nerven- und kräftezehrend: Trennung von seiner Frau, Heirat der zweiten Frau, ein aufreibendes Boheme-Leben, Reisen von Finnland bis auf die Krim. Literarisch war es jedoch eine fruchtbare Zeit. Von den vielen, in dieser Zeit entstandenen Werken sind in deutscher Sprache erschienen:
Die Kränkung (1906), eine Erzählung voller schwarzem Humor, in der sich die „Zunft“ der Diebe dagegen wehrt, für die Pogrome gegen die Juden verantwortlich zu sein, wofür die Polizei sie – der Einfachheit halber – verantwortlich macht und prügelt. (Weiterlesen …)
Aleksandr Ivanovič Kuprin – Teil 1
von wietekWeiter zu Teil 2 – Aleksandr Ivanovič Kuprin
geboren am 26. Augustjul. / 7. Septembergreg. 1870 in Narovčat (Gouvernement Pensa, 500 km südöstlich von Moskau) und gestorben in Leningrad – wie St. Petersburg zu diesem Zeitpunkt schon hieß – am 25. August 1938, war ein Zeitzeuge des gesamten, großen Umbruchs in Russland, sowohl des gesellschaftlichen wie auch des literarischen. Er war noch bis in die letzte Hälfte des vorigen Jahrhunderts in Russland (auch in der DDR) ein gern gelesener der letzten großen russischen Realisten, und viele seiner Erzählungen und Romane sind und werden noch heute in Russland verfilmt. (Weiterlesen …)
24. May 2011„Ein Buch, das man liebt, darf man nicht leihen, sondern muss es besitzen.“ – Friedrich Nietzsche
von zvabWelch abgedroschener Spruch, der diese Woche unseren Büro-Literaturkalender ziert. Und welch oft zitierte Aussage, wenn es darum geht, die eigene, ausufernde Bibliothek und die viel zu häufigen Buchzukäufe vor den verständnislosen Blicken von Familie und Freunden zu verteidigen. Unbequem wird es nur, wenn einer dieser Freunde Nietzsche beim Wort nimmt. „Kaufe und behalte jedes Buch, das du wirklich liebst… aber von den restlichen Büchern trennst du dich!“ Erwischt… Ich liebe Bücher, aber wie viele Titel im heimischen Bücherregal liegen mir wirklich am Herzen? Wie viele echte Perlen verstecken sich zwischen dem „Modeschmuck“ in Papierform? Und wann liebt man ein Buch? Wenn man es immer wieder zur Hand nimmt, einzelne Passagen oder das ganze Buch regelmäßig erneut liest, es zu einem Begleiter eines Lebensabschnitts wird? Oder darf man auch von Liebe sprechen, wenn das Buch während der Lektüre sehr gut unterhalten, überrascht und berührt hat, wenn man es aber aller Voraussicht nach nicht noch einmal lesen wird? Was ist mit verflossenen Lieben? Bücher, die zu einer vergangenen Lebensphase gehören, mit denen man aber aus heutiger Sicht nicht mehr viel anfangen kann. Nostalgische Liebe sozusagen – verdient nicht auch sie einen dauerhaften Platz im Regal? Vielleicht erwacht die Liebe zu einem Buch auch genau in dem Moment, in dem man sich von ihm trennen soll? Plötzlich gefällt der Nietzsche gar nicht mehr so sehr! Vielleicht muss man ihn aber auch nur geringfügig umdeuten: Ein Buch, das man liebt, darf man nicht verleihen, denn zu groß ist die Gefahr, dass man es dann nicht mehr besitzt…
17. May 2011