"Du, sing! greif die zerhackte, deine nackte Harfe, singe doch
Schmeiß ins Gewirr der Saiten deine Finger für ein Lied
Sing schmerzgebrochne Herzen. Sing diesem Europa noch
Den großen Abgesang von seinem allerletzten Jid"
"Du, sing!" inmitten der unbeschreibbaren Zerstörung, ein anredendes "Du" inmitten des unermeßlichen Leides. Inmitten der Vereinsamung erschalllt da plötzlich eine Stimme. Man weiß nicht, woher sie kommt, man weiß nicht, wem sie gehört, man weiß nicht, was sie wirklich bezwecken will. Man weiß nur, hier in einem Konzentrationslager ist da eine Stimme, die ihn auffordert, ein Lied zu singen, ein Lied! Man muß sich das einmal vorstellen: ein Gesang in einer dieser Atmosphäre, in einer solchen Lage. Diese Stimme fordert zur Aktivität auf, zum Greifen, Schmeißen, Singen. Und es ist nicht so, als wüßte diese Stimme nicht, was geschehen ist, sie kennt die Nacktheit der Zerstörung, das Zerhackte und Schmerzgebrochene. Sie weiß auch, daß dieses Lied nicht wie irgendein anderes Lied ist, ein Preislied, ein Danklied, ein Freudengesang, sie weiß, daß es ein "Abgesang" werden wird: Vom allerletzten Juden in Europa soll er singen, die Macht des Zerstöreres ist so erdrückend, daß keine Aussicht mehr auf Rettung besteht. Es soll kein Kampfgesang und kein Hoffnungsgesang werden, es soll ein Abschied sein. Und alles andere würde in Katzenelsons Ohren auch wie gefühlloser Zynismus klingen. Wenn die Stimme ihn zum Singen kriegen will, dann muß sie ernstnehmen, wie seine Lage sich ihm zeigt.
Wie kann ich singen, aus zertretner Kehle kommt kein Laut
Greul über Greul: nur ich blieb übrig, ich allein
Wo blieb mein Weib, wo unsre beiden Vögelchen, mir graut
Ich hör ein Weinen - meine ganze Welt ist voll Gewein
Er antwortet, er entgegnet, die Stimme ist nicht im Nichts verhallt. Doch seine Antwort ist kraftlos, mutlos. Nicht daß er nicht singen wollte, er dringt überhaupt nicht dazu vor, zu überlegen, ob er willoder nicht. Schon das bloße Können ist sein Hindernis. Ihm fehlt die Kraft: wie soll er denn singen, wenn aus seiner zertretenen Kehle kein Laut kommt, wenn die gräßliche Fratze des Leidens ihn stumm gemacht hat. Ein Mnesch soll hier singen und in diesem Singen künden, künden wie einst die Propheten, die die Stimme Gottes herausrief und die gegen diese Berufung auch ihre Einwände und Bedenken vorbrachten. Gott aber ließ sich davon nicht beirren, er gab ihnen die Kraft und die Fähigkeit. Nun auch hier? Wird diesem Katzenelson auch die Kraft gegeben, ihm, der erlebte, was kein Prophet erlebte: dieses den Worten trotzende Leid, dieses existentielle Verlassenheitsgefühl, diese "Greuel über Greuel"? Katzenelson erscheint wie leergeflossen von den Tränen. Ihm ist die Frau genommen, ihm sind seine beiden Kinder genommen. Ein Hiob, der zum Propheten werden soll?
"Sing! und erheb die Stimme, sing mit Schmerz und Wut
Such! such, da oben, ob es IHN noch gibt und seine Welt sich dreht
Sing IHM hoch oben seines letzten Jidden letztes Lied: Der Jud
Gelebt, krepiert und ohne Grab vom Wind verweht"
Die Stimme läßt sich nicht beirren. Sie greift seine Argumente auf: ja, wenn du so voller Schmerz bist, dann singe wenigstens mit "Schmerz und Wut", handle, tue etwas, erheb dich und ergib dich wie ein bereits lebendig Toter in dein Schicksal. Diese Stimme will ihn dazu anstiften, den Dialog mit der Welt aufzunehmen, ihn dazu anstiften, nach Gott zu suchen, "ob es IHN noch gibt". Man spürt schon am Ton, daß es hier nicht um das Leid als den Felsen des Atheismus geht, sondern einen Zusammenhang, den vielleicht nur Juden so erleben können. Denn für Juden, selbst wenn sie wie Katzenelson nicht besonders gläubig sind, ist es keine Frage, daß Gott existiert, an der Existenz besteht nie ein Zweifel. Deshalb geht es an dieser Stelle nicht um eine Existenzfrage, sondern um die Frage nach der Relevanz Gottes für den Menschen, nach SEINEM Dasein für den Menschen. Und dazu stiftet ihn die Stimme an: suche nach IHM, ob er noch relevant ist für die Welt, such nach IHM, ob die Verheißung vom Sinai noch gilt.
Und das Singen meint nichts andertes als den Dialog aufnehmen, nicht Singen in ein Irgendwo hinein, sondern Gott entgegen. Eines ist hier bemerkenswert: noch immer, auch kurz vor der Ausrottung, sind die Juden Gottes auserwähltes Volk, auch wenn sie "krepiert" sind und man sie nicht einmal begrub, sondern verbrannte, so daß ihre Überreste in alle Windrichtungen zerstreut wurden, einfach so ihre Spuren in der Welt ausgelöscht wurden.
Wie soll ich singen mit erhobnem Haupt. Mein Weib
Verschleppt mit Ben, mit Jomele - der Jüngste war noch Kind
Aus meinen Lichtgestalten wurden Schatten ohne Leib
Ich selbst bin schon ein Schatten, kalt und blind.
Ja, er hat begriffen, was diese Stimme von ihm will: er soll wieder sein Haupt erheben, er soll wieder wie ein Mensch mit Würde und Rückgrat handeln. Aber wie soll einer, dem man das Rückgrat gebrochen hat, mit Würde handeln? Wie soll ein Hiob künden? Katzenelson ist hier wie Hiob, der sich wünscht, nie geboren zu sein, der nur noch Finsternis ertragen kann, nimmt hier dessen Bilderspiel mit Licht und Dunkelheit auf, nur daß es bei beiden kein Spiel ist, sondern Ausdruck jener Düsternis der Seele. Jedes Lebenszeichen, jeder gesungene Laut wäre Licht, aber er ist dem Licht so entfremdet, weil seine Lichtgestalten, sein Lebensquell, seine Familie ihm geraubt wurde, zu Schatten in der Erinnerung verkommen sind. Wie soll er durch Singen Licht ausstrahlen, wo er sich schon als Schattengestalt ohne Leben und Mut fühlt?
"Ja, schrei ein letztes Lied in diese Welt und wirf dein Haupt
In' Nacken, wende nicht von IHM den Blick in deiner Not
Greif in die Saiten, sing: Dein Volk, Gott, das dich glaubt
Ist abgeschlachtet. Alle, alle, alle Juden tot."
Doch die Stimme läßt sich nicht beirren, diese Stimme kennt die Klagen Hiobs, sie kennt das Leid, das ein gequälter Mensch so durchmacht. Wenn der Mensch nicht singen kann, dann soll er schreien, und schreien kann er als das Geschöpf Gottes, er kann das Haupt in den Nacken werfen, weil ihm nichts seine Würde rauben kann, kein Leid, kein Feind, nichts in dieser Welt. In all dem kann er noch erhobenen Hauptes gehen - oder das Haupt wieder erheben -, wenn er nur zu Gott aufblickt, auf ihn beharrt in der Not der Welt. Diese Stimme will Katzenelson zum scheinbar Vermessenen anstiften: sing deinem Gott davon, wie sein auserwähltes Volk abgeschlachtet ist, wie das Volk, das im Glauben beharrt hat, einfach so umgebracht worden ist. Er soll seinen Gott anklagen, mit ihm rechten, ihm das Ausmaß des Leides entgegenschleudern. Und dieses Ausmaß ist viel gewaltiger als das Leid eines Hiob, denn hier das jüdische Volk vor dem Ende der Geschichte, es steht kurz davor, in seiner Existenz ausgelöscht zu werden. Und dennoch soll er singen.
Wie singen! wie die Augen hoch zum Himmel drehn
Erstarrte Tränen kleben mir im Lid. Ich zerr
Die Tränen aus dem Aug und kann nicht sehn
Ich kenn DICH nimmer, seh DICH nicht, o HERR.
Die Stimme dringt in ihn ein, sein Entgegnen wird verzweifelter, weil es zum Kern der Dinge vordringt: er ist so voller Tränen, so voller Trauer, wie soll er noch einen Blick für Gott haben, wie noch zu IHM aufblicken können, ja wie soll er sich IHM zuwenden können, wo doch seine Verbindung zu seinem Urgrund gerissen ist. "Ich kenn DICH nimmer, seh DICH nicht," die Stimme hat es geschafft, er redet wieder mit Gott, er redet mit IHM, auch wenn sein Reden bittere Galle ist. Im Originaltext wird noch viel deutlicher, daß er hier nicht mit irgendeinem Phantom spricht, sondern mit seinem Gott: "Gott, mein Gott," so daß es sich einem aufdrängt, fortzusetzen: "warum hast du mich verlassen?" Er hat das Klagen wieder aufgenommen, er formuliert die Bedrängnisse seiner Seele wieder aus.
"Sing dennoch! Hebe blind zum Himmel auf dein' Blick
Als gäbs ein' Gott da oben, wink ihm, wink
Als käm uns von dort und leuchtete ein Glück
Hock auf Ruinen deines Volks, das ausgerottet ist, und sing!"
"Sing dennoch!" Die Stimme weiß, wie nahe sie ihrem Ziel ist, sie weiß aber auch, was ihn hindern könnte, den Weg, den er eingeschlagen hat, den des Dialogs weiterzugehen. Sie sagt ihm: du brauchst die Gottesgewißheit nicht, um zu singen, wenn sie dir abhanden gekommen ist, wenn du in jener Gottesfinsternis lebst, von der ein Martin Buber sprach, du kannst auch so tun, als gäbe es einen Gott, alsob es von IHM her noch Hoffnung gäbe, wenn du schon an keine glaubst.
Was ist das für eine Stimme? Viele Indizien sprechen dafür, daß hier eine göttliche am Werke ist, die Stimme des Einen Gottes, der diesen einen Menschen hier retten will, indem sie ihn wieder zum sprechen bringt. Gott liebt diesen Menschen, er hat ihn noch nicht aufgegeben, und ER weiß in SEINER Liebe genau, was dieser braucht: den Dialog, die Wiederaufnahme des Dialogs. Gott will nicht irgendein Glaubensbekenntnis, weil ER genau weiß, daß diesem Menschen nicht danach zumute ist, ER weiß, daß Menschen im Leid an SEINEM Dasein zweifeln können, es ihnen danach ist, mit IHM zu rechten. Also stiftet ER sie kurzerhand dazu an. Um die Rettung gehts, nicht um SEINE Ehre.
"Hock auf Ruinen deines Volks". Im Original steht hier ein hebräisches Wort, das immer für die Zerstörung des Tempels gebraucht wird. Der Holocaust wird so stillschweigend in die großen Krisen des jüdischen Volkes eingereiht. Und damit will die Stimme nicht nur die Rettung eines einzelnen, sondern die Kontinuität des jüdischen Volkes auch durch diese Krise hindurch. Die Aufforderung der Stimme ist nichts als eine weitere Form SEINER Zusicherung, daß ER durch alle Krisen hindurch bei SEINEM Volk bleibt, daß der Bund bleiben wird.
Wie kann ich singen, da die Welt mir wüste ward und öd
Wie kann ich spielen, seit mir die Hände gebrochen sind
All meine Toten such ich, Gott! auf jedem Müll wie blöd
In jedem Haufen Asche. Kinder, sagt, wo ich euch find'.
Ganz hat ihn die Stimme noch nicht zum Singen gebracht.Noch immer scheint ihm die Welt nicht mehr wert, daß er ihr ein Lied sänge, die Schöpfung hat ihren Glanz verloren, aber nur auf den ersten Blick steht hier noch viel zwischen ihm und dem Ziel der Stimme. Denn er ist jetzt wieder in den Bahnen der Psalmen, wie z.B. Psalm 137: "An den Strömen Babylons, dort saßen wir uns wir weinten. Am die Pappeln mitten darin hingen wir unsere Leiern. Denn dort forderten unsere Foltrer ein Freudenlied: 'Singt uns was vom Zionsgesang!'Wie sängen wir SEINEN Gesang auf dem Boden der Fremde! Vergesse ich, Jerusalem, dein, meine Rechte vergesse den Griff! meine Zunge hafte am Gaum, gedenke ich dein nicht mehr, erhebe ich Jerusalem nicht übers Haupt meiner Freunde."
Und dann fängt er an zu handeln, er sucht "all seine Toten" - und spricht dabei Gott an! -, er sucht, wenn auch im Lichte der Verzweiflung und nicht des Enthusiasmus, er sucht nach Toten, die keine Gräber haben, er sucht nach Toten, von deren Verbleib er nichts weiß, von denen keine Überreste übrig sind, die weg sind, einfach so, ausgelöscht mit einem Mal, deren Tod wie ein Abgrund mitten in der Welt ist.
Schreit auf, aus jeder Grube, unter jedem Stein
Aus Staub, aus allen Flammen, schreit aus jedem Rauch
's ist euer Blut und Fleisch, drum sollt ihr schrein
's ist euer Lebensmark, drum schreit! Schreit laut!
Doch nun endlich nimmt er die Aufgabe, die ihm die Stimme gegeben hat, in veränderter Tonlage auf, er antwortet wirklich, mit seinem ganzen Wesen, er ruft die Toten zum Schreien auf. Denn er braucht Antwort unter den Menschen, wenn er den Dialog wieder aufnehmen sollte.
Er hat begrifften, was dieses Aufnehmen des Dialoges bedeutet. Es bedeutet Leben. Deshalb will er diese Toten, so absurd dies erscheinen mag, zum Dialog auffordern, zum Dialog mit ihm, sie sollen schreien, aus "Staub", "Flammen" und "Rauch"., sie sollen schreien, weil es um ihr Leben geht, um ihr "Blut", ihr "Fleisch", ihr "Lebensmark". Er traut den Toten noch das Leben zu. Hier sieht man, was diese Stimme wieder ihn ihm geweckt hat, nämlich das Vertrauen auf das Wort Gottes, daß mit dem Tod eben nicht alles aus ist. Wenn die Juden auch nicht an die individuelle Auferstehung der Toten glauben, so doch an die allgemeine am Ende der Zeit. Und er glaubt wieder dieser Botschaft des Glaubens, daß sie wieder leben werden, nur so macht es Sinn, diesen Toten zuzurufen, sie sollen schreien.
Dem Tod soll seine Macht genommen werden. Verpackt in eine Verzweiflungshaltung steckt hier dahinter eine zutiefst religiöse Botschaft, nämlich daß Gott dem Menschen Tod und Leben vorgelegt habe, auf daß er das Leben wähle.
Die ihr verfüttert wurdet, schreit aus Fischen in dem Teich
Aus dem Gedärm der wilden Tiere wehklagt, Groß und Klein
Im Kalk, mein abgeschlachtet Volk, schrei los! jetzt gleich
Ich brauche dein Gebrüll am Spieß, hilf mir mit deinem Hilfeschrein
Keine Grausamkeit der Welt soll ein Hinderungsgrund sein, auch nicht das Zu-Fischerfutter-Machen von Menschen. Egal wo die Überreste der abgeschlachteten Menschen sind, sie sollen den Dialog wieder aufnehmen, egal wohin ihre Teile gelangt sind. Das menschliche Leben kann nicht zuschanden werden, egal durch welche Barbarei, egal durch welchen Zerstörungswillen der Unmenschen. Man spürt, wie seine Seele zu beben anfängt, wenn er den Glauben an die Übermacht des Lebens zurückgewinnt, wie die Wut sich zusammenballt, der Zorn.
Er braucht die anderen, er braucht die Gemeinschaft mit den Toten, er braucht ihr "Gebrüll am Spieß", ihr "Hilfeschrein". Nur dann, wenn diese Toten noch schreien können, macht es Sinn, daß er die Stimme erhebt.
Schrei nicht zum Himmel, der ist taub wie Dreck im Erdenloch
Nicht tauben Ohren predige, ach und zur Sonne schreie nicht
Auslöschen möcht ich sie. In dieser Mördergrube braucht es doch
Gar keine Lampe, denn in meinem Volk leuchtet das hellste Licht.
Er hat den Gottesglauben nicht wiedergefunden, aber zumindest kann er seinen Zorn gegen den Himmel artikulieren, er will ihn dafür strafen, daß er nicht hört, indem er die anderen davon abbringt, den Schrei an den Himmel zu richten. Er ist zutiefst enttäuscht von Gott, wie soll er Gott auch in dieser Situation vertrauen, wie soll er auf jemanden vertrauen, der dieses Massenmorden nicht verhindert hat, wie soll er überhaupt vertrauen angesichts des Leides, angesichts der Zerstörung, die allesamt menschliche Zerstörung ist, wie soll er überhaupt vertrauen, wenn der Mensch sich als Tier aufführt, wenn er Bestrafung erfährt, obwohl er nichts verbrochen haben.
Im Original spielt er auf ein jiddisches Sprichwort an: "der Lampe predigen", einem Irrlicht predigen, er will sie alle auslöschen, weil er zumindest ein Licht in dieser düsteren Welt wiedergefunden hat: das Licht seines Volkes. Die Stimme hat erreicht, daß er wieder ein Licht sieht, und das nur, indem sie ihn zum Sprechen gebracht hat. Gott wußte nur zu genau, daß, wenn er ihm die Stimme löst, seine ersten Worte sich gegen den Schöpfer und Gott der Welt richten würden. Aber Gott versteht es, daß es Zeiten gibt, wo der Mensch vor dem Alpdruck des Leides mit dem Himmel rechtet, ihm Vorwürfe macht. Das ist das Wesen SEINES Geschöpfes, ER weiß es und läßt es nicht im Stich, weil IHM in SEINER Liebe SEINE Geschöpfe über SEINE Ehre geht. Gott ist eben kein Götze, der Verehrung, Demut, bedingungsloses Vertrauen und Anbetung will, sondern ein Gott, der eine wahrhaftige Beziehung mit SEINEM Geschöpf sich wünscht, in der es IHM ganz um den Menschen geht. Und wenn es den Menschen vor dem Zerbrechen bewahrt, dann soll er den Himmel beschimpfen.
Zumindest hat er nämlich eine Spur Hoffnung zurück, Hoffnung auf die Auferstehung der Toten, Hoffnung auf die Lebenskraft seines Volkes.
O zeig dich mir, mein Volk, beweise dich! Die Händ streck aus
Den Massengräbern, kilometerlang! Und dicht an dicht
Vom Kalk verbrannt, ihr Toten, kommt herauf, kommt raus
Die Untersten zuerst, kommt alle wieder, Schicht um Schicht
Immer mehr konkretisiert sich seine Vorstellung von der Auferstehung der Toten, auch aus den Massengräbern. Es ist an dieser Stelle nicht ganz klar, ob da eine wirkliche Hoffnung spricht, eine wirkliche Zuversicht, oder nur der Mut der Verzweiflung, daß niemand verloren ist, weil niemand verloren sein darf. Jedenfalls ist die Lethargie gebrochen, die Stummheit gelöst.
Kommt alle, von Treblinka, Auschwitz, Belzec, von Ponar
Von Sobibor, mit aufgerissnen Augen kommt, macht los!
Ich will, daß Euer stummes Schrein zu einem Schrei erstarrt
Im Schlamm, im Sumpf versunken und in faulem Moos
Der Aufruf an die Toten erweitert sich an alle. Er öffnet seine Seele und läßt all das heraus, was ihn bedrückt, als wollte er seinen Bedrückern damit entgegenschreien, daß sie nicht gewinnen werden, auch wenn sie alle Juden umbringen, ohne aber davon überzeugt zu sein.
Kommt, ihr Verdorrten, aufgerieben und zermahlt, lauft los!
Macht einen Kreis um mich! Rück weiter, rück!
Komm, Opa! Oma, Mama mit dem Kindchen aufm Schoß
Nun seid ihr Dünger, Knochenmehl und Seifenstück
Er ruft alle zusammen, er will ein Publikum für sein Singen. Und trotz der scheinbar erwachten Aufbruchsstimmung, ist das unermeßliche Leid, die unermeßliche Grausamkeit nicht geschwunden, nicht verschwunden, nicht vergessen, sondern immer gegenwärtig: "Nun seid ihr Dünger, Knochenmehl und Seifenstück". Diese erwachte Kraft ist eine Kraft vom Abgrund herauf, von der tiefsten Stelle, der allertiefsten, wo es nichts Tieferes mehr gibt, wo man nur noch nach oben blicken kann oder dem Leben absagen muß.
Ich muß euch alle nochmal anschaun. Grade drum
Kommt alle, denn ich muß euch spürn. Ich muß ja und ich will
Mein Volk sehn, ausgerottet, letzter Blick, versteinert, stumm
Ich singe ... gib die Harfe her ... ich spiel!
Wunsch und Wirklichlichkeit vermischen sich immer mehr. Die Vorstellung von der Auferstehung der Toten hat so konkrete Gestalt gewonnen, daß er von "spüren" spricht, von "anschauen".
Er will singen, er will spielen. Die Stimme hat gewonnen, sie hat ihn dazu gebracht, Gott hat ihn dazu gebracht, ohne das Leid herabzuwerten, ohne es mit Vorstellungen von einer glücklicheren Welt zu übertünchen. Gott will diesem Menschen kein Opium geben, sondern er will, daß er es mit dem Leid aufnimmt, daß er dieses Leid nicht nur in seine Seele eindringen läßt, sondern es auch wieder ausspeit, er will, daß SEIN Geschöpf nicht nur Opfer SEINER Geschöpfe wird, sondern auch SEINE Würde behält. Solange die Stimme nicht verstummt, ist das Leben noch nicht ausgelöscht, hat der Bedränger noch nicht gewonnen. Das Reden, Singen, Schreien ist nichts anderes als eine Form der Bewährung, des Vertrauens, die letzte Möglichkeit des Vertrauens, wenn der Mensch so voller Schmerz, Wut und Zorn ist, daß er keine persönliche Beziehung einzugehen vermag, wenn ihn die Frage nach dem Sinn des Leides plagt, wenn er von Gott entfremdet ist.
Aber selbst hier: Gott ist da, wenn man nur auf die Stimmen hört, in einer Form, wie man sich IHN kaum vorzustellen traute, als eine Stimme, die den Menschen retten will. Es wäre Hohn, an dieser Stelle ein auf Demut und Ergeben in den Willen Gottes fußendes Vertrauen entgegenzuhalten. Eine solche Einstellung hätte diesen Menschen (seelisch) umgebracht, wenn er den Zweifel an dem Einen Gott nicht ausgesprochen hätte, und die Frage ist, wieviele Mensche eine solch undialogische Vorstellung von Gott das Leben raubt.
Gottes Liebe und Wirken ist größer und vielschichtiger, als wir es ermessen können.
Hier wird nur der Anfang des "Großen Gesangs vom ausgerotteten jüdischen Volk" behandelt. Der Rest sei jedoch jedem wärmstens empfohlen, weil erst hier der eigentliche Inhalt angesprochen wird.