Ich muss meinen Mitstreiterinnen von We Read Indie regelrecht dankbar sein. War mein Urteil bezüglich Erzählungen und Kurzgeschichten doch immer ganz klar: NEIN DANKE. Ich lese nur Romane. Nun dieser Schatz, der mich wirklich sehr bewegt und nachdenklich zurückgelassen hat. Karen Köhler mit ihrem Prosadebüt: „Wir haben Raketen geangelt“. Jede Erzählung auf ihre Art einzigartig.
Unkonventionell so manches Format, so manches Thema. Immer wiederkehrendes Motiv: das Abschiednehmen von geliebten Menschen. Schlusspunkte setzen. Sich auf Distanz begeben, um Nähe zu erfahren. Ein Erinnern, Rückblicken, Reflektieren.
Im Mittelpunkt stehen Verliebte, Verzweifelte, Suchende, Trauernde, Hoffende. Authentische Stimmen, die nach Liebe schreien, die nicht loslassen wollen, können.
„Zeit fließt nur in eine Richtung. Nur nach vorn. Nur in die Zukunft. Zeit strebt danach die Dinge von einer hohen energetischen Ordnung in einen möglichst niedrig aufgeladenen Zustand zu überführen. Zeit kann nicht in eine andere Richtung. Immer nur vorwärts. Ordnung zerstören. Bis irgendwann, eine Tages, auch der letzte Stern erst explodiert, dann erloschen sein wird und das Universum träge und tot zur Ruhe kommt. Das ist ein kosmisches Gesetz. So ist es auch mit uns. Während du mit verschränkten Armen und provokantem Blick versuchst, dich an dein Leben zu klammern, hat mich die Zeit schon in einen energetisch niedriger aufgeladenen Zustand befördert.“
Karen Köhler schafft es auf wenigen Seiten ganze Leben zu entfalten. Ihr Einstieg ist immer direkt, erst im zweiten Drittel der Geschichte erfährt man Näheres, Hintergründe und auch das nur angedeutet. Nie ganz ausgesprochen. Ihre Sprache ist virtuos, ungekünstelt und eindringlich. Sprachbilder, die nachhallen und im Gedächtnis bleiben:
„TAG ELF
(29. Oktober)
Meine Sinne sind klar wie ein Kristall. Ich höre die Blätter fallen. Ich höre die Rehe grasen. Heute waren es vier. Ich höre meine Haare wachsen und mein Blut in den Adern. Ich sehe gestochen scharf. Wieder milde Herbst-Pastell-Sonne. Das meiste Laub liegt nun unten, wie ein Goldteppich, den man zur Feier unter die Bäume gelegt hat. Drüber der prachtvolle blaue Himmel. Überall Farben. Alles strahlt. Was für ein Tag!“
Wer bis jetzt gezögert hat sich Erzählungen zu nähern, der sollte mit diesem Buch sein erstes Mal bestreiten. Ein Glückgriff, eine Entdeckung, eine literarische Überraschung!
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Karen Köhlers Universum ist so mitreißend, dass SchöneSeiten, Bibliophilin, Klappentexterin, Sophie, Mariki und ich uns zusammengetan haben, um mit unseren Raketen von Blog zu Blog zu fliegen und euch den eindrucksvollen Erzählband aus unterschiedlichen Perspektiven zu zeigen. Dazu haben wir uns etwas Besonderes ausgedacht. Was waren wir traurig, dass Karen Köhler »il Comandante« nicht beim Bachmannpreis vortragen konnte, ist diese Erzählung doch eine, die sich ins Herz brennt und geradezu prädestiniert ist, um die Kritiker vor Erstaunen von den Plätzen zu fegen! Deshalb bekommt »il Comandante« bei uns einen Ehrenplatz: Nacheinander werden wir je einen Abschnitt daraus veröffentlichen – er ist der Sternenschweif, der uns verbindet. Am Ende habt ihr nicht nur die komplette Erzählung, wir landen auch auf unserem Gemeinschaftsblog We read Indie. Dort empfangen wir euch zusammen mit der Autorin, die uns ein schönes Interview geschenkt hat. Die Raketen-Blogtour startete bereits am Montag und führte jeden Tag zu einer anderen Bloggerin. Folgt unserer Blogtour und lasst Euch genauso überraschen.
Teil 1 SchöneSeiten
Teil 2 Bibliophilin
Teil 3 Klappentexterin
Teil 4 Literaturen
Teil 5 Bücherwurmloch
Letzter Teil auf glasperlenspiel13
Krönender Abschluss morgen: Ein Interview mit Karen auf We Read Indie

Auszug: Samstag, der 2. Juni 2014
Bin früh aufgewacht. Habe mich gewaschen und das neue Kleid angezogen, noch bevor die Frühstückstabletts kamen. Habe die Perücke gekämmt, mir die Lippen rot angemalt und trage die Ballerinas an den Füßen. Das muss ich unbedingt dem Comandante zeigen. Ich ziehe an der Strippe, gehe zum Fahrstuhl, zwei Pfleger, die mich kennen, kommen mir entgegen und sagen WOW, ich lächle und fahre runter zur Station 12.
Ich öffne die Tür zu seinem Zimmer und setze ein strahlendes Lächeln auf, das sofort zusammenfällt, als ich sehe, dass da kein Bett mehr steht. Hab mich wohl in der Tür, nein hab ich nicht. Wo ist denn der Comandante hin? Telefon entriegeln. Code eingeben. Telefon. Kontakte. C wie Cesar. Anrufen. Geht nicht ran.
Ins Schwesternzimmer. Hallo, ich suche den Patienten von Zimmer 5. Komplikationen. Verlegt? Wohin? Intensivstation. Intensivstation, ja, 15A. Strippe ziehen. Türenschwenken. Fahrstuhl, verdammt, warum kommt den ausgerechnet jetzt keiner, Entschuldigung, können Sie mir bitte sagen, was mit Cesar ist, dem alten Mann mit den Neonsocken? Ob ich eine Verwandte sei, ja, nein, dann nicht. Aber er hat doch sonst niemanden, brülle ich. Das Herz hat nicht mehr mitgemacht. Was? Nein. Das kann nicht sein. Der kann doch nicht. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Gestern haben wir doch noch am See gesessen und Buena Vista Social Club aus seinem Telefon gehört. Tot, der Comandante? Nein. Niemals. Man bittet mich zu gehen. Blätter rauschen in meinem Kopf, ein ganzer Wald rauscht und Schlangen winden sich in meinem Hals.
Klackklack. Strippe. Tür. Fahrstuhl. Dingding. Nachricht von Tom: Wo bist du?
Tom und ich biegen um die Kurve. Er hält meine Hand. Keiner da. Das ist gut. Ich ziehe mir die Perücke vom Kopf, nehme gleich alle Steine aus der Schale, und befülle die Perücke damit, steige auf die runde Holzbühne, hocke mich vor den Altar und lege den Perückensteinbeutel vor mich hin. Nicht nur ein Stein, sondern ein ganzes Nest der Schwere. Hole mein Telefon raus und fotografiere das Nest mit einer Polaroid-App. Ich klicke: Nachrichten. Klicke: Cesar. Klicke auf das kleine Fotosymbol. Lade das Bild und schreibe: I even did my hair for you. I hope they serve Banana Split in heaven. Klicke: Senden. Mache dann Musik an. Interpret: Buena Vista Social Club. Volle Lautstärke Hasta Siempre Comandante. Für immer. Augen zu.
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Karen Köhler „Wir haben Raketen geangelt“
Hanser Verlag; München 2014
Mir geht es wie dir, ich bin eigentlich kein Fan von Erzählungen, weshalb ich vor der Lektüre etwas skeptisch war. Aber Karen Köhler schafft wirklich das, was wenige vor ihr geschafft haben: mich für die kurze Form zu begeistern, dafür zu sorgen, dass ich am Ende nicht ratlos dastehe und denke, hättest du mal doch lieber einen Roman gelesen. Allein deswegen ist der Autorin zu danken.
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Liebe Caterina,
schön, das wird noch nicht so verknöchert sind und uns auch mal überzeugen lassen. Es hat sich ja immerhin gelohnt! Nun können wir nur auf MEHR hoffen …
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