Geschrieben am 1. Mai 2020 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2020, Kolumne

Kolumne von Iris Boss #covid-19

Iris Boss © Birgitta Weizenegger

Hört auf, Krieg zu spielen!

Ab dieser Ausgabe schreibt sie bei uns regelmäßig. Wir freuen uns, die Schauspielerin Iris Boss als neue Kolumnistin begrüßen zu können. Ihre bisherigen CulturMag-Beiträge hier.

Auf meinen täglichen Spaziergängen durch Berlin fühle ich mich immer mehr an unsere Cuba-Reise vor drei Jahren erinnert. Daran ist nicht die wachsende Lebensfreude auf den Straßen, beziehungsweise den Balkonen schuld (die peinlichen Versuche, diese von Videos aus Italien zu kopieren, wurden ja zum Glück weitestgehend eingestellt). Auch kann ich kein erhöhtes Aufkommen von Oldtimern auf Berliner Straßen beobachten, und das Meer hat es, trotz Klimawandel, noch nicht an unsere Stadtgrenze geschafft. 

Was die Erinnerungen an dieses erstaunliche Land hervorruft, hat mit der Produktwerbung im Stadtbild zu tun, respektive mit ihrem Fehlen. Es hat damals etwas gedauert, bis ich festgestellt hatte, wie sehr das die Wahrnehmung meiner Umgebung beeinflusst; und nach meiner Rückkehr nach Deutschland haben mir die großen, bunten Plakate und die blinkenden Schilder, die ich davor nie bewusst wahrgenommen hatte, eine ganze Weile geradezu körperliche Schmerzen bereitet. 

In Cuba gibt es eben wenig, und von dem Wenigen, das es gibt, gibt es immer nur eine Sorte: Ein Waschmittel, ein Öl, eine Biermarke (zumindest für die einheimische Bevölkerung, aber das ist ein anderes Thema). Was sollte man da schon bewerben? Statt Kaufaufforderungen sieht man in Cuba viel Parteipropaganda. Von riesigen Häuserwänden und Plakaten bis zu handgemalten Flugblättern, überall liest man „VIVAN FIDEL Y RAÚL“, „HASTA LA VICTORIA SIEMPRE“ oder „TODO POR LA REVOLUCIÓN!“. 

Nun wurde bei uns schon nach zwei Wochen ohne Shopping-Malls, dafür mit leisen Überlegungen, ob es wirklich richtig war, unser Gesundheitssystem zu einer gewinnorientierten Gesundheitswirtschaft umzuwandeln, das Schreckensgespenst einer Europa-DDR heraufbeschworen, der Machtübernahme durch die Sozialisten oder Kommunisten („Was ist eigentlich der Unterschied? Egal! Von denen eben, die wollen, dass wir alle arm sind und uns in lange Schlangen einreihen müssen, um Klopapier zu kaufen.“). Was ich in den letzten Wochen tatsächlich beobachten konnte, war, dass die Plakatwände der Stadt sich verändert haben. Vieles, was dort sonst beworben wurde, wie Reisen und Veranstaltungen, ist im Moment nicht relevant. Und der ganze übrige Kram geht gerade nicht besonders gut. Zumindest Dinge, die so teuer sind, dass es sich lohnt, sie großflächig zu bewerben. Da hält sich der Konsument im Moment eher zurück und investiert in Trockenhefe. Daher werden sich wohl auch die großen Firmen die Ausgaben sparen, beziehungsweise auf später verschieben, wenn der Konsum-Zirkus wieder Fahrt aufgenommen hat. Dass die Werbeflächen deswegen aber keineswegs frei bleiben, ist mir erst letzte Woche aufgefallen. 

Angefangen hat es mit einem großen Schild auf dem Grünstreifen zwischen den zwei Fahrbahnen der Landsberger Allee. Dort wird sonst, im Wechsel mit Auto- oder Schlüpper-Werbung, die ungefähre Fahrzeit zum Alex oder der angemessene Abstand zu Fahrradfahrenden angezeigt. Jetzt ist dort zu lesen „Berlin kämpft gemeinsam gegen das Coronavirus!“. Zuerst habe ich das nur grammatikalisch hinterfragt. Ich bin zwar keine Deutschlehrerin, aber benötigt der Ausdruck „gemeinsam kämpfen“ nicht eigentlich mindestens zwei Subjekte, die das tun? „Lisa und Hans kämpfen gemeinsam.“ ist meiner Meinung nach ein korrekter Satz. „Lisa kämpft gemeinsam.“ eher nicht. Naja, „Das deutsche Volk kämpft gemeinsam“ würde grammatikalisch auch gehen, ich bin aber trotzdem froh, dass das nicht dort steht. 

Während ich mir noch Gedanken darüber machte, ob „Berlin kämpft gemeinsam.“ vielleicht umgangssprachlich durchgehen könnte und das im Sinne einer Volksnähe bewusst so gewählt wurde („Besser sie verdummen, als sie kapieren es nicht.“), wechselte das Schild schon zur nächsten Botschaft: „Mit dem Rad zur Arbeit schützt vor Infektion.“ Diesem Satz fehlt eventuell das Verb „fahren“, aber ich bin, wie gesagt, keine Deutschlehrerin. Inhaltlich ist er natürlich korrekt, aber ich frage mich, ob Menschen, die da nicht selbst darauf kommen, sich überhaupt am Straßenverkehr beteiligen sollten. 

Jetzt war meine Wahrnehmung geschärft, und ich sah mir auch die anderen Werbeflächen auf meinem Weg genauer an. Große Plakate der Apotheken sagen mir nicht nur, dass ich meine Hände waschen und dabei zweimal „Happy Birthday“ singen, sondern auch, dass ich öfter lächeln und hilfsbereit und lieb zu meinen Mitmenschen sein soll. Und spätestens da fing die Halsschlagader, die sich im Moment dank dem Ausbleiben von Touristenströmen und unverschämten Gagenangeboten eher ruhig verhält, an zu zucken. Ok, darauf, beim Händewaschen „Happy Birthday“ zu singen, bin ich bisher tatsächlich noch nicht gekommen. Hat mir aber auch nicht wirklich gefehlt. Alles andere ist entweder die Grundausstattung eines zivilisierten Erwachsenen oder geht die Apotheken nichts an. Was unterstellen die mir denn, zu sein? Noch schlimmer sind jedoch die Botschaften auf den kleinen Plakaten der „Kulturplakatierung“ (Warum stellen die ihre Flächen nicht kostenlos Kultureinrichtungen oder Künstlern zur Verfügung, anstatt Plakate mit einem solchen Schrunz zu drucken?). „Geht nicht gibt’s nicht“ oder „Das Geheimnis des Erfolgs ist es, nicht aufzugeben“, steht da in großen Lettern. Botschaften, an die wir uns schon so gewöhnt haben, die uns auf Kaffeetassen und Mousepads belehren, dass wir sie überhaupt nicht mehr als Propaganda erkennen. Doch genau das sind sie! Und nur, weil sie netter klingen als: „Halt die Fresse, arbeite und kauf die Scheiße, die du kaufen sollst, und wenn du dabei unglücklich bist, ist es deine Schuld, du Versager!“, sind sie nicht netter, nur hinterhältiger.

Wenn ein Außerirdischer in Berlin landen und sich anhand der Botschaften auf den Plakatwänden ein Bild über die momentane Lage machen müsste, würde er sehr wahrscheinlich von einem kurz bevorstehenden Weltuntergang, zumindest aber von einem Kriegszustand ausgehen. Überall wird der Zusammenhalt, die Solidarität, das positive Denken beschworen. Durchhalteparole an Durchhalteparole. Verdammt! Hört auf, Krieg zu spielen! Was tut ihr, wenn wirklich schlimme Dinge geschehen? Und die werden geschehen, wenn wir die Zeit nicht nutzen, um über Veränderungen nachzudenken und sie auch umzusetzen. Es sitzen keine Heckenschützen im Gebüsch, es gibt keinen Fliegeralarm. Wir haben sauberes Trinkwasser und Netflix. Die wenigen Lieferengpässe, die es tatsächlich gab, haben wir ausschließlich unserer Gier zu verdanken. 

Das Argument, dass das eine privilegierte Sicht sei, kann ich leider nicht gelten lassen. Den Menschen, denen es jetzt besonders schlecht geht, den Alleinerziehenden, prekär Beschäftigten, Kulturschaffenden, ging es auch schon vorher schlecht. Es hat nur keinen interessiert. Das einzige, was man ihnen genommen hat, ist – zumindest für eine gewisse Zeit – die Illusion, dass sie sich nur mehr anstrengen müssen, damit es ihnen besser geht. Wer also jetzt mit der Lage nicht klar kommt, kam schon vorher nicht damit klar. Das Besondere an der Situation ist, dass es im Moment ausnahmsweise salonfähig ist, sich darüber zu beklagen. Und damit will ich keineswegs die „Verlierer“ anprangern, sondern das System, das sie dazu macht. 

Wenn wir jetzt also einen Kriegszustand heraufbeschwören, wenn wir Solidarität, Hilfsbereitschaft und Zusammenhalt als Krisen-Kompetenzen statt als Grundvoraussetzung für eine zivilisierte Gesellschaft definieren, verpassen wir eine große Chance. Und wenn wir uns als die großen Durchhalter und Opfer einer furchtbaren Situation stilisieren, bzw. stilisieren lassen, entziehen wir uns der Verantwortung für die Gesellschaft, in der wir leben. Wir spielen Katastrophe und Krieg, weil die meisten von uns aufregende Dinge nur aus Hollywood kennen. Und wir tun das auf dem Rücken von Menschen, die tatsächlich in Krieg und Armut leben und die wir seit Jahrzehnten schamlos ausbeuten. Wir sind ein ganzes Leben lang nicht in der Lage, über das System, in dem wir leben, nachzudenken, weil es uns zu gut in Bewegung hält. Jetzt hätten wir die einmalige Gelegenheit, es zu tun und lassen sie vorüberziehen, indem wir den Ausnahmezustand grotesk zur Apokalypse verzerren und den einzigen Ausweg in der „Rückkehr zur Normalität“ sehen. Ohne ein einziges Mal darüber nachzudenken, wie normal diese Normalität denn eigentlich war. Plötzlich bin ich umgeben von Menschen, die „davor“ ein ausgefülltes, buntes Leben voller Partys, Freunde und Geld hatten. Das ist eine ähnliche Lüge wie die der verrückten, sexprallen, dauerfeiernden Jugend, in der man jede Nacht durchgemacht hat und dabei aussah wie ein junger Gott.

Den Preis für das mit Abstand widerlichste Plakat dieser Kategorie gewinnt übrigens der Klamottenfabrikant „Ralph Lauren“: „Together we stand with you, your loved ones and the global community. We are one family.“ steht da. Ich könnte kotzen! Was für eine verlogene Scheiße ist das denn? Und was für eine Frechheit! Wer sagt denn, dass ich mit dir „standen“ will, Ralph? Wie kannst du es wagen, mich ungefragt zu deiner Familie zu zählen? Ganz abgesehen davon, dass du mich gar nicht in deiner Familie haben möchtest, denn ich zähle nicht zu denen, die sich ein Kleid für 400 Euro leisten können. Also spar dir die Mühe und spende das Geld an die „global community“, die Flüchtlinge an der EU-Grenze zum Beispiel, oder ermögliche den armen Menschen, die dein Zeug zusammennähen, ein menschenwürdiges Leben. Das würde ich für den Anfang unter „We are one family“ verstehen.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich gehöre nicht zu der Fraktion „Die da oben wollen uns gängeln, einsperren und bevormunden.“ Ich tue das schon deshalb nicht, weil ich mich dann als „die da unten“ definieren würde. Aber auch, weil ich nicht an eine große Weltverschwörung irgendwelcher Eliten glaube. Die Angst vor dem „großen Plan“ wäre wahrscheinlich weitaus leichter zu händeln, als die Befürchtung, dass die Welt von einer ganz und gar planlosen Gier nach immer mehr und mehr regiert wird. Ich gehöre auch nicht zu denen, die die Maßnahmen der Regierung übertrieben finden. Das kann ich gar nicht beurteilen, denn ich bin keine Virologin. („Ich bin kein Virologe.“ ist irgendwie das neue „Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt!“ geworden – aber das nur nebenbei.). Ich glaube, dass es „die Politiker“ ganz unhollywood-mäßig eben einfach auch nicht wissen. Ich bin sogar erstaunt, wie lange bei uns Menschenleben über den Profit gestellt wurden und hoffe, dass das noch eine Weile so bleibt. Es ist eine Krisensituation, aber eben keine Kriegssituation. Es geht in meinen Augen nicht um ein Durchhalten sondern um ein Umdenken und eine einmalige Chance, gewisse Weichen neu zu stellen.

Iris Boss