Mute: Die ersten vierzig Jahre
Um die Bedeutung des Londoner Labels Mute zu begreifen, muss man nur auf die Rückseite des soeben bei Blumenbar erschienenen Buchs „Mute. Die Geschichte eines Labels“ schauen. Dort stehen prosaisch aufgelistet alle Bands und KünstlerInnen, die seit der Gründung vor gut vierzig Jahren bei Mute und seinen Sublabels wie novamute erschienen sind: Depeche Mode, DAF, New Order, Goldfrapp, Add N to (X), Diamanda Galas, Yazoo, Apparat, Laibach, Nitzer Ebb, Nick Cave, Fad Gadget, Erasure, Moby… die Finger werden schlapp beim Tippen, und es ist kaum übertrieben, Mute zu einem der wichtigsten Indielabel aller Zeiten zu erklären – wobei Mute längst nicht mehr „indie“ ist, seit 2012 gehört das Label zur BMG-Gruppe, davor schon zu Universal und EMI. Doch die Gründungsgeschichte, Künstlerauswahl und im Prinzip auch die Strukturen gehören zu einer DIY-Story par excellence:
Labelgründer Daniel Miller nahm 1978 mit einem Synthesizer Typ KORG 700S und einem Vierspur-Aufnahmegerät die Single „T.V.O.D. / Warm Leatherette“ auf und veröffentlichte sie unter dem Namen The Normal (Katalognr. MUTE1). Auf die Rückseite des Covers druckte er seine Privatadresse – und bekam hunderte Demoaufnahmen von Leuten geschickt, die wie er mit dem Synthie experimentierten. Miller war der Ansicht, dass elektronische Musik der wahre Punk sei: Auf der Gitarre müsse man wenigstens einen Akkord spielen können, beim Synthesizer nur einen Knopf drücken, „schon hat man einen interessanten Ton.“
Unter dem Namen Silicon Teens veröffentlichte Miller ebenfalls einige Singles, vorwiegend Coverversionen von Rock ’n’ Roll-Oldies im Synthie-Gewand – die Silicon Teens waren ebenso wenig eine „echte Band“ wie The Normal und stehen für die anarchischen Anfangstage Mutes, das sich in Windeseile zum Sammelbecken relevanter Elektro-Wave-Pop-Bands entwickelte. Das erste Mute-Album stammte übrigens von einer deutschen Band, nämlich DAF, deren zweite Platte „Die Kleinen und die Bösen“ (produziert von Conny Plank) zur Blaupause von EBM und Techno wurde. Die besondere Beziehung Mutes zu deutschen Künstlern und vieles, vieles mehr ist nachzulesen im bereits erwähnten, prächtig ausgestatteten Buch, das kein klassisches Historienwerk ist, sondern der Mute-Maxime folgt, dass die visuelle Gestaltung genauso wichtig ist wie das eigentliche Produkt. Das bedeutet: Großformatige Fotos, alle Plattencover, viele von namhaften Fotografen wie Anton Corbijn, Brian Griffin oder Peter Saville, die großen Anteil an Mutes Image haben.
Mit einem ausführlichen Vorwort von Daniel Miller, der diese Ausgabe kuratiert hat, dazu
Beiträge von u. a. Nick Cave, Vince Clarke, Anton Corbijn und vielen mehr; abgerundet durch unveröffentlichtes Material aus den Mute-Archiven, plus vollständigem Mute-Stammbaum und Diskographie.
Trikont: 50 Jahre Widerstand
Kurz nach seinem dicken Buch über Alfred Hilsbergs legendäre Plattenfirma ZickZack widmet sich Christof Meueler einem mindestens ebenso wichtigen deutschen Indie-Label: Trikont feierte heuer seinen sagenhaften 50. Geburtstag – sagenhaft deswegen, weil Labels abseits der Mainstream-Konzerne selten dieses Alter erleben, beziehungsweise gar nicht. Trikont nennt sich selbst „das wahrscheinlich älteste Indielabel der Welt“, und wahrscheinlich haben sie Recht. Und wenn nicht, wäre das auch egal, denn die Trikont-Story ist so oder so grandios: Entstanden 1967 als Revoluzzer-Buchverlag aus dem „Arbeitskreis Dritte Welt“ des SDS Köln – erste Veröffentlichung war die Mao-Bibel, die zweite Che Guevaras „Bolivianisches Tagebuch“. Der Name Trikont bezog sich auf die Trikontinentale Konferenz der Völker Afrikas, Asiens und Lateinamerikas (1966) und die italienische Zeitschrift Tricontinentale, womit der Bezugrahmen klar abgesteckt war.
Da die Münchner Studentenszene als wesentlich anarchistischer und radikaler galt, zog die junge Trikont-Mann- und Frauschaft (Achim Bergmann, Gisela Erler, Herbert Röttgen) anno ‚68 ebendort hin und erweiterte Stück für Stück ihr Verlagsprogramm mit Themen wie der damals sehr starken Frauenbewegung. 1972 erschien die erste Trikont-Platte „Wir befreien uns selbst“ – gesungen und eingespielt von den Trikont’lern, was zum DIY-Selbstverständnis gehörte, auch wenn man das damals noch nicht so nannte. Veröffentlichungen von Gastarbeiter-, Straßen- und Volksmusiken aus aller Welt (zuerst Vietnam, klar) folgten. Mit dem Einstieg der „Blatt“-Redakteurin Eva Mair-Holmes zog buchstäblich frischer Wind in die Trikont-Zentrale ein – bis heute leiten Mair-Holmes und Bergmann als so streitbares wie unermüdliches Powerpaar das Label, das für seine außergewöhnlichen, einzigartigen Themen-Compilations regelmäßig ausgezeichnet wird. Doch es sind nicht nur die Zusammenstellungen mit finnischem Tango, mexikanischem Mariachi oder Gefängnis-Blues, die Trikont ausmachen, auch hiesige KünstlerInnen finden beim Münchner Label ein Zuhause – Originalität ist entscheidend: Bernadette La Hengst, Rocko Schamoni, Eric Pfeil, Lydia Daher, Kofelgschroa, Funny van Dannen und natürlich Hans Söllner gehören zu denjenigen, die sich als Trikont-kompatibel erwiesen.
Christof Meueler und Musiker Franz Dobler erzählen die Trikont-Story ausführlich – und lassen die Beteiligten und Weggefährten zu Wort kommen. Natürlich finden sich alle KünstlerInnen und Veröffentlichungen in diesem „Ziegelstein“ (Zitat Verlag), der im Paket mit der Jubiläums-CD ein perfektes Weihnachtsgeschenk für Revolutionäre of all ages abgibt!
Christina Mohr
Daniel Miller & Terry Burrows: Mute. Die Geschichte eines Labels
(Übersetzt von Bernhard Schmid / Blumenbar bei Aufbau, Hardcover, 320 Seiten, ISBN 978-3-351-05044-3)
http://mute.com/
http://www.aufbau-verlag.de/index.php/mute-records-die-geschichte-eines-labels-4193.html
Video Fad Gadget, Collapsing New People:
https://www.youtube.com/watch?v=tLb9IvqxdH8
Christof Meueler & Franz Dobler: Die Trikont-Story. Musik, Krawall & andere schöne Künste
(Heyne Hardcore, Hardcover, 464 Seiten, ISBN 978-3-453-27135-7)
https://www.randomhouse.de/Buch/Die-Trikont-Story/Christof-Meueler/Heyne-Hardcore/e522217.rhd
Expose yourself to Trikont Vol. VI – 50 JAHRE TRIKONT – Der Jubiläums-Sampler
https://trikont.de/shop/compilations/labelsampler/expose-yourself-to-trikont-vol-vi-50-jahre-trikont-der-jubilaeums-sampler/
Video Universal Gonzalez, Wien: