Fangen wir im Kleinen an, also bei mir und dem Telefonat, das ich vor ein paar Wochen geführt habe: “Hakan”, hat der Mensch am anderen Ende der Leitung gesagt, “hast du die Datei wirklich gelöscht?” Ja, ich hatte, vor knapp einer Stunde. Mir blieb also keine Wahl als zu sagen: “Tut mir leid, ich bin ein Depp”.
Denn der Anrufer und ich, wir teilen einen Ordner auf Drive, dem Cloud-Speicherdienst von Google. Das heißt, er und ich können auf denselben Ordner zugreifen, von jeweils verschiedenen Laptops und Smartphones. Ändert er den Inhalt des Ordners auf seinem Laptop, kriege auch ich nur noch die neue Version angezeigt. Lösche ich eine Datei vom Smartphone aus, weil ich sie seit Monaten nicht angefasst habe, aber an der er gerade arbeitet, dann bin ich ein Depp und für ihn ist diese Datei ebenfalls unwiederbringlich gelöscht.
An diese Episode musste ich in der vergangenen Woche oft denken. Denn seit dieser Woche wird das so genannte Recht auf Vergessenwerden diskutiert. Im konkreten Fall geht es darum, dass Google Inhalte von bestimmten Personen nicht länger als Suchergebnis anzeigen darf.
Die Datenschutz-Grundverordnung, die seit zwei Jahren auf EU-Ebene ausgehandelt wird, geht ein paar Schritte weiter. Sie will eine aktive Löschung der Daten ermöglichen. Jeder Bürger soll selbst entscheiden können, was im Internet über ihn gespeichert ist. Zwar gibt es dieses Recht auch heute schon, aber in Form einer Richtlinie aus dem Jahr 1995. Sie erlaubt es, dass jede Nation das Recht individuell interpretieren kann. Faktisch führt das dazu, dass sich Unternehmen wie Facebook in europäischen Ländern ansiedeln, in denen es nur einen schwachen Datenschutz gibt – zum Beispiel Irland. Würde die Datenschutz-Grundverordnung umgesetzt, hieße das: Ein Europa, ein gemeinsames Recht, keine Schlupflöcher.
Das klingt gut, das klingt nach informationeller Selbstbestimmung in der Praxis. Kurz mit dem Finger geschnippt und schon spricht man in der Vergangenheitsform über seine Daten im Netz. Das klingt zu gut, um wahr zu sein - und genau das ist es auch.
Denn die Art, wie wir über Daten im Netz diskutieren, ist theoretischer Natur. Die Diskussion missachtet, wie das Netz in der Praxis aufgebaut ist und genutzt wird. Einfachste Entscheidungen werden zu Grundsätzen, die das Gesamtgebilde ins Wanken bringen. Die Antwort auf die Frage, wem die Daten gehören - einer Einzelperson, dem erweiterten Freundeskreis oder dem Unternehmen, das die Infrastruktur bereitstellt - ist nur schwer zu beantworten. An was man sich in dieser Diskussion erinnern sollte, ist ein Punkt: Das Netz vergisst bereits heute schon ständig - und das zum Nachteil aller. Scrollen Sie mal kurz, ganz kurz, hoch.
Eliot Higgins zum Beispiel vermisst ein paar Facebook-Seiten; die, in denen es um die Giftgas-Angriffe in Syrien geht. Im August 2013 kamen in der Region Ghuta, je nach Schätzung, zwischen 281 und 1729 Menschen ums Leben. Higgins verfolgt die Umwälzungen im arabischen Raum, er ist ein Experte, der sich sein umfangreiches Wissen selbst angeeignet hat. Wie werden Waffen gebaut? Wo sind die Brennpunkte in Syrien? Wie verifiziert man Informationen? All diese Fragen kann Higgins nun beantworten und zwar so gut, dass ihn die New York Times gleichermaßen feiert wie die britische Zeitung Guardian.
Anfang Februar twitterte Higgins, dass es ein Problem gebe: „Ich habe die Sarin-Attacke vom August überprüft. Facebook hat fast jede Seite, die darüber berichtet hat, gelöscht.“ In einem Blogbeitrag kommt er auf 78 Prozent. Higgins steht in Kontakt mit einigen Gruppen vor Ort, im Gespräch sagt er, dass diese Seiten von Gruppen betreut werden, die sich aufgrund der instabilen Lage nur unzureichend darum kümmern können: „Es gab so viele Informationen aus erster Hand, direkt aus dem Krisengebiet. Die sind jetzt komplett weg.“
Higgins folgt je 1000 Facebook-Seiten und Youtube-Kanälen, die von Menschen vor Ort genutzt werden, um Videos und Botschaften hochzuladen. Er sagt, dass noch kein Jahr vergangen sei seit den Attacken. „Die Menschen wollen auch in 30 Jahren über diese Attacken Bescheid wissen. Aber es gibt kein Archiv dafür.“ Im US-Magazin The Atlantic teilte Facebook mit, das als Plattform die Daten besitzt und gelöscht hat, der Syrien-Konflikt bringe das Unternehmen in eine schwierige Situation. Der Löschvorgang sei „nicht perfekt.“
Die Forschung bestätigt die Beobachtung von Higgins. Eine US-Studie zu dem Thema kommt zu dem Befund, dass binnen zwei Jahren mindestens ein Viertel aller Links zu Großereignissen ins Leere laufen (hier die PDF-Version.) Eine weitere Studie weist daraufhin, dass 49 Prozent aller Links, die in Urteilen des Obersten Verfassungsgerichts der Vereinigten Staaten auftauchen, ebenfalls kaputt sind. Das kann der Fall sein, weil Videos gelöscht werden oder aber Seiten ihren Betreiber. wechseln. Gerade für Gerichtsurteile seien diese Links aber essentiell, da diese zur Urteilsfindung relevant sind - deswegen tauchen sie ja im Urteil überhaupt erst auf.
Der Fachbegriff für dieses Phänomen heißt „link rot“, also Linksterben. Es ist ein Problem sowohl für die Geschichtsschreibung als auch für die Rechtsetzung. Die Fülle an Informationen müsste die Menschheit eigentlich in die komfortable Situation versetzen, auf so viele Datensätze wie nie zuvor zugreifen zu können - es passiert aber das genaue Gegenteil. Die Daten verschwinden, das Internet vergisst sich selbst.
Die Frage ist nun: Wie wird sich ein Recht auf Löschung, also ein Profilsterben, auf die Gesellschaft auswirken? Das banale Beispiel der von mir gelöschten Datei ist in Wahrheit viel tiefgreifender. Es ist ein Zeichen dafür, wie vernetzt die Daten heute schon sind. Benjamin Hill hat dieses Problem in einer Grafik auf seinem Blog dargestellt. „Google hat die meisten meiner E-Mails, weil es alle E-Mails von dir hat“ lautet der Beitrag und zu sehen ist, dass von den E-Mails, die Hill verschickt hat, 57 Prozent bei Google gelandet sind. Er selbst benutzt den Dienst nicht, aber eben genug andere Menschen.
Was passiert mit den E-Mails, wenn Hill ein Recht auf Löschung seines Profils hätte? Ist es dann die Pflicht von Google, durch alle E-Mails zu gehen, die auf diese Art bei Google gelandet sind und die Inhalte zu löschen? Falls ja, sollen die Empfänger der E-Mails weiterhin in der Lage sein, diese im Web lesen zu können oder werden die Nachrichten auch bei diesen gelöscht? Was ist mit Cloud-Diensten, die von Menschen genutzt werden, um Daten zu teilen, so wie ich? Dropbox nutzen 275 Millionen Menschen, die Cloud-Variante von Microsoft mehr als 250 Millionen, den Dienst von Google 120 Millionen. Wenn ich mein Profil lösche, sind dann alle diese Daten automatisch weg - für mich und für alle anderen auch. Das wäre in etwa so, als ob ich in das Haus eines Freundes gehen würde, um dort sein Fotoalbum zu zerreißen.
Google ist das größte Beispiel für Datensammelei, es ist aber bei Weitem nicht das einzige. Was passiert mit den Fotos, die ich auf Instagram poste? Sind das alles ausschließlich meine Bilder? Gehören sie nicht automatisch auch meinen Freunden, die zu sehen sind? Die vielleicht kein Foto gemacht haben, weil sie gesehen haben, dass ich eins mache? Die darauf vertraut haben, dass das Foto nicht gelöscht werden wird? Haben diese nicht auch ein Recht darauf, mitzusprechen? Darf ich alleine darüber entscheiden, welchen Teil ihrer Geschichte ich lösche? Was ist mit den Diensten, die wir gemeinsam nutzen?
Es sind Fragen, die es zu beantworten gilt. Als Gesellschaft ist es wichtig, einen Umgang damit zu finden, was mit den Daten passiert, die es von uns gibt. Es ist gut, dass wir darüber diskutieren. Eine Forderung, die im Wesentlichen eine Fingerschnipp-Lösung sein will, scheint jedoch von der Überzeugung auszugehen, dass man eine klare Linie zwischen on- und offline ziehen kann. Man tut in einem nächsten Schritt so, als ob Dinge, die online passieren, irrelevant sind für das Leben offline, also in der „realen Welt“. Das aber ist eine Fehlannahme. Ich habe das in der Sekunde gemerkt, als mein Telefon geklingelt hat.
Ein Projekt von Süddeutsche.de. (Funktioniert in den Browsern Safari, Chrome und Firefox) Storytelling und Text: Hakan Tanriverdi. Code: Christian Jung. Inspiriert von: Adam Westbrook.