„Schwimmen mit Elefanten“ von Yoko Ogawa

IMG_20130823_082644Ein Elefant, der auf einem Kaufhausdach lebt, ein Mädchen, das in einer Hausspalte spukt, und ein Junge, der beschließt, nicht mehr zu wachsen. In Schwimmen mit Elefanten entführt die japanische Schriftstellerin Yoko Ogawa in eine zauberhafte Welt voller kleiner Wunder und Kuriositäten.

Gibt es eigentlich in Fernost einen Kunstbegriff à la Magischer Realismus wie man ihn aus der südamerikanischen Erzähltradition kennt? Wobei es Magischer Realismus nicht ganz trifft. In der japanischen Literatur geht es weniger um die verschwimmenden Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, sondern das Fantastische ist schon immer in der Welt. Ohne viel Aufhebens, auf leisen Sohlen wie Holzsandalen auf Tatami-Matten. Und mit einer fast kindlichen Lust am Morbiden.

Es fängt damit an, dass die zwei einzigen Freunde des kleinen Romanhelden tot sind. Der Elefant Indira wurde einst auf die Terrasse eines Kaufhausgebäudes verfrachtet, um dort „die Herzen der Kinder zu erfreuen“. Irgendwann wurde Indira zu groß für den Fahrstuhl. Man kettet sie an einen Fußring und lässt sie den Rest ihrer Tage hoch oben in den Wolken. Heute erinnert nur noch eine kleine Hinweistafel an Indira. Doch in den Gedanken des Jungen, der bei jedem Kaufhausbesuch andächtig vor der Tafel steht, lebt die Elefantendame weiter.

Dann ist da noch seine Freundin Miira, was Mumie heißt: „In den schmalen Spalt zum Nachbarhaus passte gerade einmal eine Hand hinein. Tief darin herrschte eine schaurige Finsternis, und einer alten Legende zufolge soll einmal ein Mädchen in den Spalt geraten sein.“ Wenn sich der Junge in seinem Bett mit dem Gesicht zur Wand dreht, kann er mit Miira, dem Mädchen in dem Häuserspalt, kommunizieren. Ansonsten ist der Junge eher still. Bei der Geburt waren seine Ober- und Unterlippe zusammengewachsen, sodass der Arzt sie mit dem Skalpell trennen musste und aus einem Stück Haut aus der Wade des Jungen einen Mund formte. Doch: „Die neu geschaffenen Lippen waren für immer und ewig nur eine Imitation.“ Woran auch die Tatsache erinnert, dass sich auf den Wadenlippen ein zarter Haarflaum kräuselt, der sich später zum struppigen Dickicht auswächst.

Dann ist da noch der ertrunkene Busfahrer im Schulschwimmbad. Durch ihn schließt der Junge Freundschaft mit einem anderen Busfahrer, der durch seine Liebe für Buttercremetorte und Soufflès solche Dimensionen angenommen hat, dass er bald nicht mehr durch die Türen des ausrangierten Busses passt, in dem er wohnt. Er bringt dem Jungen das Schachspiel bei. „Es ist ein Abenteuer, bei dem man in ein aus 64 Feldern bestehendes Meer eintaucht“, erklärt er ihm. Am liebsten bleibt der Junge gleich am Grunde des Meeres. Denn er spielt seine Partien am virtuosesten, wenn er nicht vor, sondern unter dem Schachbrett sitzt. Er beschließt also nicht mehr zu wachsen, damit er unter den Tisch passt. Größerwerden hat noch keinem seiner Freunde Glück gebracht.

Nachdem Yoko Ogawa in „Das Geheimnis der Eulerschen Formel“ (2012) über die Poesie der Mathematik geschrieben hat, handelt „Schwimmen mit Elefanten“ nun von einer Abenteuerreise durch die Untiefen des Schachs. Dabei geht es weniger um die Erklärung komplizierter Regeln als darum, was die Spielweise des jeweiligen Menschen über seinen Charakter aussagt. Dem Jungen geht es nicht um Sieg oder Niederlage. Er spielt nicht gegen, sondern mit seinen Kontrahenten und „legte immer größten Wert auf die Harmonie, die sich in der Notation niederschlug.“ Seine Kunst perfektioniert er im Klub am Grunde des Meeres, einem exklusiven Geheimbund, der sich nachts in dem stillgelegten Schwimmbad eines Hotels trifft. Hier bedient er den Kleinen Aljechin, eine mechanische Schachpuppe, die dem Erscheinungsbild des russischen Großmeister Alexander Alexandrowitsch Aljechin nachempfunden ist. Nur dass der Junge eben nicht wie Aljechin  ein „Poet auf dem Schachbrett“ ist, sondern „unter dem Schachbrett“.

Ogawas Sätze fallen sachte wie Mandelbaumblüten auf die Buchseiten. Obwohl ihre Geschichte von Tod, Einsamkeit und tragischen Schicksalen durchzogen ist, verwässert jeglicher Schrecken in Anbetracht ihrer zarten Pastellsprache. Darin liegt ein durch und durch japanischer Gestus: zurückhaltend, demütig, puristisch, unergründlich, aber betörend schön in seiner Anmut und Besonderheit. Man weicht staunend vor Ehrfurcht zurück, nur fühlt man sich auch nicht wirklich dazu eingeladen, diese Distanz durch Nähe zu ersetzen. Das ist der Preis des Parabelhaften: Eine Geschichte deren Figuren beispielsweise keinen Namen tragen, bleiben Fremde. Und so bleibt man ein bisschen Tourist in dieser magischen, aus der Zeit gefallenen Märchenwelt.

Viele Japaner wiederrum lieben ja klassische Musik aus Europa, romantisch verklärt mit Streichern und Klavier. Mozart und Beethoven knick ich mir mal und empfehle stattdessen als musikalische Untermalung zur Ogawa-Lektüre die dänische Singer-Songwriterin Agnes Obel. Die junge Dame trumpft Ende September mit ihrem neuen Album „Aventine“ auf. „The Curse“ ist die erste Single-Auskopplung. Lyrischer Popsound, der wie Feenstaub durch die Luft schwebt.

12 Kommentare zu “„Schwimmen mit Elefanten“ von Yoko Ogawa

  1. Liebe Karo,

    ich danke dir für deine anregende Besprechung und den tollen Musiktipp. Von Ogawa steht hier noch „Das Geheimnis der Eulerschen Formel“, ein Buch, das ich möglichst bald lesen möchte. Die Stimmung des Romans, die ich aus deiner Besprechung herauszulesen meine, besitzt für mich beinahe schon etwas surrealistisches, das mich an die Bücher von Murakami denken lässt und in meinen Augen irgendwie etwas typisches ist für asiatische Literatur. Ich weiß nicht ganz genau, wie mir dieses märchenhafte gefällt – bisher habe ich noch nicht viele asiatische Bücher gelesen, die mir gefallen haben. Vielleicht bin ich zu sehr Realist, um mich auf diese abstrakte Welt einlassen zu können.

    Liebe Grüße
    Mara

    • Liebe Mara, ich habe die Eulersche Formel auch noch nicht gelesen, aber ich glaube, die Romane sind vom Stil sehr ähnlich. Surreal ist ein sehr gutes Wort dafür! Ich finde diese surrealen Momente passen sehr gut, wenn es um eine Märchengeschichte wie bei „Schwimmen mit Elefanten“ geht. Ansonsten kann es sehr schnell irritieren – da habe ich auch einen sehr westlichen Lesegeschmack 😉

  2. Ich habe noch nie das Buch einer japanischen Autorin oder eines Autors gelesen, fällt mir gerade auf. Wird wohl mal Zeit, das zu ändern… 😉
    Agnes Obel ist klasse!
    Topt aus meiner Sicht den zarten Mo jederzeit. Manchmal bin ich Kulturbanause und dazu stehe ich auch 😉

    • Ich glaube, dann wäre Haruki Murakami ein guter Einstieg, lieber Stefan! Es ist schon gewöhnungsbedürftig und gleichzeitig faszinierend, dass sich die fernöstliche Kultur so auffällig in der Literatur des Landes niederschlägt. Irgendwie natürlich auch logisch…
      Mo kenn ich nicht. Vielleicht bin ich auch Kulturbanause 😉

  3. Liebe Karo,
    würde ich Yoko Ogawa noch nicht kennen, dann würde ich es spätestens jetzt nach deiner Rezension nachholen wollen. Ich habe die Autorin erst kürzlich kennengelernt und bin so glücklich über diese literarische Begegnung. Neben den zauberhaften, surrealen Elementen schätze ich das Meer aus Herzenswärme, in das Ogawa ihre Leser taucht. Und diese unglaublich schöne Ruhe, die ihre Geschichten ausatmen, wie Feenstaub für die Seele. Dein beschriebenes Bild der Mandelbaumblüten ist großartig! Deine Musikempfehlung passt perfekt und lässt mich lächeln. Ich liebe Agnes Obel über alles. Hach schön, eine wundervolle Kombination!

    Glückliche Grüße,

    Klappentexterin

    • Liebe Klappentexterin, ich erinnere mich noch gut an deine spitzfindige Rezension „Wie √ zu meinem Freund wurde“ zu dem Vorgängerroman von Ogawa. Herrlich! Schön, dass ich dir jetzt auch ein Lächeln schenken konnte 😉 Lg, Karo

  4. Auch ich habe das Buch – nach „Das Geheimnis der Eulerschen Formel“ – nun gelesen und bin ebenfalls verzaubert. Yoko Ogawa ist für mich die Entdeckung des Jahres, und ich tauche wirklich gerne in ihre Geschichten ein.

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