A.
Ein Fisch ist nur so schnell, wie das Wasser sich hinter ihm schließt. Überspringen! Julie wollte unbedingt Fleisch essen, rotes Fleisch, wegen des darin enthaltenen Eisens, aber die Küche war am Nachmittag schon zu, und mit einem ironischen Kommentar zu den drei Frauen vor ihrem halb fertig gegessenen Steak-Frites verließen sie das Lokal wieder. Überspringen! Wörter wie Kanadabalsam, ganz angetan, Halbmann, die ihr durch den Kopf gingen, und auch andere, explizitere. Überspringen, ohlala! Die Reise nach Südvorderasien hatte ihr gut gefallen, das eine Land mehr als das andere, im einen Land sind die Leute eben viel freundlicher als im anderen, das spürt man, sagte sie, aber letztlich habe sie sich mit ihrer Begleiterin keinen einzigen Schritt aus den touristischen Pfaden herausgewagt. Auch überspringen! Wirkliche Begegnungen erlebt man nur, wenn man die Gondel knackt. Überspringen, überspringen, weiter! Aus Rücksicht vor ihrer Begleiterin hat sie die ganze Reise über nicht geraucht und sich unter dem Moskitonetz, wenn sie die Atemzüge ihrer Freundin hörte, höchstens ein, zwei Mal befriedigt. Überspringen, hallo, was ist den los?! Julie ließ sich vom Journalisten schließlich zu einer Brasserie überreden, aber dann schaute sie ihm nur stumm über ihren Orangensaft gebeugt zu, wie er mit weit aufgerissenen Augen sein Tartar verschlang und zwischendurch naive Fragen stellte. Überspringen, überspringen! Ihr Studio im Onzième habe sie ganz kühl angestarrt, als sie aufgeschlossen habe und eingetreten sei, der abgestandene Geruch, und weil sie am Morgen im Café noch einmal ihren Aufsatz durchgelesen habe und er ihr unter den Augen zu Krümeln zerfallen sei, habe sie zuerst feuchte Augen gekriegt, dann das Fenster aufgerissen, sich auf den Linoleumboden gesetzt und lange vor sich hingestarrt. Dann erst sei ihr aufgefallen, dass sie die Tür offen gelassen und jemand im dunklen Flur gestanden habe. Diesen hier vielleicht lassen?
29.07.2008 21:34:37
A propos de Julie
B.
Julie spinnt. (Ihr richtiger Name ist übrigens Alina.)
Elefanten springen meist weniger hoch als Fische, wenn sie springen.
Auf der Frauentoilette hat kurz vor dem Pott eine braune Wurst auf dem Boden gelegen. Die Pariser Schwimmbäder sind ein Greuel.
An die Schläge hatte sie sich irgendwie gewöhnt. Auf den Rücken, den Hals, die Brüste. Nur nie ins Gesicht; hätte er sie ins Gesicht geschlagen, sie hätte ihn umgebracht, das sagt sie ganz ruhig. Für sie war es leichter, sich von ihm zu trennen, seit sie wusste, dass er etwas mit der Anwältin hatte.
Die Anwältin war einmal ihre beste Freundin.
Auch in Second Life dringt allmählich das wirkliche Leben ein, das ist das Schreckliche, hatte ihr der Mittelstreckenläufer gesagt, und sie hatte nur stumm genickt.
Seit dem letzten Gespräch mit der Ärztin hat sie ihren Vegetarianismus, die Süppchen und Salate und einzelnen Früchte fallen gelassen, sie muss vor allem wieder zu Gewicht kommen. Die Umstellung auf wie sie sagt, richtiges Essen, klappt sogar, darauf ist sie nicht wenig stolz.
03.08.2008 21:18:55
A propos de Julie
C.
Habe ich schon erzählt, dass Julie einen Hund hat? Dass sie jeden Morgen mit ihm an irgendeinem Canal oder auch gar keinem Gewässer entlang spaziert, in traditioneller Pariser Art und sich nicht selten von jungen Männern mit retrohaften Mützen auf klapprigen Fahrrädern ansprechen lässt? Dass sie sich, während der Spaniel (épagneul) an den Bäumen schnuppert, auf eine Bank setzt und auf ihrem in den USA gekauften i-Phone Musikstücke shuffelt? Dass sie ihm die Pfoten abwischt, wenn sie in ihr Studio kommt, und ihn alle zwei Wochen in der Duschtasse abduscht? Dass er sie einmal gebissen, nachdem sie aber nach einem Chat mit einem Hundecoach im Internet begriffen hat, warum (er hatte ihr ein Bein ihres Mittagshähnchens geschnappt und durfte es auf dem höher als ihr Kopf gelegenen Sockel eines Denkmals hinunterwürgen – fühlte sich im putativen Rudel dem Frauchen überlegen), so etwas nie wieder getan hat, mit Erfolg? Dass sie nie mit anderen Hundehaltern spricht, sondern sich immer abwendet und wie gelangweilt vor sich hinstarrt? Dass sie nur Hunde mag, aber keine Hundehalter, und schon gar keine männlichen, zehn Jahre älteren als sie? Habe ich das nicht erzählt? Habe ich nicht, zum Glück nicht. Es stimmt auch nicht. Julie hat gar keinen Hund, obwohl sie schon mit dem Gedanken gespielt hat
03.08.2008 21:23:01
A propos de Julie
D.
Jetzt mal im Ernst: Sie wollte sich nicht verlieben. Hatte es sich aus dem Hirn geschlagen. Jedenfalls nachdem F. sie damals so sitzen gelassen hatte, und dann noch der ganze Nachklatsch.
Julie ist achtunddreißig und hat kein Problem damit. So aus dem trockenen Stand gefragt, könnte sie sich noch bis vierzig oder knapp darüber Kinder vorstellen, oder sagen wir, eins. Ja, das wäre schon was. Deshalb auch diese Überstürztheiten in den letzten Jahren und deshalb wiederum die Zurückhaltung: Tut verdammt weh jedes Mal. Und dieses Mal?
Eigentlich mit dem gesunden Menschenverstand nicht wirklich nachvollziehbar, warum es jetzt klappen sollte. Doch kein Wort über ihn, das bringt Unglück, oder frei gewalsert: Hievon später mehr.
Zum Schlussmachen ist dann noch immer Zeit; diese überkandidelten kinderlosen Mittvierzigerinnen findet sie so grauenvoll, dass sie, nein, niemals; nicht gerade Schlussmachen, aber schon so was Ähnliches, ja, eigentlich schon (das kalte Schuppenkleid in der Strömung über einem wedelnd).
Es darauf ankommen lassen.
07.08.2008 21:50:25
A propos de Julie
E.
Fischschuppen schützen; manchmal wünscht sich auch eine Julie solch ein Schuppenkleid, und sei es nur für einen Abend in dieser Stadt. Sie isst sorgfältig ihren Salat – eine anstrengende Sache –, zuerst die Oliven. In letzter Zeit wacht sie immer um halb fünf schon auf und kann nicht mehr einschlafen, manchmal auch schon um vier; der Kopf fängt an zu arbeiten, sagt sie, wie wenn der Laptop aus dem Ruhemodus aufwacht und der Ventilator anspringt. Julie verlangt bei der Bedienung noch ein Glas Rotwein. Eine Freundin von ihr ist kaum aus dem Haus zu schleifen, sie hingegen ständig auf Achse: In ihrem Studio könnte sie nur auf dem Bett sitzen, oder liegen, oder sich am Herd ein Brot streichen, oder am Fenster ein Buch lesen (stimmt, das kommt vor, aber immer denkt sie dabei an die Straße unten, wem sie da alles begegnen könnte, ja, wem wohl). Als abgeräumt wird, lächelt sie dem Kellner viel zu freundlich zu und bleibt noch eine ganze Weile so sitzen, bis sie sich umsetzen muss, weil der Lederbezug der Bank an ihren Oberschenkeln klebt. Bei erhöhten Blutfettwerten soll man viel Gemüse essen und sich viel bewegen. Julie sagt den Satz noch einmal vor sich hin: Bei erhöhten Blutfettwerten soll man viel Gemüse essen und Bewegung ist wichtig. Und leiser: Sex wäre wahrscheinlich auch nicht das Dümmste. Das aufschauende ältere Paar am Nebentisch ignoriert sie. Tja, wenn sie sich bei ihm bloß sicher sein könnte.
18.08.2008 14:00:25
A propos de Julie
F.
Was Julie alles weiß:
1. Im Grund möchten viele so leben wie sie, auf ihre weiblich-spontane Art; sie kann sich deshalb de juste mesure als Verkörperung eines Traums betrachten (jetzt einmal abgesehen davon, dass sie verdammt bien foutue ist).
2. Die etwas unschönen, am besten nicht mit zu viel Aufmerksamkeit bedachten Stellen ihres Körpers wie etwa die zu breiten Oberlippe (vor allem gegen die Mundwinkel hin) oder der etwas flache Übergang von Po zu Kreuz, müssten dabei von der projizierenden Mehrheit als Allzumenschlichkeiten akzeptiert werden, so wie sie sich das auch zu tun bemüht.
3. Die projizierende Mehrheit ist dumm. Darum ist ein bisschen Stolz nicht fehl am Platz, und auch ein ungezielter neckischer Blick quer über die Straße nicht.
4. Wenn sie beim nächsten Bewerbungsgespräch schon wieder mit den Füßen wippt, wird sie die Sache wieder nicht ernst nehmen und bald erneut im Internet Inserate scrollen. (Wurde schon gesagt, dass sie arbeitslose Theaterwissenschaftlerin ist?)
5. Die Nachricht des Langstreckenläufers, „Muss dich sofort sehen“, darf sie nicht ernst nehmen, sonst kommen wieder die unangenehmen Flimmerzustände, jetzt nur nichts durcheinanderbringen (siehe projizierende Mehrheit). Drum schnell löschen und weitergehen, immer schön den Schaufenstern entlang.
25.08.2008 17:07:06
Arno Calleja: A la bétonnière
„die wahrheit sagt das mädchen die wahrheit ist dass der kopf ein übel ist der kopf ist ein übel für das denken und umgekehrt ist die wahrheit dass der körper ein gut ist sagt das mädchen der körper ist ein gedankengut und drum ist es gut weit weg vom kopf und nahe beim körper zu denken sagt das mädchen denn das denken ist die zentrifugale innere bewegung des betonmischers und es ist gut weitab von der zentrifugalen kopfbewegung zu denken denn denken heisst den körper vom kopf entfernen und der gute denkabstand ist die entfernung sagt das mädchen und ich suche die absolute entfernung zwischen mir und mir sagt das mädchen denn der gute sprichabstand ist die trennung und drum darf man um kopflos zu sprichen gegenüber der wortspritze nicht in rückstand geraten die uns aus dem hals unserer flasche spritzt sagt der junge und um ohne gegenüber der spriche in rückstand zu geraten denken zu können muss man innerhalb der spritze sprichen ohne sich um das dabei herauskommende denken zu kümmern denn das dabei herauskommende denken ist ein spritzunfall und um ohne durch sein denken verwirrt zu werden sprichen zu können muss man all die klebe in seiner spriche weglassen die uns an den bindet der man ist und drum muss man um sich zu entbinden muss man verschwinden und ich verschwinde ein bisschen sagt der junge und die worte helfen mir zu verschwinden die worte schlagen eine bresche in mir die mir hilft in der luft zu verschwinden sagt der junge und im wasser und in den wänden und in den tropfen in den wassertropfen die von den wänden perlen zu denen ich werde in den worten die mich in anderen betonmischern voller wasser verschwinden lassen in dem ich mich nicht mehr spiegle und drum schwitzt mich das sprichen spricht’s mich löst mich auf und verdampft mich verdampft mir das fleisch und drum habe ich kein ich mehr im fleisch und kein fleisch mehr im kasten sondern nur tropfen ich hab nur schwitztropfen tropfen die den raum überschwemmen und der ganze raum schwimmt im getropfe und das licht nimmt zu und nichts spiegelt sich in den tropfen ausser das licht das bleibt denn das licht ist bilderlos und das ich fliesst ins bilderlose sagt der junge und das licht ist reines denken denn das licht kommt nicht vom himmel sondern das licht kommt direkt aus den gegenständen und die gegenstände kommen aus dem denken der menschen denn der mensch macht die gegenstände und der mensch macht keine bilder sondern nur gegenstandsdinger für die hände und drum ist das denken bilderlos sagt der junge und drum mache ich gestendinger ohne dabei die worte zu sagen sagt der junge aber ich komme allein mit den gesten nicht aus mir heraus denn der wortbetonmischer rührt mir in den eiern und das rühren hilft nicht den sand aus dem eiersack zu kriegen denn der betonmischer rührt im mark und bringt den sinn in den menschenbrei aber der betonmischer hilft nicht weiter und man kommt nicht aus sich heraus und drum komme ich nicht aus mir heraus sagt der junge und so bleibe ich so“
(Arno Calleja, Auszug aus: à la bétonnière, collection phacochères, le quartanier, Montréal, 2007, eigene Übersetzung.)
28.08.2008 15:16:10
A propos de Julie
G.
Hatte ihr nicht ihr Ex einmal an einem trüben Neonlichtküchenabend gestanden, dass ihm aufgefallen sei, wie schon seine letzte Freundin erstaunlich ungeschützt gewesen sei gegen Übergriffe z.B. seitens ihres Physios? Oder vielleicht war das auch in einem Resto gewesen. Was er damit sagen wolle, hatte sie ihn gefragt, auf das gekrümmte, grätenbesetzte Rückgrat ihrer truite au bleu starrend, die klebrigen Hautreste am Tellerrand. Eben, dass er sich plötzlich bewusst geworden sei, dass er ständig an Frauen gerate, die sich ausnutzen ließen, und mehr. Natürlich hatte sie am Tisch nichts darauf antworten können, nur stumm an einem Zitronenschnitz gelutscht. Erst in der Metro platzte es aus ihr heraus, auch wenn sie ihre Stimme dämpfte: Er finde es schrecklich, nichts gegen seinen sadistischen Hang tun zu können? Was denn mit ihr sei, bitte sehr. Er hatte sofort fallen lassen: Klar, für dich ist es am Schlimmsten, du bist dir deiner eigenen Prügelprovokation bewusst und kannst nichts dagegen tun. Natürlich sei es auch für ihn nicht angenehm, etwas zu machen, was er im tiefsten Innern gar nicht wolle. Aber das werde er jetzt nicht weiter vertiefen. Sie packte ihre Lederhandtasche und biss stumm aufheulend hinein; die anderen Fahrgäste schauten kaum auf. Genau, da hatte sie’s wieder: Sie war das Übel, das wusste sie auch insgeheim. Jedem möglichen und unmöglichen Partner ein Geschlagenseinwollen zu suggerieren, sodass dieser einer wissentlich darunter Leidenden bei ihrem Leiden auch noch zuschauen musste. Sie war eben une fille à coups sûrs (leider unübersetzbar).
23.09.2008 14:19:12
Geschäftsbericht
Dieses Jahr wieder ein, zwei Wahrheiten
in den Onlineschlagzeilen, die wir immer
schon wussten. Wie damals, die Erfindung des Gleitschirms.
Der erfolgreiche Paarmensch im Schlafzimmer
erwähnt nur das Positive, Betriebe überleben, wenn sie wachsen,
ein Organismus oft noch danach. Sind
die Grauwerte ausgelagert, werden Berichte zu einer notorisch
verspäteten Gattung. Worüber sollen wir noch reden?
Lacher wirken verdächtig. Das 21. Jahrhundert ist eben
gelandet, so früh hat es niemand erwartet. Jetzt stehen wir, stetig,
uns nur noch selbst im Weg. Der Rest ist Arithmetik.
Die Pessimismen von früher dürfen belächelt werden. Ein Tor ist,
wer seine Träume nicht umbenennt. Der Ton ist härter geworden zwischen
den Geschlechtern. Für Nostalgien habe er
keine Zeit mehr, meinte kürzlich ein Bekannter.
Gestern das Telefonat mit den Eltern: Sie mischen
noch mit. Eine Generation weit weg, und so viel Misstrauen schon.
Gesenkt werden konnten die Kosten für Kommunikation.