Andreas Louis Seyerlein

22.01 – In dem Moment, da ich beim Augenoptiker meinen Wunsch nach einer Lesebrille vorgetragen hatte, war ich etwas verlegen gewesen, als ob ich plötzlich uralt geworden sei und etwas an Bedeutung verloren hätte. Ich sagte nun zu dem Mann, der hinter dem Tresen stand: Hören Sie, ich brauche eigentlich noch keine Brille. Ich sehe, glaube ich, noch sehr gut nah und fern. Aber ich möchte gerne dieses Buch hier lesen. Ich legte John Dos Passos’ Roman Manhattan Transfer auf den Tresen ab, genauer gesagt, Dos Passos’ Roman in der deutschen Taschenbuchausgabe des Rowohltverlages, ein Buch, dem sofort anzusehen ist, dass man Papier sparen wollte, eine ehrenwerte Handlung, um Urwälder vor der Vernichtung zu bewahren, das ist denkbar. Man kann sich das so vorstellen: Die Zeichen, die im Körper des Buches zu finden sind, sind äußerst klein geraten, alle Zeilen liegen dicht zueinander und spannen sich tatsächlich fast vollständig vom linken bis zum rechten Rand der Seite. Es ist ein dicht bedrucktes Buch, eine beinahe dunkle Erscheinung. Können Sie mir eventuell mit einer passenden Brille weiterhelfen, fragte ich den Optiker vorsichtig. Wissen Sie, wie ich bereits erwähnte, ich brauche eigentlich noch keine Brille! Der Optiker nahm also das Buch in die Hand, wog es hin und her, öffnete es, warf einen kurzen Blick auf die erste Seite des Romans und lächelte, ich sollte ihm folgen. Im Magazin, – es war ein sehr großes, erhebliches, ja ein bedeutendes Warenlager -, führte er mich Schubladenwände entlang, die bis unter die Decke reichten, es roch sehr gut, etwas nach Alkohol und etwas nach feinen Motorölen. Nach einer Weile blieb er stehen und deutete auf eine der Schubladen. Dort stand, gleichwohl in sehr kleiner Schrift geschrieben: Dos Passos / Manhattan Transfer. Wie er nun die Schublade öffnete, lagen dicht an dicht einige sehr schöne Lesebrillen in verschiedenen Farben und Größen und Formen. Über Dos Passos‘ Brillenschublade war ein Fach mit der Beschriftung: Samuel Beckett / Gesammelte Romane zu erkennen. Gleich rechts davon lagerten Ulysses‘ Brillen. – stop

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24. November 2012 21:59










Andreas Louis Seyerlein

6.45 – In Tageslicht aus nächster Nähe beobachtet, handelt es sich bei jener Maschine, die gestern Abend bei leichtem Schneefall noch auf der 5th Avenue südwärts durch die Luft reiste, um eine Biene, die auch bei Nacht fliegen kann, weil ihre Augen so künstlich sind wie ihr gesamter Flugapparat, ihre Wirbelsäule, ihre Beine, ihre Fühler, alles das ist von äußerst leichtem Metall gewirkt, 528 Schräubchen halten das komplizierte Wesen zusammen, das niemals größer sein wird als ein wirkliches, ein aus organischen Einzelteilen hergestelltes Insekt. Genau genommen ist diese Biene ein sehr kleiner Hubschrauber, wendig, leise, ein Helikopter, der sich im Kostüm einer Biene befindet, ein spähendes Subjekt, eine Drohne, die man vielleicht einmal bewaffnen könnte, um sie einzusetzen für gute oder weniger gute Zwecke. Gestern Abend beobachtete ich nun mit höchstem Interesse wie man der kleinen Maschine kurz vor ihrem Start ein weiteres Gewand überstreifte, das an einen hellen Pelz erinnerte, so dass ich lachen musste, weil ich für einen Moment glaubte, man habe die äußere Beschaffenheit einer Biene mit der Idee eines Eisbären gekreuzt. Kaum aus dem Fenster des Erfinders geflogen, war die weißgefiederte Biene schon im dichten Schneetreiben verschwunden. Nun konnten wir glücklich durch die Augen der Unsichtbaren die Winterwelt betrachten, wir sahen uns selbst in einer Verfolgung und wir begegneten Menschen, riesenhaften Gesichtern, die feucht waren, Regenschirmen, dem Licht der Fußgängerampeln und Dampfwolken, die aus dem Boden pafften, als wären sie der Atem unsichtbarer, unter dem Asphalt verborgener Riesen. stop. Dämmerung. stop Es ist Freitag. – Guten Morgen! – stop

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9. November 2012 21:32










Andreas Louis Seyerlein

6.45 – Vor zwei oder drei Monaten habe ich eine Geschichte gelesen, von der ich mich sagen hörte, sie sei eine Geschichte, die ich nie wieder vergessen werde, die Geschichte selbst und auch nicht, dass sie existiert, dass sie sich tatsächlich ereignete, eine Geschichte, an die ich mich erinnern sollte selbst dann noch, wenn ich meinen Computer und seine Dateien, meine Notizbücher, meine Wohnung, meine Karteikarten bei einem Erdbeben verlieren würde, alle Verzeichnisse, die ich studieren könnte, um auf die Geschichte zu stoßen, wenn sie einmal nicht gegenwärtig sein würde. Diese Geschichte, ich erzähle eine sehr kurze Fassung, handelt von Giuseppi Logan, der in New York lebt. Er ist Jazzmusiker, ein Mann von dunkler Haut. Logan, so wird berichtet, atme Musik mit jeder Zelle seines Körpers in jeder Sekunde seines Lebens. In den 60er Jahren spielte er mit legendären Künstlern, nahm einige bedeutende Freejazzplatten auf, aber dann war die Stadt New York zu viel für ihn. Er nahm Drogen und war plötzlich verschwunden, manche seiner Freunde vermuteten, er sei gestorben, andere spekulierten, er könnte in einer psychiatrischen Anstalt vergessen worden sein. Ein Mann wie ein Blackout. Über 30 Jahre war Giuseppi Logan verschollen, als man ihn vor wenigen Jahren in einem New Yorker Park lebend entdeckte. Er existierte damals noch ohne Obdach, man erkannte ihn an seinem wilden Spiel auf einem zerbeultes Saxophon, einzigartige Geräusche. Freunde besorgten ihm eine Wohnung, eine Platte wurde aufgenommen, und so kann man ihn nun wieder spielen hören, live, weil man weiß, wo er sich befindet von Zeit zu Zeit, im Tompkins Square Park nämlich zu Manhattan. Es ist ein kleines Wunder, das mich sehr berührt. Ich will es unter der Wortboje Giuseppi Logan in ein Verzeichnis schreiben, das ich auswendig lernen werde, um alle die Geschichten wiederfinden zu können, die ich nicht vergessen will. – stop

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20. September 2012 18:24










Andreas Louis Seyerlein

2.25 – Gestern habe ich einen seltsamen Brief von einem Freund erhalten, der sich gerade in Indien befindet. Der Brief war von seiner äußeren Gestalt her ein Standardluftpostbrief, fühlte sich allerdings weich an, als würde ein dünnes Tuch in ihm enthalten sein. Er war zudem etwas schwerer als üblich. Als ich ihn öffnete fand ich ein handschriftliches Schreiben vor, eine Fotografie und einen weiteren Brief von kleinerem Format, mit einer Art Ventil in seiner Mitte. Mein Freund notierte am 25. Juni mit einem Bleistift: Lieber Louis, seit zwei Wochen befinde ich mich in Westbengalen nahe Sonada in einem kleinen Haus, das vollständig von Holz gemacht ist. Ich gehe hauptsächlich spazieren und wenn ich einmal nicht spazieren gehe, fahre ich mit dem Zug zwischen Jalpaiguri und Darjeeling hin und her. Eine wunderbare Zeit. Ich kenne inzwischen alle Zugführer persönlich und so darf ich bei Dampfbespannung vorne auf der Lokomotive reisen. Du siehst mich anbei auf der Fotografie vor dem Kessel stehen, ja, ich bin unter den drei kleinen Männern mit den Rußgesichtern der in der Mitte. Ich habe Dir, lieber Louis, etwas indische Eisenbahnluft eingefangen. Sie ruht in den Umschlag gefüllt, der vermutlich vor Dir auf dem Tisch liegt. Es wäre vielleicht am besten, wenn Du einen Strohhalm verwenden würdest, den Du mit dem Ventil verbindest, um dann einen tiefen Atemzug durch ein Nasenloch zu nehmen. Allerbeste Grüße Dein L. – Es ist jetzt 2 Uhr und 30 Minuten mitteleuropäischer Sommerszeit. John Coltrane LIVE: The Green Dolphin Street. – stop

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22. Juli 2012 21:18










Andreas Louis Seyerlein

6.52 – Vor einigen Tagen habe ich einen besonderen Kühlschrank in Empfang genommen, einen Behälter von enormer Größe. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass dieser Kühlschrank, in welchem ich plane im Sommer wie auch im Winter kostbare Eisbücher zu studieren, eigentlich ein Zimmer für sich darstellt, ein gekühltes Zimmer, das wiederum in einem hölzernen Zimmer sitzt, das sich selbst in einem größeren Stadthaus befindet. Nicht dass ich in der Lage wäre, in meinem Kühlschrankzimmer auf und ab zu gehen, aber es ist groß genug, um einen Stuhl in ihm unterzubringen und eine Lampe und ein kleines Regal, in dem ich je zwei oder drei meiner Eisbücher ausstellen werde. Dort, in nächster Nähe zu Stuhl und Regal, habe ich einen weiteren kleineren, äußerst kalten, einen sehr gut isolierten Kühlschrank aufgestellt, einen Kühlschrank im Kühlschrank sozusagen, der von einem Notstromaggregat mit Energie versorgt werden könnte, damit ich in den Momenten eines Stromausfalles ausreichend Zeit haben würde, jedes einzelne meiner Eisbücher in Sicherheit zu bringen. Es ist nämlich eine unerträgliche Vorstellung, jene Vorstellung warmer Luft, wie sie meine Bücher berührt, wie sie nach und nach vor meinen Augen zu schmelzen beginnen, all die zarten Seiten von Eis, ihre Zeichen, ihre Geschichten. Seit ich denken kann, wollt ich Eisbücher besitzen, Eisbücher lesen, schimmernde, kühle, uralte Bücher, die knistern, sobald sie aus ihrem Schneeschuber gleiten. Wie man sie für Sekunden liebevoll betrachtet, ihre polare Dichte bewundert, wie man sie dreht und wendet, wie man einen scheuen Blick auf die Texturen ihrer Gaszeichen wirft. Bald sitzt man in einer U-Bahn, den leise summenden Eisbuchreisekoffer auf dem Schoß, man sieht sich um, man bemerkt die begeisterten Blicke der Fahrgäste, wie sie flüstern: Seht, dort ist einer, der ein Eisbuch besitzt! Schaut, dieser glückliche Mensch, gleich wird er lesen in seinem Buch. Was dort wohl hineingeschrieben sein mag? Man sollte sich fürchten, man wird seinen Eisbuchreisekoffer vielleicht etwas fester umarmen und man wird mit einem wilden, mit einem entschlossenen Blick, ein gieriges Auge nach dem anderen gegen den Boden zwingen, solange man noch nicht angekommen ist in den frostigen Zimmern und Hallen der Eismagazine, wo man sich auf Eisstühlen vor Eistische setzen kann. Hier endlich ist Zeit, unterm Pelz wird nicht gefroren, hier sitzt man mit weiteren Eisbuchbesitzern vertraut. Man erzählt sich die neuesten arktischen Tiefseeisgeschichten, auch jene verlorenen Geschichten, die aus purer Unachtsamkeit im Laufe eines Tages, einer Woche zu Wasser geworden sind: Haben sie schon gehört? Nein! Haben sie nicht? Und doch ist keine Zeit für alle diese Dinge. Es ist immer die erste Seite, die zu öffnen man fürchtet, sie könnte zerbrechen. Aber dann kommt man schnell voran. Man liest von unerhörten Gestalten, und könnte doch niemals sagen, von wem nur diese feine Lufteisschrift erfunden worden ist. – stop

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28. Juni 2012 19:38










Andreas Louis Seyerlein

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0.22 – Kamele sind Tiere, die ich schon immer mochte. Sie erscheinen mir vertraut, als hätte ich einen Teil meines Lebens unter Kamelen zugebracht. Ihre großen Augen, die leicht aus dem Kopf hervorstehen, ihr samtig ledriger Mund, ihr Geruch, ihr warmer Bauch, das weiche dichte Fell. Ich erinnere mich, dass man mir vor langer Zeit einmal erzählte, ich sei während meiner Besuche mit meinem Vater im zoologischen Garten immer wieder gern bei den Kamelen gewesen. Auch soll mein Vater mich auf den Schultern getragen haben, während ich seinen großen Kopf mit meinen kleinen Armen umfasste. Merkwürdig ist, dass ich mich an keine Fotografie erinnere, die mich dort oben als einen stolzen Reiter zeigt, vermutlich deshalb, weil mein Vater vor Jahren der einzige Fotograf der Familie gewesen war. Es existieren überhaupt nur wenige frühe Bilder, die ihn und mich gemeinsam zeigen. Und so habe ich nun folgendes probiert. Ich habe eine Fotografie in meinem Kopf illuminiert, ein Dokument, das nie existierte und doch sehr wirklich werden könnte, wenn ich nur lange genug daran arbeite. Das Dokument ist eine schwarzweiß Aufnahme. Sie zeigt einen Mann in weiten dunklen Hosen mit hellem Hemd, das ist mein Vater. Auf seinen Schultern sitzt ein kleiner Junge, auch er trägt ein helles Hemd, Sandalen und kurze Lederhosen, das bin ich. Über uns verzweigt sich ein Ulmenbaum. Es ist ein mächtiger Baum. In seinem Schatten hinter einem Zaun stehen zwei Kamele, sie schauen uns an. Da ist noch ein Flamingovogel, hungrige Gestalt, der auf einem Bein mitten auf dem Spazierweg steht. Das sieht alles schon sehr gut aus, finde ich. Ich habe mir dieses Bild vorgestellt, bis ich es so genau vor mir sehen konnte, dass ich es auf einem vorgestellten Tisch drehen und wenden könnte. Mein Vater, den ich jetzt in dieser Weise sehen kann, war ein junger Mann, der lachte. Er zeigte in die Richtung der Kamele. Und auch ich zeigte mit einem Finger in die Richtung der Kamele und auch ich lachte. Es war Sommer. – stop

15.14 – Wie ein nahender Tod in den Bewegungen der Menschen auf Hospitalfluren, in Gesprächen, Nachrichten, Telefonaten, auch in den Blicken pflegender Schwestern und behandelnder Ärztinnen nach und nach erscheint. Das Licht des kommenden Endes wird sichtbar im Leiserwerden der Stimme des Sterbenden, ein Mund, der sich öffnet wie der Mund eines jungen Vogels, nach Luft suchend, nach etwas Wasser, Tee, Aprikose. Letzte zärtliche Berührungen, die Kühle der Glieder, wandernde Farben der Haut, liebevolle Sätze von Dank, Klagen, Weinen, Gebete. Ja, das Licht eines nahenden Todes erscheint nach und nach unaufhaltsam wie das Licht der Farben auf einer Polaroidfotografie erscheint. – stop

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12. Mai 2012 11:38










Andreas Louis Seyerlein

2.05 Hörte im Bildschirmgespräch Thomas Bernhard wieder sagen: Alles ist immer wirklich, es gibt nichts Erfundenes. Froh bin ich über diesen Satz. Nach Selbstbeobachtung scheint in meiner erzählenden Welt ein Zeitannäherungswerk zu existieren, das nach Entdeckung zunächst arbeiten muss im Kopf. Ich habe gestern zum Beispiel den Versuch eines Mannes notiert, eine Biene von Stein zu fabrizieren, ein soziales Wesen, das in der Lage sein sollte, sich in die Luft zu erheben. Diese Vorstellung war mir zunächst durchaus fremd gewesen, mein eigener Gedanke. Als ich dann nach zwei Stunden von einem Spaziergang an den Schreibtisch zurückkehrte, war mir der Mann und sein Unternehmen so vertraut geworden, als würde er in einer benachbarten Wohnung leben, ich würde ihn besucht haben und über die Schulter geschaut wie er etwas Felsspat mit einem Meißelchen behutsam fächert, dass es als Flügelteilchen bald einmal durch die Luft segeln könnte. Es scheint vielleicht so zu sein, dass sich meine Wirklichkeit zunächst mittels einer Wortzunge vorsichtig in unbekannte Räume tastet. – stop 4 Uhr und 12 Minuten in Homs, Syria. stop

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26. März 2012 05:32










Andreas Louis Seyerlein

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0.08 – 0.08 – Eine kleine Geschichte habe ich rasch noch zu erzählen. Sie verfügt über kaum Handlung, eine Geschichte, die sich im Grunde Tag für Tag auf einem Fährschiff der Staten Island Fährenflotte wiederholen könnte. Auf diesem Schiff, das den Namen John F. Kennedys trägt, befindet sich in der Mitte des Bridgedecks hinter einem Tresen ein kleines Ladengeschäft, das der Versorgung der Reisenden dient, ein Ort, der leuchtet und blinkt, ein Ort, der nach Popcorn duftet, nach Kaffee, nach gebratenem Schinken und nach weiteren Substanzen, die ich bislang nicht identifizieren konnte. Obst, Schokolade, Cookies, Bonbons, auch Straßenpläne Manhattans, Feuerzeuge, Coca Cola, Zuckerwasser in verschiedensten Farben, Nüsse, geröstete Mandeln, was ich wähle, was ich wünsche bekomme ich von einem Mann ausgehändigt, der seiner Erscheinung nach in Mexico oder Nicaragua geboren worden sein könnte. Sein stoischer Ausdruck ist mir sofort aufgefallen, lange Zeit habe ich ihn beobachtet, dieses Gesicht, das wirkte, als würde es eine aus Tropenholz geschnitzte, eine auf das Sorgfältigste bemalte Maske tragen, darin Augen, dunkle, schimmernde Knöpfe. Die Stimme des Mannes, die sich dort irgendwo befinden muss, habe ich bisher nie gehört. Und ich habe nie gesehen, dass er sich von seinem Platz fortbewegte, er steht senkrecht hinter seiner Ware, ein Monument, das über sehr schnelle, sehr lange Arme verfügt, ja, es sind die Arme, das einzige was sich an diesem Mann bewegt sind seine Arme, diese Arme sind Handlung, sie sind eine Geschichte, sie sind erstaunlich, weil sie in der Geschwindigkeit der Chamäleonzungen nach Waren greifen. Einmal habe ich einen der Fotoapparat gekauft, die der Mann in seinem Sortiment für Touristen bereithält. Der Apparat kostete sechs Dollar und der Film 8 Dollar. Das ist ein wirklich altmodischer Film, einer, den man, um seine Bilder betrachten zu können, entwickeln muss. Ich habe den Mann nun mit genau diesem Fotoapparat fotografiert. Ich glaube, der Mann freute sich über meine Geste. Er schien unter der Maske seines Gesichtes zu lächeln. Vielleicht ahnte er zu diesem Zeitpunkt, dass ich einmal nachsehen werde, ob er lächelte, ein Geschenk für die Zukunft. Ende der Geschichte. – stop

20.25 – Es ist jedes Mal ein aufregender Moment, wenn sich die Kabine des Aufzuges vom 22. Stockwerk aus nach unten zu bewegen beginnt. Ich werde etwas größer für ein oder zwei Sekunden, ich kann das im Spiegel, der die Rückwand meines Reisebehälters vollständig bedeckt, genau erkennen, ich werde etwas größer, oder ich verliere den Boden unter den Füßen, es ist ein wirklicher Moment des Fallens, ein Raum der Zeit, der bereits vorüber ist, ehe man ihn mit Wortbedeutung ausgesprochen haben mag: Sekunde. Aber dann steh ich schon wieder fest auf dem Boden, bin so groß wie zuvor, ein Irrtum natürlich, nicht die Größe, aber dass ich sicheren Boden unter meinen Schuhen haben würde, weil ich doch abwärts rase, was ich am wandernden Licht der Zahlenreihe, die sich neben der Kabinentüre befindet, erkenne. Außerdem knistern meine Ohren und ich habe den Eindruck, dass auch mit meinen Augen etwas anders geworden sein könnte, ein Drama vielleicht, das sich hier gerade zu entfalten beginnt. Vor vier Wochen noch hatte ich einmal im Aufzug einen Spaziergang unternommen, rasch, wie ein Tier in seinem Käfig hin und her, ich wollte mich sehen, wie ich im Fallen zu gehen vermag, ein lustiger Anblick, nehme ich an, weil ich kurz darauf den Eindruck hatte, der kleine Wächter im Foyer habe ein ironisches Lächeln im Gesicht getragen, vielleicht weil er mich beobachtet hatte mittels einer Kamera, die sich in einer der oberen Winkel der Kabine befindet. Seltsam ist, man wird scheinbar nicht kleiner, wenn man das Erdgeschoss erreicht, obwohl man doch sehr schnell langsamer wird, gestaucht, meine ich, gepresst und diese Dinge. Ich habe weiterhin beobachtet, dass ich, indem ich den Aufzug verlasse, je eine leichte Linkskurve nehme, die so nicht geplant ist. Meine Schneckengänge, meine Labyrinthe im Kopf, daran könnte es liegen. – stop

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22. Februar 2012 17:58










Andreas Louis Seyerlein

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15.01 – Ich hatte unlängst eine Spule digitaler Speicherscheiben von einem Zimmer in ein anderes Zimmer getragen. Wie ich über eine Türschwelle trete, wurde mir bewusst, dass ich in meinen Händen 500 Filme transportierte oder 750 Stunden Zeit, die vergehen würde, wenn ich jeden dieser Filme einmal betrachten sollte. Ich setzte mich auf mein Sofa und legte eine der Scheiben in meinen Computer. Kaum 2 Minuten waren vergangen, und schon hatte ich 5 Filme, die auf dem Datenträger seit Jahren gespeichert waren, von ihrem ursprünglich Ort in einen Kasten von der Größe einer Zigarrenschachtel transportiert. Mein Computer arbeitete indessen so leise, dass ich mein Ohr an sein Gehäuse legen musste, um gerade noch seinen Atem vernehmen zu können. Zwei Stunden atmete mein Computer, in dem er alle Filme der Spule, Scheibe um Scheibe, in den kleinen Kasten, der neben ihm auf dem Sofa ruhte, transferierte. Dann holte ich eine weitere Spule und setzte meine Arbeit fort, bis auch diese Spule und ihre Filme in das Kästchen übertragen waren, Spule um Spule, eine Nacht entlang. Nun ist das so, dass sich in meinem neuen Filmmagazin ungefähr 3000 Filme befinden, ohne dass das Datenkästchen größer oder schwerer geworden wäre. Ich glaube, ich habe etwas Welt verdichtet, einen Raum gespeicherter Filmbetrachtungszeit verkleinert, eine Möglichkeit der Zeit, die sich selbst nicht verändert haben sollte. – stop

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2. Januar 2012 01:03










Andreas Louis Seyerlein

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12.58 – Nehmen wir einmal an, eine noch nie zuvor gehörte Sprache wäre während der Nacht während ich schlief wie Regen vom Himmel gefallen und hätte sich in meinem Gehirn versammelt, in dem sie alle dort gestern noch vorhandenen Wörter und Wendungen ersetzte. Und wie ich nun erwache, sehe ich einen Lampignon, eine Lampe, aber ich denke ein Wort, das ich nicht kenne. Und so wundere ich mich, und auch das Wundern selbst wird mit seltsamen Geräuschen bezeichnet. Da ist ein Kühlschrank, und da sind eine Computermaschine und ein Telefon, je Erscheinungen ohne Wort. Ich kann sie sehen, ich kann sie berühren, aber nicht bezeichnen. Dagegen finde ich Wörter für meine Augen und meine Nase und meinen Mund. In dieser ersten Stunde des Tages mit neuer Sprache vermag ich nur zu deuten, ich kenne weder meinen Namen, noch könnte ich mich vor dem Staunen mit einem Gedanken von Länge behaupten. Ja, nehmen wir das einmal an, merkwürdige Sache.

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23. November 2011 08:24










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