Christian Lorenz Müller

EIN SCHREIBKRISEN-GESPRÄCH

Zantner: Mit meinem neuen Roman komme ich gut voran. Die beiden Kunsthistoriker kurven mit der gestohlenen Statue im Kofferraum durch Norditalien. Einmal übernachten sie unter freiem Himmel. Sie können erst einschlafen, als sie die Madonna vor ihr Zelt stellen.

Abel: Das hört sich regelrecht nach Urlaub an. Ich arbeite immer noch an diesem Gedichtzyklus – das heißt, im Moment arbeite ich nicht. Ich kann nicht arbeiten. Die Wörter zerfallen mir zu Silben, zu Buchstaben, und ich weiß nicht mehr, wie ich sie verwenden soll.

Zantner: Das wird schon wieder. Nach ein, zwei Wochen kommt man wieder in Schwung, zum Beispiel, wenn man neue Ideen hat. Meine Protagonisten transportieren die Madonna zuerst im Kofferraum. Dann liegt sie auf der Rückbank, und schließlich steht sie stundenweise aufrecht und angeschnallt auf dem Beifahrersitz und sie fragen sich scherzend, wann sie das Steuer übernehmen wird.

Abel: Ich komme mir seit Monaten vor wie ein Schreinerlehrling, der das erste Mal in eine Werkstatt betritt. Er sieht die Werkstoffe und das Werkzeug, aber er hat noch keine spezifische Bezeichnung dafür. Er sagt nicht: Vollholz, Dreischichtplatte, Pressspan, Sperrholz, Furnier. Und ich sage nicht: Hauptwörter, Verben, Adjektive, Präpositionen. Ich sehe nur die Sprache und komme mir anfängerhaft und linkisch vor.

Zantner: Ach Gott, das Leiden an der Sprache! Kokettieren Sie nicht ein bisschen damit?

Abel: Haben Sie schon einmal einen Schreinerlehrling erlebt, der eitel herausstellt, dass er ein Eichen- nicht von einem Buchenbrett unterscheiden kann?

Zantner: Ich hatte eigentlich geplant, dass die beiden Kunsthistoriker eine Giacometti-Statue klauen. Sie kennen bestimmt diese anorektisch-langen Figuren. Sie sind ganz unverwechselbar. Trotzdem hat der Roman damit nicht funktioniert. Ich wusste nicht warum, ich habe wochenlang überlegt, woran es liegen könnte.

Abel: Und als Sie draufgekommen sind, ist die Krise vorbeigewesen?

Zantner: Genau! Die Giacometti-Statue war zu abstrakt für meine Geschichte. Die Marienfigur hingegen ist über die Jahrhunderte kulturhistorisch aufgeladen worden und löst auch bei Leuten, die eigentlich nicht religiös sind oder keinen Bezug zur bildenden Kunst haben, Emotionen aus.

Abel: Schreinerlehrlinge brauchen zwei, drei Jahre, bis sie sich mit Material und Werkzeug vertraut gemacht haben. Wenn sie ihre Lehrabschlussprüfung gemacht haben, dürfen Sie sich Gesellen nennen. Meister sind sie noch lange nicht.

Zantner: Ende August gebe ich mein Romanmanuskript ab. Dann mache ich erst mal Urlaub. Ich schaue mir die Gegend, durch die meine Helden mit der Madonna gereist sind, noch mal in aller Ruhe an. Wollen Sie mitkommen? Wir könnten uns zwei schöne Wochen machen.

Abel: Danke für das Angebot. Ist ihre Madonna eigentlich aus Holz oder ist sie aus Stein?

Zantner: Aus Holz. Birnbaumholz, um genau zu sein. Geschlagen um 1530 in der Nähe von Perugia.

Abel: Birnbaumholz. Ein schönes Wort. Damit könnte man etwas anfangen.

Zantner: Na sehen Sie. Es wird schon besser. Bald werden Sie das Eichen- wieder vom Buchenbrett unterscheiden können. Kommen Sie mit nach Italien. Das wir Ihnen sicherlich guttun.

 

18. April 2019 08:35










Christian Lorenz Müller

AUS DEM POETISCHEN BESTIMMUNGSBUCH (FRÜHLING)

Der Ringlottenbaum:
Besen, der das Wolkenweiß
aus dem Himmel kehrt.

Der große Birnbaum
steht als Blizzard im Garten.
Schneeduftende Luft.

Die Zierkirsche stellt
sich aus. Sie lockt die Blicke
ins Billigrosa.

Die Magnolien-
blüten: Nester für das Licht.
Spatzen zwitschern hell.

Die Spalierbirne
tüncht die graue Mauer ganz
plötzlich duftend weiß.

3. April 2019 08:39










Christian Lorenz Müller

BEIM RENOVIEREN EINER GARTENPUMPE

Zieht mehrere tausend Mal
pro Jahr die Schulter nach oben
und lässt sie wieder sinken.
Schon die Kinder greifen gerne
nach ihrem Arm,
nach der gusseisernen Beständigkeit,
mit der sie ihn winters wie sommers
von sich streckt.

Sie braucht nicht mehr
als alle zehn Jahre ein wenig Lack
und eine neue Lederdichtung.

Eine immerzu ächzende und quietschende
Form von bescheidener Vollkommenheit,
die stets zuverlässig ihr Wasser
in die Kübel, die Kannen gießt.

21. März 2019 12:10










Christian Lorenz Müller

ROMANTIK IM ZEITGENÖSSISCHEN GEDICHT

Der kahle Baum vor dem Display,
vor der Fensterscheibe:
Unverwechselbarer Fingerabdruck
einer Linde.
Ein Gedicht öffnet sich
während der Zug anfährt,
die Landschaft zu wischen beginnt.
Dunkelnde App
eines Dezemberabends,
das Blinken des Bildschirms
oder das von Straßenlaternen,
dann das Google-Weiß einer Wiese
auf der noch Schnee liegt.
Kurz der Wunsch
etwas auf den Eingabebalken
eines Feldwegs zu schreiben, vielleicht
„Romantik im zeitgenössischen Gedicht“,
bevor ein Regenschauer
das Display spidert,
bevor es schwarz wird
weil der Zug
im Waldesdunkel stehenbleibt.

6. Februar 2019 18:07










Christian Lorenz Müller

SCHOLLEN (GEDICHTE AUS DEM GEMEINSCHAFTSGARTEN II)

Die Beete schieben sich
wie weiße Schollen gegen den Zaun.
Schneedruck lässt die Spanten
der Gartenhütte knacksen.
Kieloben treibt sie
als verlassenes Schiff
durch den Abenddämmer.
Weiß verwehte Bullaugen
aus Eis in den Regentonnen.

Eine lebensfeindliche Umwelt
für Erwachsene. Die Kinder hingegen
verschwinden in Schneelöchern,
tauchen hinab
zu den üppigen Fischgründen
ihrer Phantasie
oder suhlen sich voller Lust
auf den kalten Schollen.

Im dichter fallenden Weiß
schimmern die nahen Straßenlaternen
polarlichthaft. So driftet der Garten
dem nächsten Tauwetter zu.

14. Januar 2019 12:12










Christian Lorenz Müller

WINTERGEWITTER

Das Eichhörnchen blitzt
schwarz im Schnee. Dann der Donner
der Räumfahrzeuge.

4. Januar 2019 16:12










Christian Lorenz Müller

UND ES BEGAB SICH ABER ZU DEM BAUMARKT

Dies ist die Zeit, in der auf dem Parkplatz
des Baumarkts Wälder wachsen,
in der sich der Leiter der Gartenabteilung
zu einem mürrischen Engel verwandelt.
Die Glut seiner Zigarette zieht als Stern
durch dämmrige Stunden.
Ein Rom treibt einen abspenstigen Einkaufswagen
zurück zu seiner Herde,
kettet ihn gegen fünfzig Cent
in den Stall, und natürlich
fängt es an zu schneien,
die Flocken nässen
einen abgestellten Kinderwagen.

Gleich hinter der Eingangstür
plärrt der Säugling,
seine erschöpften Eltern
tragen ihn durch Kerzen, Lichterketten,
durch goldenes Gekugel im Sonderangebot
und zwei Sorten Räucherwerk
in der praktischen Plastikdose.

Wer auch immer hier
auf Herbergssuche ist
geht in die Baustoff-, die Holzabteilung
und zimmert sich sein Obdach selbst.

21. Dezember 2018 09:49










Christian Lorenz Müller

DER ERSTE REISENDE DOWAYO* AN SEINEN STAMM:

Ihr Dowayos!

Die Weißen sind seltsam. Ich habe euch ja schon oft von ihren riesenhaften Steinhäusern erzählt, die voller großer Kisten und rätselhafter Gerätschaften sind. Ein einziger Raum in diesen Häusern ist so groß wie eine ganze Hütte in Dowayoland, und dieser Raum wird immer nur von einem einzigen Menschen bewohnt und niemals von Mann und Frau, Kindern, Kindeskindern, Cousins, Cousinen, Onkeln und Tanten wie bei  uns.

Nun aber, da es kalt zu werden beginnt, geschieht etwas Merkwürdiges: Die Weißen bauen sich Hütten aus Holz, Hütten, neben denen sich selbst die Lehmbehausungen von uns Dowayos stattlich ausnehmen. Die Hütten werden mitten zwischen die allergrößten Steinhäuser gestellt und sofort bezogen. Ganz anders als die Steinhäuser, an denen ich kaum einmal einen Schutzzauber gesehen habe, werden diese Hütten mit Unmengen von seltsamen Fetischen und Amuletten behängt: Mit hölzernen Figürchen in kuttigen Kleidern, die allesamt Flügel haben; mit stacheligen Kränzen, auf denen Kerzen brennen; mit Sternen aus Stroh und bunten Kugeln, in denen man sein Gesicht erkennen kann. Diese Schutzzauber müssen sehr stark sein, denn die Weißen kommen in Massen, um sie zu kaufen.

Das Erstaunlichste aber, ihr Dowayos, ist, dass ausnahmslos alle Weißen, die es zwischen die Hütten zieht, einen magischen Trank zu sich nehmen. Er wird in großen Kesseln angerührt und erhitzt und schmeckt genauso ekelhaft wie das Gebräu, das uns unsere Dowayozauberer verabreichen. Die Weißen schlürfen ihn mit großer Gier, damit sie ihren Göttern näher kommen. Denn nicht wenige beginnen nach zwei oder drei Tassen klagende Weisen zu singen, Weisen, die sich ganz anders anhören als alles, was ich bisher an Musik im Land der Weißen gehört habe.

Ihr Dowayos, die Weißen sind wunderlich! Ein ganzes Jahr lang tun sie so, als gäbe es keine Magie und keinen Zauber, als wären ihnen ihre Götter völlig egal. Und dann plötzlich spüren sie ihre Seelen, bauen Hütten aus Holz und brauen magische Tränke.

Vielleicht sind sie uns doch viel ähnlicher, als ich es bisher geglaubt habe.

* Der Stamm der Dowayos lebt im Süden Kameruns in unzugänglichem Bergland. Kontakte zur „weißen Zivilisation“ sind selten. Erstmals näher beschrieben wurden die Dowayos von dem britischen Ethnologen Nigel Barley, der mehrere Jahre unter ihnen lebte. (Nigel Barley: „Traumatische Tropen. Notizen aus meiner Lehmhütte“. Erhältlich als dtv-Taschenbuch.)

5. Dezember 2018 11:00










Christian Lorenz Müller

INDIANISCHER KLAGEGESANG AUF EIN GEKLAUTES FAHRRAD

Wirf den dreisten Räuber ab,
wirf ihn ab und komm zu mir zurück.
Dann striegle ich mit dem Poliertuch
Glanz in deinen blauen Lack,
dann fliegt die wilde Mähne Freiheit
mir wieder ins Gesicht.

Die Sonne schnaubte
auf deinen Alunüstern
wenn ich mit dir durch Stadtprärien stob,
mit galoppierenden Pedalen
Herden von Terminen jagte.

Komm zurück,
bring mir die beiden Köcher,
die voller Speichen sind,
und meine Beine spannen sich erneut
zu Bogensehnen:
Dann macht Erwartung
deine Reflektorenaugen rot,
dann höre ich
das aufgeregte Kriegsgeschrei
der Klingel, dann kämpfen wir gemeinsam
gegen Blechkomantschen
und bringen reiche Kilometerbeute ein.

Nein, du kommst nicht zurück.
Ewige Jagdgründe
nehmen dich nun auf,
Jagdgründe der Erinnerung.

12. November 2018 12:05










Christian Lorenz Müller

DRUNTER DER HÄCKSLER (HERBSTFARBEN IN HAIKU)

Auf Pflastermörsern
zerstoßen Sohlen das Rot
der Buchenbäume.

Die Kehrmaschine
bürstet das Blattgold gegen
die Mittelstriche

und der Besen des
Hausmeisters aquarelliert
zwischen den Wohnblocks.

Unüberhörbar
im Park: Laubbläserbatik
aus dem Gartenamt.

Ein starker Herbststurm
als Action-Painting. Regen
verwäscht die Farben.

Die Kratz- und Schabe-
technik der Rechen in den
Gärten der Nachbarn.

Das Eichhörnchen und
sein Schwanzpinselschlag über
der Farbpalette.

Abends der Krähen-
pointilismus in der aus-
gekahlten Eiche.

Später verfaulen
die Farben dann zu schwarzem
Suprematismus.

Ein Sprühstoß Ahorn-
rot bläht sich zum Luftballon.
Drunter der Häcksler.

Für Bernhard Lochmann

24. Oktober 2018 09:29










 1 2 3 4 5 ... 10 11