Christine Kappe
Michael hatte einen Laden in MD. Es war mal ein Kopieladen. Aber, als ich hineinging, gab es keine Kopierer, nur alles andere stand noch herum, erinnerte aber mehr an eine Wohnzimmereinrichung. „Hallo, ich wollte eigentlich was kopieren.“ „Siehst du hier einen Kopierer?“ „Nein, aber… hattest du nicht mal welche?“ „Ja, aber ich fand das blöd. Die Bedeutung des Kopierens wird völlig überschätzt. Außerdem machen sie ungesunde Luft. Ich wollte nicht krank werden.“ „Das verstehe ich. Die Luft ist jetzt viel besser.“ Ich schaute mich um. „Aber wozu ist dieser Laden jetzt da?“ „Warum muss ein Laden denn immer zu etwas da sein. Ich mag das nicht. Ich möchte, dass die Leute einfach so kommen. Das ist doch viel schöner.“ Er umarmte mich. Das war ganz angenehm. Aber ich musste weiter, ich brauchte ja noch die Kopien. Außerdem brauchte ich eine Regenjacke.
„Weißt du, wo man gute Regenjacken kaufen kann?“, fragte ich Michael. „Gegenüber hat doch Maik seinen Laden. Der will den zwar aufgeben, weil alle nur noch per Internet bestellen, aber seine Restbestände verkauft er noch. – Warte, ich komm mit.“ Er schloss den Laden ab und wir gingen zusammen. Maik hatte ebenfalls einen dunklen, etwas verwahrlosten Verkaufsraum. Es stellte sich raus, dass er nur gebrauchte Kleidung verkaufte. Aber dafür teure Marken, er zeigte mir ein paar Jacken. Die Farben gefielen mir aber nicht, orange, gelb, rot, irgendwelche Brauntöne, nur ein Mantel, der war sehr lang, enggeschnitten, durchsichtig, die Kapuze in Blumenform, aber die konnte ich ja abmachen, „Ja, ich glaube, den nehme ich. Schaut mal.“ Doch die beiden Männer waren hinterm dunklen Tresen in ein Gespräch vertieft, es war so eine Atmosphäre wie beim Frühschoppen, dabei war es schon Nachmittag.
19. August 2019 22:02
Christine Kappe
Ein Mann bestellt eine Donauwelle, mit junger Stimme
eigentlich ist er alt
Draußen mischen sich die Krähen mit den Tauben
eigentlich sind es Felsentauben
Eine japanische Radfahrerin bestellt für ihre Tochter einen Bienenstich
und kann das Wort nicht aussprechen
Eigentlich müsste sie einen Helm tragen
Eine dicke Alte setzt sich draußen auf die Bank und wippt mit dem Oberkörper
Eigentlich müsste sie zahlen
Eigentlich hat die Verkäuferin schon frei
Jetzt bedient sie noch, in Jacke –
Wie das Wetter plötzlich schlecht wird und der Bagger wegfährt
Wie der neue Verkäufer sich bemüht
„Haben Sie 15 Cent? Wenn Sie nur 5 oder 1o haben – auch gut.“
Dann räumt er den Getränkeautomaten ein
Lauter Coladosen. Wer trinkt die alle?
Die türkischen Männer? Sie gehen vorbei
sehen ernst aus, streichen sich die vorhandenen und nichtvorhandenen Bärte
Zwischen vorhandenen und nichtvorhandenen Krähen
Eine hat tatsächlich den Winter überlebt
Obwohl die TiHo prophezeite
Sie würde nie in einem Baum sitzen oder irgendetwas greifen können
Eigentlich wollten wir sie in einen Karton tun und hinbringen
Aber wir schafften es nicht
(work in progress: „Vögel und Städte“)
27. Juni 2019 07:29
Christine Kappe
Gegen Abend würden die letzten Wolken über dem Meer verschwinden und einen anderen Kontinent sichtbar werden lassen. Was hier angespült wird – die letzten Dinge. Auf jeden Fall eine Krankheit – die Sommersprossen auf den Wellen. Nichtzerplatzende Blasen, zögerndes Geschäum. Mal hierhin fallend – mal dahin, hinüber. Fäden einer geheimen, sich unaufhörlich selbst schreibenden Schrift. Der Müll? Verändert szenenartig seine Lage. Ist Statist. Tanz der Hüllen am Strand. Tanz auch von etwas Unbestimmbarem, was die Möven ausgepickt haben, Schalenleben. Der Übergang zwischen Luft und Wasser bleibt Geschichte des Meeres. »Über austrocknende und nichtaustrocknende Pfützen.« Dazwischen ein rostiger Wasserhahn, aus dem der Wind sich einen dünnen Strahl zieht.
12. Juni 2019 14:00
Christine Kappe
Regenschirm, Taschenlampe, Taschenmesser
Landkarte nicht vergessen
An der Trampe wartet schon
die Dunkelheit auf mich
Gleich das erste Auto hält
Zwei junge Typen, kaum älter als ich
Sie fahren wie die Henker
Und nur bis zum nächsten Dorf
Aber dann habe ich schonmal ein Stück geschafft
Hätten wir bloß nicht meine Cousine überholt
Sie wird mich verpetzen
Aber erst nach der Tagesschau
(work in progress: Kindheitsgedichte)
6. Juni 2019 09:25
Christine Kappe
Er will nach Deutschland, sagt er
„Bayrische Motorenwerke!“
zeigt uns einen Prospekt mit Motorrädern
die sich bei uns kaum jemand leisten kann
„Sogno?“
„Realta!“, beteuert er
Sein Chef beschimpft ihn und treibt ihn zur Arbeit an
Er aber schleicht sich immer wieder zurück an unseren Tisch
Nicht der Wind rüttelt am Fenster, sondern der Verkehr
Vorm Petersdom überfährt eine goldene Lok einen kriechenden Soldaten
Ein Hund bellt irgendwo
In den Geschäften stehen statt Kunden nur Angehöre herum
Ein Mädchen mit Gummistiefeln und kurzem Rock zum Beispiel
läuft an uns vorbei in die dunkle Gasse
Ein Mann mit Pistole
gibt uns zu verstehen, dass hier gleich geschossen wird
Und du
mit hochgekrempelten, weißen Hemdsärmeln
verschwindest koffertragend im labyrinthischen Gangsystem des düsteren Hotels und schaust dich nicht um
25. April 2019 09:11
Christine Kappe
Auf dem Weg zur Arbeit
im Dunkeln
philosophiert
Warum sterben wir
Wenn wir nicht stürben
wäre an uns doch irgendsoeine Art Leine
die uns mit ewigem Leben versorgt
Und die würde beim Radfahren stören
17. Januar 2019 21:15
Christine Kappe
Als ich im strömenden Regen die Kinder abholen fuhr mit dem Bus
Und Renate bog ab zu ihrem Auto barfuß in Hausschuhen kreidebleich
Und übermüdet zitterig vor Nikotinmangel nach dieser langen sinnlosen Sitzung
Kann ich dich mitnehmen Richtung Vahrenwalder? – Nein ich muss Podbi
Oh nein das ist ja Stadt ich fahre RAUS zum Glück
Recht hat sie schön ist was anderes an der Bushaltestelle
Ist nicht viel los ein stinkender ketterauchender Mann und ein Alki der
Den Mülleimer durchsucht wir fahren an trostlosen grauen Hochhäusern
Vorbei zur Podbi wo Wilkos Freund nahebei in einer „Bontzenvilla“ anderes
Extrem aber wahrlich auch kein Luftkurort inzwischen fühle ich mich richtig
Krank von diesen ganzen Umweltgiften und einzig dass ich mir einbilde ich bin
Eine Heldin hält mich aufrecht zugegebenermaßen ein ganz schön dummes Denken
4. Januar 2019 00:32
Christine Kappe
Heute einen gemütlichen Vormittag mit meinem Sohn verlebt. Just als er zur Schule aufbrechen wollte, bekam er so starke Bauchkrämpfe, dass er sich mit Decke und Kotz-Schüssel aufs Sofa legen musste. Fieber hatte er auch.
Nachher stellte sich raus, dass es eine starke allergische Reaktion auf den Stabilisator in der Hafermilch war. Das ist so typisch für unsere Zeit: Nur weil ein paar Leute eine Kuhmilchunverträglichkeit haben, müssen lauter unsinnige Milchersatzprodukte kreiert werden, die einem dann fast das Leben kosten.
13. Dezember 2018 14:10
Christine Kappe
Eis
2 liebe Mädchen
Keine Diskussion welche Sorte
Kein Gequängel
2 gleich kurze Hosen
Eine Künstlerin verteilt Diagnosen
„Aber ich brauch Kernseife
weißt du,
aus Knochen!“
Reishunde
Fliegende Füchse und -Hörnchen
Tiere mit riesigen Ohren
oder dicken Nasen
eine Mischung aus Hase und Regen
An einem anderen Stand gibt es Maschinengewehre
und Getränke in Glühbirnenform
mit blinkender Klemmtaschenlampe an gelocktem Strohhalm
Wandern wir im traumverändernden Canyon
kriege ich keine Luft mehr
schwimme ich nur
ist alles nur Kopfsache, so wie die nassen Haare
18. Oktober 2018 09:02
Christine Kappe
Selbst die effizienteste
wassersparendste Amatur
täuscht nicht
über das über-
dimensionierte, marode Leitungssystem hinweg, dessen Vibrationen unweit zu spüren sind
Vibrationen
ausgelöst durch Legionen von Mikroorganismen, die sich an den Decken der Röhren sammeln
die das Wasser
nun nie mehr erreicht
Dort trommeln sie mit dem längsten Finger ihrer Hand
wie vermutet wird um Beutetiere anzulocken
Aber das ist nur eine Ausrede der Mächtigen
mit ihrem Punktesystem
zur Vergabe von Sozial- und Bioorden
mir
kribbelt es unter den Füßen
während ich hier stehe und rauche, um mich zu beruhigen
aber ich weiß, – denn ich kann ja da hineingucken – sie (und damit meine ich diese
flinken
flügellosen
lichtscheuen
die es unvorstellbar länger auf der Welt gibt als uns
werden eines Tages alles sprengen, und wenn nicht von dort unten, dann aus unserem Innern
10. Oktober 2018 14:35