Christine Kappe

Neue Schuhe für ein Königreich

Ich wollte mir neue schwarze Schuhe an einem Kiosk kaufen – aber sie hatten nur weiße. Der Verkäufer war besoffen und kam gar nicht erst bis zum Tresen. Der Kiosk befand sich wie die ganze Stadt auf einem Baugerüst. In den Straßen floss Wasser. Der Kiosk war nur Fassade – durch das Verkaufsfenster sah ich ins Meer.
Ich hatte irgendeinen Auftrag zu erfüllen.

10. Juli 2017 21:29










Christine Kappe

Die Applausordnung der Narzissen

Schauspieler rutschen auf dem Rücken
durch einen Kreis von Häusern und blasen
Papierkügelchen durch die Schornsteine,
die sich auf dem Dach zu
Blumen entfalten („Breitet sich das Papier
denn schnell genug aus?“, fragt eine junge Frau)
irgendwo in der Pampas, wo riesige Türme stehen
Mühlen mit abgebrochenen Flügeln,
wo Frauen mit Gasflammenkronen regieren
und eine aus lauter Dreiecken gestaltete
Verkehrsinsel
auf der viele jener gelben leichtzerstörbaren Blumen wachsen,
deren Namen ich immer wieder vergesse.
Wenn meine Vermutung stimmt,
haben sie diese Krankheit mit den fehlenden Spiegelzellen,
wollen zieren statt zehren, lieben statt leben
und dass ihnen jemand den Kopf spaltet
jemand ohne Kopf, ein Engel oder eine Muse
oder ein Kuss

(Antwort auf „Rasenschimmer weist ihr den Weg“ von Christian Lorenz Müller)

10. Juni 2017 09:55










Christine Kappe

kein fenster, ein bild
ein buntes kleid
keine geliebte
eine vase, eine muse

ich stolpere über kabeltrommeln
im garten winken deine töchter
treffen entscheidungen statt männer
verkaufen gras
echtes grünes wo gibt es das noch
wo kinder bücher zerfleddern
auf der suche nach ihrer geschichte
bleibt die frage nach dem politischen standort des frühlings

kein scheinwerfer
die märzsonne von
schrägvorn

(Antwort auf Christian Lorenz Müllers BITTE BEACHTEN SIE)

8. Mai 2017 20:50










Christine Kappe

heute Nacht hast du wieder geschrien fast 3 Stunden das macht mich leer genauso wie

dieses sinnlose Geballer da draußen Wir wollten fliehen aber der Wald war voller Leute

oder die Bäume derart dünn dass es nur so aussah

16. April 2017 20:18










Christine Kappe

Hell wird es plötzlich

Hell wird es plötzlich – das ist kein allmählicher Vorgang, wie man denkt, wenn man die Naturgesetze kennt. Vielmehr ist es ein kurzer Moment, in dem man plötzlich alles erkennt, und dann ist es hell.

Vorher ist es noch blau, nur blau, tiefblau, blau ist das Ende der Dunkelheit. Die Müdigkeit endet anderswo. Leider ist sie nicht an die Nacht gekoppelt. Sie ist eine Pflanze mit starken Wurzeln. Eine schmale Straße, an derem Ende ich dich weiß.

Eine weiße Straße. Ich sehe mich über ein Gitter aus weißen Straßen stolpern. Weil alle dein Alter haben, bist du mir nah. Ich selbst bin durchsichtig, mit ein paar Flecken, meine Haut reflektiert das Licht nicht. Reste von Eitelkeit und Person. Raketen.

4. Januar 2017 13:44










Christine Kappe

ZUR BUCHMESSE 2016

Der weißrussische Stand war der kleinste
Und verlassen
Jemand kam vom Nachbarstand und passte auf
Aber erst, als alles geplündert war
Wir kamen zu spät
hätten wir das gewusst, hätten wir die Bücher natürlich geklaut
weil sie so gut waren und uns wirklich etwas bedeuteten
Dieben konnten sie doch gar nicht so viel bedeuten, was sollte der Unsinn

Weil unsere Mikrophone auf derselben Frequenz funkten, wie irgendein anderer Veranstalter
hörten wir mitten in der Lesung, an der spannendsten Stelle, eine Mikrophonprobe
„Hallo Hallo, Test Test!“ als Erics Opa starb, rief er sozusagen aus dem Jenseits
das war irre, zumal er im Laufe der Geschichte immer jünger wurde

Auch am iranischen Stand nebenan gings zur Sache
eine Gruppe demonstrierte gegen die Todesstrafe
wir verstanden kein Wort, auch von unserer eigenen Lesung
sie wurden sanft abgeführt
Alle versuchten noch, die Plakate zu lesen
Wir versuchten noch, ohne Mikro, so eine Art Jahrmarktsgebet… Ich bin, trotz aller Umstände, total ruhig geworden, weil ich merkte
das ist total wichtig jetzt, was wir hier zusammentragen
Wir hatten so das Dreieck: Zweiter WK – Securitate – Träume

K. hatte einen unglaublich sympathischen Akzent
Ich glaube, wenn wir es schaffen, diese räumlichen, zeitlichen und sprachlichen Distanzen Differenzen zu überwinden verbinden
und das ganze non profit, ohne dabei vor die Hunde zu gehen

23. Oktober 2016 08:58










Christine Kappe

Bei den Enten ists so

Bei den Enten ists so:
Sie muss getarnt sein
Im „Unterdrückungskleid“
soll sie in Ruhe die Kinder aufziehen

(Die Männer haben nicht die Strapazen mit den Kindern
und pflegen ihre Schönheit!)

Gut oder schlecht?:
Durch Verstädterung und Wohlstand
überlebt die Ente
ihr gebärfähiges Alter
und wird „hahnenfiedrig“

Nun ist sie kaum vom Männchen
zu unterscheiden
Nur an der Farbe des Schnabels

19. September 2016 05:19










Christine Kappe

Jeder Tag

Jeder Tag wirft uns wie ein Meer an den Strand der Nacht, geht alles so schnell
& dennoch kämpfen wir uns ab
blicke ich des Abends zurück, habe ich nur existiert, bzw. das Existieren war
das Wesentliche, zwischen all dem Gerede, Gerenne und Geröll
springe ich in kaltes Wasser, liege ich in der Sonne
rieche den Regen, überlege, ob ich jemanden anrufe oder lieber nicht
lieber nicht

15. August 2016 08:30










Christine Kappe

die Frauen ohne Köpfe, die Siegerkränze mit den abgehackten Händen, der gotische Durchbruch, dahinter zieht jemand die Landschaft weg, die nur auf Folie gemalt ist, bunte Lichterketten, zum besseren Verständnis.

als ich aufs Klo gehen, sehe ich die Kinder dort Frösche auf die Heizung legen, zum Trocknen, es gibt kaum Stühle, & alle essen mitgebrachte Sachen, nur wir haben nichts mitgebracht, außer unseren Texten, die keiner lesen will, die Kinder spielen ‚Mord im Dunkeln‘, im Hellen, im Ernst.

ich habe Bücher früher anders gelesen, ernsthafter & wie als Sport, ich meine, die Seiten richtig umgeblättert, & möglichst viele am Tag, & immer gegen die Welt, immer gegen die Welt.

12. August 2016 06:37










Christine Kappe

In der U-Bahn

Ein älterer Mann ging auf den Gleisen, er trug gepflegte Kleider, etwas ärmlich, hell, sein Haar war auch hell & nach hinten gekämmt, sein Gang war unerwartet elegant, er schaute abwechselnd zu den Wartenden & in den Tunnel, eigentlich ging er am Strand entlang, auf jeden Fall hatte er absolut andere Interessen als wir alle, vielleicht besaß er aber auch einfach nur eine Schönheit, die in keinerlei Beziehung zu seiner Umgebung stand.

19. Juni 2016 22:10










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