Christine Kappe

harte und weiche Sachen 2

Manchmal wusste ich nicht, ob eine Sache aus festem oder weichem Material bestand. Aber es war nicht so entscheidend, denn die weichen Dinge wurden auch hart mit der Zeit. Es wurden so viele harte Sachen hergestellt, die nicht verrotteten und so viele Menschen starben, nicht weil sie alt waren, sondern weil jemand in einer Fabrik harte Sachen hergestellt hatte. Das Erstaunliche war die Unerbittlichkeit dieser Vorgänge, nicht das Überleben des Menschen, das Überleben des Menschen war ein Thema für die Gelehrten. Die machen das schon, dachten wir und gingen in die Fabriken, um harte Sachen herzustellen, mit denen die Zeit uns forttrug. Wer das nicht wollte, konnte von einer Brücke springen oder mit dem chinesischen Kaiser essen gehen. Das war nicht tödlich, und billig zudem.

12. Mai 2016 10:49










Christine Kappe

harte und weiche Sachen

Solange die weggeworfenen Dinge harte Sachen waren, Werkzeuge, Bauelemente, selbst Munition, regten sie nur unseren Verstand an, der fragte: Wozu war das gut? – waren es aber weiche Sachen, in denen sich der menschliche Körper abzeichnete, Schuhe, Betten, dann wussten wir uns nicht mehr zu helfen, wir mussten uns mit ihnen in Beziehung setzen, und letztlich mit den Menschen, die sich darin befunden hatten, und wir merkten, dass sie fehlten, aus einem anderen Grund als dem natürlichen.

(nach dem Besuch der „Rosenbuschverlassenschaften“ von A. und H.J. Breuste in Hannover Ahlem)

8. Mai 2016 18:32










Christine Kappe

Nordstadt

Die abblätternden Brandwände, die überall sichtbar werden, wo die Stadt aufgebrochen ist; der Himmel scheint durch und es sieht aus, als ob alles ganz einfach wär, wie aus Lego.
Zwei Jugendliche haben Bananen, Eier und Toastbrot gekauft. Jetzt essen sie jeder eine Banane und überlegen, wie sie die Sachen ohne Rucksack mit dem Rad nachhause bekommen. Das Toastbrot ist schnell auf den Gepäckträger geklemmt und deformiert. Den Eiern droht dasselbe, doch im letzten Moment siegt die Vernunft und der Junge, der sich den Rest Bananen in die Jackentasche gestopft hat, nimmt die Eier unter den Arm und eiert einhändig davon.
Vom nahegelegenen Altenwohnheim kommt einer mit Rollator herein und versucht, in der Eingangshalle des Einkaufszentrums etwas Leben abzugreifen. Aber es ist nichts los, die Polizeistation geschlossen. Nur eine alte Frau versucht hier zu sitzen, ohne etwas zu bestellen, und ich gebe Milch und Zucker zurück und dann rechnen sie falsch ab.
Ein Junge, der an der Kasse die ganze Zeit seine Mutter genervt hat, sie solle ihm was kaufen, tritt die eben erstandene Tüte mit Kleintierstreu bis sie zerplatzt.
Als ich gehe, brüllt jemand vom Balkon hinter mir her, doch ich dreh mich nicht um! Er brüllt auch hinter anderen Leuten auf der Straße her. Von der anderen Straßenseite linse ich nochmal hinüber – er hat endlich jemanden gefunden, der ihm ein paar vom Wäscheständer heruntergewehte Kleidungsstücke aufhebt und hochwirft. Eigentlich sieht er ganz sympathisch aus und unterhält sich jetzt mit dem Passanten.

16. April 2016 07:41










Christine Kappe

… Der Film war gut, aber schrecklich, er rüttelte uns alle wieder wach, beunruhigte, faszinierte uns. Er handelte von einem jungen Schwarzen, der hochschwanger war und durchdrehte. Mitten auf der Autobahn hielt er an, stieg aus seinem Auto und lief auf die Fahrbahn. Er verursachte einen schlimmen Auffahrunfall mit mehreren Toten und wollte sich am Ende selbst umbringen. In dem Moment ging die Sonne auf und er schaute in die Sonne, schöpfte wieder Hoffnung und ließ von seinem Tun ab. (Auf dem Plakat sah man den Mann mit einer Weltkugel als Bauch, die Weltkugel reflektierte das Sonnenlicht.) Mensch, das war eine tolle Art mit dem Thema umzugehen, aber niemand verstand es, und wir verstanden nicht, dass es niemand verstand und irgendwie doch, das war halt das Drama, alles war zu nah dran, wir mussten erst ein paar Jahre warten, und eigentlich hatten wir den Film ja gedreht, in unseren Köpfen, in unseren Träumen, und eigentlich wussten wir da auch die Wahrheit und konnten angemessen handeln, aber verdammt, wir lagen im Bett, wir waren im Bauch, wir spürten die Wärme, ein Funken Hoffnung, an Handeln war nicht zu denken, und da war ja noch der ganze Anfang, den ich weggelassen hatte, die Fahrt zum Kino, den Stau, unseren Übermut, das Schwitzen, die Eitelkeit, den teuren Sekt, die unglückliche Liebe, die kaputte Familie und die Angst vorm Altwerden …

29. März 2016 10:44










Christine Kappe

die Nähe nicht ertragen
mich völlig
die Zeit nicht mehr wissen
haben halten?
im schwindenden Licht Türklinken und Pflaumen kaufen
extra für 2 Pflaumen
in so einen großen Supermarkt
das rächt sich nochmal

15. März 2016 07:00










Christine Kappe

aus unserem kleinen Dorf 1

Thorsten hatte einen Holzkopf. Deswegen hörten alle auf ihn. Wenn er redete – und er moderierte ja immer die Wochentage – schlug er sich ein paar Splitter vom Schädel. Damit unterstrich er seine Worte. Das sah beeindruckend aus. Manchmal ließ er absichtlich ein paar Späne hängen, sie lockten sich dann und ließen seinen Kopf größer und schöner erscheinen. Natürlich wurde sein Kopf in Wirklichkeit immer kleiner. Aber das wollten wir nicht wahrhaben. Wir liebten nicht nur seine fetzigen Vorträge, sondern waren energetisch angewiesen auf ihn, ohne dessen Sound wir in der lähmenden Lethargie unseres kleinen Dorfes versunken wären.

2. Februar 2016 12:25










Christine Kappe

Hymne an die elektronische Musik 2

„Das Leben ist eine Eisrennbahn. Liegt Schnee, ist es kalt; liegt kein Schnee, ist es glatt; taut es, war alles nur eine Täuschung“, dachte der Japaner und lief so schnell wie Regentropfen fallen.
„Wenn ich die Augen schließe, sehe ich das Zittern auf der
Wasseroberfläche von unten, dann ist es nicht mehr das Zittern auf der
Wasseroberfläche, es ist das Zittern unter der Wasseroberfläche, auf der
Wasserunterfläche, das Zittern im Wasser, das Zittern, mein Zittern; es ist
die Musik des Anfangs und des Endes, d.h. des Windfangs,
der Umfang dieser Musik beträgt 1 Wasser, das Wasser trägt mich.“

23. Januar 2016 18:30










Christine Kappe

Hymne an die elektronische Musik

Skifahrer bei Nacht, der Takt ist viel zu schnell, um ihn
rhythmisch zu erfassen, es handelt sich um die Panik von Skifahrern, die
im Dunkeln noch nachhause finden und nicht erfrieren wollen; eine tiefe
Frauenstimme versichert ihnen aber, dass sie sich nicht zu beeilen brauchen,
das Haus ist längst eingeschneit, abgebrannt?, egal: solange
sie sich bewegen, kann ihnen nichts passieren, angestrengt lauschen sie
dem Sirren der Seilbahn – natürlich ist ihr Herzschlag inzwischen viel lauter

21. Januar 2016 06:40










Christine Kappe

Pferd auch

Ich spiele mit dir im Hof. Auf dem Balkon bellt ein Hund. Du schaust zu ihm auf. Knurrend steht er am Gitter, groß und schwarz. Doch du sagst nur trocken: „Pferd auch.“
Ich will dich erst korrigieren. „Wo ist da ein Pferd?“ Doch dann, als ich es wage am Hund vorbei durch die Balkontür ins Innere des Hauses zu schauen, sehe ich – der Sonne zum Trotz, die hier draußen alles zum Leuchten bringt – ganz hinten im dunklen Zimmer auf dem Regal, zwischen schemenhaften Zinnfiguren… ein kleines Holzpferd mit spärlichem Schweif.
Aber ich muss mich schon sehr anstrengen.

für meinen Sohn Arno, damals 3 Jahre

17. Januar 2016 23:03










Christine Kappe

Tage unter Null

Tage unter Null. Um zu erwachen, müsste ich den Gefrierpunkt überschreiten, die Eisdecke durchbrechen, vorm Dunkelwerden ein vernünftiges Wort sagen, nachhause kommen. Doch zu

sind die Augen wärmer. Wer zuerst aus dem Haus geht, tauscht die Warnung der Träume gegen eine Handynummer, die beim Einschalten hochkommt.

Man müsste Eisberge kennen, ich meine, ohne Spitze. Und – das hatte ich noch vergessen zu sagen – wir wählen, was zunehmend an Bedeutung verliert.

Die Abschaffung der Possessiv-Artikel haben wir übrigens Theo zu verdanken.

12. Januar 2016 06:23










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