Christine Kappe

Nachtschnittplatz 1

Auch hier spitzen sich die feindlichen Lager zu: Siggi und Jörg reden nur noch per Rechtsanwalt miteinander. Der eine ist Idealist und Tontechniker, der andere Realist und Chef. (Dabei wird das Digitale uns letztlich überflüssig machen.)
Der Zusammenhang von Weltuntergang, Idealismus & Herzfehler! „Gebe dem Sender noch ein paar Monate.“ Mit Siggi allein in der Sendeabwicklung. Die Apparate flackern, der Ton schallt über den Bahnhofsvorplatz, auf dem sich der Verkehr staut – ein Meer, das gerade Flut hat – weil die Lokführer mal wieder streiken.
Siggi erklärt mir etwas, was ich gar nicht verstehe, weder akkustisch noch sonst irgendwie.
Einer der Kameramänner hat eine brennende Zigarette aus dem Fenster geworfen, sie ist unten, in einem der teuersten Restaurants der Stadt, auf einen Stuhl gefallen, der zu brennen anfing. Die Inhaberin des Lokals steht nun mit dem verkohlten Polster im Türrahmen und hält uns von der Arbeit ab. Aber wir berichten, glaube ich, ganz objektiv.

23. Oktober 2014 13:01










Christine Kappe

Zustellversuch 10

für Richard Götting

04:35, Beyertour. 3 Meter vorm Ort, an dem morgen die Feierlichkeiten zum „Tag der deutschen Einheit“ stattfinden, muss ich eine Vollbremsung machen. Nicht etwa, weil ich die Absperrung im Dunkeln nicht gesehen habe, sondern das Entenweibchen, welches mir graubraun vors Rad lief. Soetwas ist mir hier noch nie passiert, normalerweise bleiben die Enten im Wasser, aber klar, jetzt fällts mir wieder ein, jetzt, wo meine Augen den Maschsee vergeblich suchen: stattdessen bloß eine weiße Folie sehen, wie eine Wand – ein Künstler hat ja zu diesem Anlass den Maschsee verhüllt, 78 Hektar! Ob das nicht ein bisschen übertrieben war? Und offenbar hat niemand an die Enten gedacht.

Der Wächter, den ich aufgeschreckt hatte, zündet sich mit knirschendem Feuerzeug eine Zigarette an. Ich fahre weiter, um die ungeraden Adressaten noch mit Zeitungen zu beliefern. In den Vorgärten rascheln hie und da die vertriebenen Enten. Vertrieben wie wir Menschen sowieso hier auf Erden, da kamen wir neulich mit Ric drauf: Der Mensch, der als einziges Lebewesen sich selbst auszurotten in der Lage ist, muss doch von einem anderen Planeten stammen. In Geibel 75 kauert ein verletztes Amselweibchen auf der Treppe. Es schaut mich mit Kulleraugen an und ich hätte es am liebsten mitgenommen. Ein paar Häuser weiter begegne ich einer ausgehungerten, streunenden Katze. Arme Amsel, denke ich. Doch es ist eigentlich nicht schrecklich.

2. Oktober 2014 10:15










Christine Kappe

Zustellversuch 9

Haus Tanneneck. Mein Kuli ist leer, deswegen muss ich mit dem Einschreiben bis an die Haustür, hätte sonst n Kreuz gemacht, dass ich niemanden angetroffen habe und das ganze in den amerikanischen Postkasten neben dem Tor geworfen. Ausgerechnet hier, wo ich durch einen großen Vorgarten muss, mit dem Wissen um die Existenz eines bissigen Hundes! Die Adressatin nimmt das Einschreiben und macht gleich wieder die Tür zu. Ich kann gerade noch hinterherrufen, ob sie einen Kuli hat, während der Hund in den Tiefen des Hauses wild bellt. Die Frau lässt auf sich warten, hat sie’s überhaupt gehört? Oh je: die Postzustellurkunde hat sie mitgenommen… Im Türschlitz die Zeitung noch von heut früh. Im gleißenden Sonnenlicht lese ich: Die ukrainische Führung erlaubte unterdessen der Polizei im Konfliktgebiet, auch ohne Waffen zu schießen. «Dies erhöht die Sicherheit der Milz.» Ich überlege, wo die Milz sitzt, aber ich komm nicht drauf. Viel zu wenig weiß man… Da öffnet sie die Tür wieder, einen kleinen Spalt und sagt zur Entschuldigung: „Ich will nur nicht, dass der Hund wegläuft. MUSS ich unterschreiben? – Ich habe ALLES bezahlt!“

12. September 2014 12:46










Christine Kappe

Den ganzen Tag schimmerte ein Film durch:
für einen Traum zu lang
– für ein voriges Leben zu kurz

21. August 2014 09:26










Christine Kappe

Zustellversuch 8

Clemens 5. 4 Uhr 10. Ich lehne mein Rad an die Hauswand, ein Fenster im Erdgeschoss wird aufgerissen, hoffentlich habe ich niemanden geweckt. Schnell die Haustür aufgeschlossen und mit den Zeitungen hinein. Als ich wieder rauskomme, steht das Fenster noch offen; bestimmt lüftet bloß jemand. Doch als ich weiterschieben will, stellt sich ein Mann mit nacktem Oberkörper ans Fenster und zündet sich eine Zigarette an. Wir blicken uns kurz in die Augen, keinen Meter voneinander entfernt, keiner hat den anderen erwartet, ein ‚guten Morgen‘ scheint sinnlos, es ist noch nicht Morgen, jeder schämt sich ein bisschen, er räuspert sich, ich bringe die Zeitungen durcheinander im nächsten Haus… Mensch, es ist Sommer, und die schönen alten Häuser und das Kopfsteinpflaster, es könnte idyllisch sein, aber es ist nur das Ende einer unruhigen Nacht, die Stadt wartet schon, die Zeit- und Menschenfressende Maschine.

30. Juli 2014 10:21










Christine Kappe

geradezu beruhigend

Wir lagen alle erschossen umher. Dann kam der Geheimdienst und wollte aufräumen. „Wer hat hier wen erschossen?“, fragten sie in drohendem Ton. Ich gab vor, das erkenne man doch an der Farbe unserer Jacken. Die ganze Zeit musste ich meinen linken Arm an der Schulter festhalten, weil er sonst heruntergefallen wär. Ich verspürte schrecklichen Durst. Mann war ich erschöpft. Hätte ich vorher gewusst, dass Totsein so anstrengend ist! Unter den Umständen war es geradezu beruhigend, dass sie uns mit Sicherheit festnehmen würden.

10. Juli 2014 12:04










Christine Kappe

Casablanca

den ganzen Tag über brennen die Straßenlampen. beleuchten natürlich nichts, weil die Sonne viel heller ist. verdunkeln eher. Z.B. die zahlreichen Baustellen, die eigentlich Nähmaschinen sind. hier wird der Stoff genäht, hinterm dem sich Tod & Sex verstecken / der immer wieder zerreißt. durch die Risse sehen wir in ein Loch, durch das es mörderisch zieht. sofort kommen uns die Tränen, doch nicht aus Trauer, sondern vom Luftzug

es ist immer neblig hier, immer Smog, deine Haut ist immer salzig, weil du immer schwitzt. das Wort „immer“ hat in dieser Sprache eine andere Bedeutung: „dima“= der Vorname eines Prinzen mit stolzem Blick. die Schaufensterpuppen gucken eher genervt, tragen Jellebbas: eine hat Haare vor den Augen, eine andere auf den Zähnen

14. Juni 2014 18:06










Christine Kappe

* (für Andreas Louis Seyerlein und die Nachtmenschen)

04.17 – Maik, in dicker, roter Steppjacke, mit Kapuze und Badekappe darunter. Hört mich erst gar nicht, als ich grüßend an ihm vorbeiradele. Dreht sich dann um wie ein Uhu und grüßt zurück, wobei ich am farblosen „Guten Morgen“ höre, dass er mich im Dämmerlicht gar nicht erkannt hat. – Neuerdings bleiben mir immer diese Sätze im Ohr, die nicht so gemeint sind. (Maik würde nie jemanden grüßen, den er nicht kennt!) Beim Weiterfahren denke ich noch über ihn nach. Er will sich vor den Witterungseinflüssen schützen. Und er will nicht gesehen werden. Aber warum hat er dann eine rote Jacke gewählt?

24. Mai 2014 07:34










Christine Kappe

Zustellversuch 7

Dass es morgens früher hell wird und trotzdem kalt ist,
irritiert mich. Ebenso, dass einer für eine Tour aufsteht,
die noch nichtmal 100 Zeitungen umfasst. Muss die 1543
vertreten – Ekhof, Biel – weil der Zusteller gestern im
Treppenhaus gestürzt ist. Diese Straßen sind Geheimstraßen,
kopfsteingepflasterte, gemischtgebäudrige, gemischtsoziale,
kleine, dunkle Stichstraßen. Ich treffe niemanden. Falsch:
ich treffe die alte Frau, die morgens immer so langsam zum
Bäcker geht. Aber sie ist gar nicht so alt, aus der Nähe betrachtet.
Nur blass, sehr blass… Ich sage nichts, grüße, sie grüßt zurück,
bleibt stehen, an jedem Auto bleibt sie stehen und hält sich fest.
„Machen Sie die Tour hier jetzt?“
„Nur Vertretung. Der Mann ist gestürzt.“
„Ich auch.“
?
„Deswegen muss ich so langsam gehen. ’s tut alles weh.“
„Wollen Sie… zum Bäcker?“
„Ja…“
„Es ist doch erst halb 5…“

„Mensch. Machen Sie’s gut. Passen Sie auf sich auf!“
Aber das klingt mir noch lange nach: dieses Ja, was kein Ja war.

15. Mai 2014 09:01










Christine Kappe

alles ist möglich:
wir essen die Joghurt (zumindest in Hannover)
unser Zug hält gleichzeitig Frankfurt Hauptbahnhof und Frankfurt Süd
die S6 wartet auf uns, weil Sylvia noch eine Zigarette rauchen will
Markus wird gelesen
Andreas ist Goethe
Christine isst ihre Gedichte
herrlich! schreibt der andere Andreas aus einer anderen Realität in München

13. Mai 2014 08:37










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