Christine Kappe
Der Hahn spricht Russisch
Der Hund Deutsch
Idole, ja, die gibt es nun nicht mehr
so geht man halt in die Kirche
Nur die Frauen mit Kopftuch und ungeschminkt
Nur eine Kirche zum Taufen
wird natürlich zuerst gebaut
mit aufgesprühtem Schnee
Für die zweite, auf dem Dach der ersten stehenden* Kirche
braucht man 5 Millionen Backsteine
(Geräusch des automatischen Filmzurückspulens)
Die Steine dürfen keine Löcher haben – deswegen verzichten sie auf die Hilfe vom Staat
Vom Dach der Kathedrale wird man das Dach der Kathedrale sehen
Die Glocke hat Stalin vergraben
Ist die russische Mutter Gottes eine andere?
Die Alte segnet uns, schenkt uns Äpfel, Brot, hätte bald noch ihren Samowar aus der Tasche geholt
Sie hat mit den Partisanen gekämpft, einen Tag lang unter Toten gelegen, bis ein deutsches Mutter-Gottes-Bild sie errettete
Statt Hass schlägt uns Liebe entgegen
Aber wir wissen auch nicht, ob wir das so gut finden
Hier muss noch das Datum notiert werden: Oktober 1994
* Änderung vom 9.5.2014
8. Mai 2014 11:32
Christine Kappe
Konflikte klingen wie Cornflakes
jemand muss ja schuld sein
am besten gefiel mir noch: you all can live here, where is the
problem
Wir sind ja in Russland jetzt
und alles, was out of question war am interessantesten
life is going to tending
different
elites need
fight или find (if not can fight) it out
Beer versucht mal wieder den Feudalismus zu bekämpfen
R war immer nur EIN Land
fight against themselves?
Der Konsul hatte viel zu tun
– eigentlich war er Presseattaché
sehe ihn noch vor mir, wie er im Morgenmantel mit einer Flasche Schampanskoje
durch den Flur unserer Russisch-Schule lief und zu spät zum Unterricht kam
–
musste das erstmal sortieren
dass Kohl mehr Wodka vertrug als Boris
was ja nicht zu erwarten war
Warum es kaum Milch gibt?
Weil die Lastwagen vor Moskau von der Mafia abgefangen werden und 2 000 $$ bezahlen sollen
Aber du kannst hier deutsche H-Milch kaufen
is schon verrückt
13. März 2014 09:55
Christine Kappe
Diesselbe alte Frau, die noch eben von Straflagern und Massenexekutionen erzählte, sitzt jetzt hier neben uns im Rockkonzert mit ihrer Tochter
Eintritt frei
Die weißrussisch singende Band
jetzt tritt Lukatschenko auf und hält eine ziemlich strange Rede
darüber, dass es im Kommunismus überhaupt keine Kultur gegeben hätte, sondern erst jetzt
plötzlich
die tanzenden Mädchen werden immer mehr, die Lichter immer bunter, ein riesiger Chor tritt auf, bald können die kaum noch treten vor lauter Blumen auf der Bühne, und ich verstehe nicht mehr, worum es geht, ganz abgesehen von der Lautstärke
doch Maria hat da keine Probleme
das alles auf etablierten Stühlen
trabbiblauen, meine ich
DER Farbe des Ostens schlechthin
22. Februar 2014 18:47
Christine Kappe
Saal 18
Ich dachte, es gäbe keine heidnischen Götter
Überall Weiß
Niemand weiß, warum der Ritter ein Kreuz trägt, obwohl er an nichts glaubt
Jesus fällt in weißrussischer Tracht aus dem Himmel
Löcher im Bild und eine
Symmetrie
Das „ausverteilte “ Land
Und das hier mitten drin
einige Tschernobylfehlgeburten
Der Strom ist derselbe
Es geht voran
oder ist Gas wichtiger als die Nationalfrage
die kranken Kinder wurden als Friedensboten gesehen
Früher standen die Sitze andersherum
das ist alles
Wir haben nicht alles, was wir zeigen möchten
erklärt die Wärterin
Bei uns ist es umgekehrt, wirft H.-H. so dahin
Die Schwierigkeit, Waffen und Schmuckstücke auseinanderzuhalten
wo war ich?
ach ja, Saal 19
15. Februar 2014 10:00
Christine Kappe
Muss aufpassen
dass ich nicht auf der Rennbahn der gnadenlosen Läuferinnen spazierengehe
womöglich ihnen entgegen
wie hier am Ufer zur Mittagszeit
Denk dir nur
Während du lässig träumend über einen Kreidestrich gehst
kinderleicht
ist es für manche das langersehnte und einzige Ziel
(muss auf den Rasen springen, als sie vorbeisprinten)
(und eigentlich geht es ihnen gar nicht um Sport, hier, wo das Leben so anstrengend ist)
Es fiel das Wort Heldin
ins Wasser
Irgendjemand zimmert einen Pavillon
Die unerschütterliche Freundlichkeit der Weißrussen: wenn sie den Weg nicht wissen, sagen sie ihn trotzdem
14. Februar 2014 11:58
Christine Kappe
Rimpau 21. Irgendwo muss der Hund sein… Der Hermesbote hat die Lieferung nicht grundlos auf die nasse Erde neben dem Gartentor gestellt. Ich sehe nichts, höre nichts, gehe durch die offenstehende Pforte zur Haustür. Stille. Ich werfe die Post ein. In diesem Moment bellt er los und wirft sich von innen gegen die Tür, zerfetzt die Post, tobt, ich höre ihn noch, als ich schon 5 Häuser weiter bin.
Einmal war er im Garten. Ich hörte ihn durch die blickdichte Hecke. Sein Bellen klang wie ein Husten, bei dem sich viel Schleim löst. Seine Herrin rief mir zu: „Ich habe ihn an der Leine!“ Aber das war mir egal, ich wollte leben. Ich warf die Post auf die Erde und fuhr so schnell wie möglich weiter. Ich hörte, wie die Frau ihren Hund anschrie, dann schrie sie hinter mir her.
Doch der Hund kann nicht anders: das freistehende Haus ist ein Paradies: die Garage mit dem silbergrauen Jaguar steht offen, Fahrräder lehnen unangeschlossen am Zaun, Spielzeug liegt über den Rasen verteilt und an der Haustür hängt von außen ein dicker Schlüsselbund.
28. Januar 2014 14:24
Christine Kappe
Geschichte ist teuer
und wird zu einer Zeit ausgegraben
da die Zukunft verschüttet liegt
Wieder einmal haben sie die Weihnachtsbeleuchtung nicht abgenommen
Es ist ein hoher Ton im Verkehr hier
etwa eine Mücke
krepostj
die Beschreibung des ersten Gebäudes der Stadt
durch dicke Brillengläser
Die Anstrengung, uns das vorzustellen
während die Holzstraßen uns ins Gesicht geschrieben stehen
und die vielen unbekannnten Vokabeln für Holzgeräte
26. Januar 2014 17:49
Christine Kappe
Aus dem Fenster
nichts
oder besser gesagt, Nebel
aus dem langsam die Häuser hervorbleichen
(sind dennoch von Nahem sicherlich alles andere als hell)
Moloch
ist schon so
An der Wand: Bild einer Waldlichtung
sicherlich Puschkins
Da ich mich jetzt doch fürs Fliegen entschieden habe
muss ich eine „Schtraf“ von 11 $$ zahlen
Versuche vergeblich, dort jemanden zu erreichen
Es ist
Ich höre die Stimme der Frau sehr gut
aber sie mich überhaupt nicht
so als wäre ich gar nicht da
Muss wohl an diesen Telefonen liegen
Oder an der Uhrzeit
Oder dem Nebel
… jetzt lass erstmal den Zug vorbei
Warum ich den hier oben im 28. Stock bei geschlossenem Fenster so laut höre weiß ich auch nicht
Einfach in die bleichen Häuserblöcke starren
Freedom
steht auf ihren Namensschildern
20. Januar 2014 08:30
Christine Kappe
Wir stiegen auf den Müllberg
weil er der höchste war
und man auf ihm von Kindheit sprechen konnte
*
Die Luft roch nur hier wirklich nach Winter
nach Sylvestern
nach permanenten, heimlich gefeierten Sylvestern
dabei wurde lediglich in den Kaminen gefeiert
Sektkorken knallten dort, Bowle zischelte
Gelächter und übermütige Stimmen
der Rauch über den Dächern
der in der klaren Luft
zu etwas Zynischem erstarrte, schwarz
–
Die Fenster waren alle dunkel
nur nicht die, hinter denen gerade renoviert wurde
hie und da die obere Hälfte einer Trittleiter… oder eines Weihnachtsbaumes? – einerlei
von der Decke hingen in der Regel 60 Watt
zur Ausleuchtung der Augenhöhlen
15. Januar 2014 12:50
Christine Kappe
Die Häuser trotzen dem Schnellweg mit kleinen Balkonen, auf denen sich alles, was schmückt, häuft, ohne zu schmücken. Das rührt mich. Der Wille, zu leben, kann sich nicht deutlicher ausdrücken.
Wir gehen weiter. Ich weiß nicht, ob es einen anderen Stadtteil mit so vielen Fahrrädern gibt. Sie sind natürlich schrott und stehen zwischen ausrangierten Kleintierkäfigen und Fenstern, durch die man in die Keller der Fabriken sehen kann. Nur dort ist es hell, warm und neu, aber auch die letzten machen jetzt Feierabend.
9. Januar 2014 10:15